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Zerschnittener Wesenskern

(Musik: Gentle with myself, Karen Drucker)

Er hört Schritte vor der Tür. Gleich wird sie wieder hereinkommen. Zuerst der Schlüssel, der in das Schloss gesteckt wird. Dann das Geräusch, wenn der Schlüssel umgedreht wird und die anderen Schlüssel berührt. Die Türe, die langsam aufgeht. Ein Windhauch, der frischen Wind von draußen in das Zimmer trägt. Der Wind, der zwei Stimmungen vermischen wird. Die Stimmung von zu Hause und die Stimmung von draußen. Sie wird die Tür schließen. Ein Klacken, wenn sich die Tür nach außen hin versperrt.

Die Energie beginnt, durch das Haus zu strömen. Die Ungewissheit, welche Energie im Raum entstehen wird. Welche Emotionen sind gerade bei ihr präsent? Welche Gedanken kreisen ihr durch den Kopf? Was wird sie gleich sagen? Doch noch ist es nicht so weit. Sie beginnt, sich die Schuhe auszuziehen und sie zu den anderen zu stellen.

Hat er gerade ein Atemgeräusch gehört? Die Jacke wird geöffnet, ein Arm nach dem anderen schält sich heraus. Die Schlaufe an der Innenseite der Jacke wird für den nächsten Haken genutzt. Die Schlaufe und der Haken umarmen sich. Die Jacke strafft sich wieder und genießt bereits die kommende Entspannung. Auch die Schuhe haben es sich gemütlich gemacht. Sie spüren die Luft von zu Hause, die durch sie hindurchströmt. Sie fühlen sich wohl und heimelig neben den anderen Schuhen, Schlapfen und Stiefeln. Die Socken an ihren Füßen berühren wieder den Steinboden, der zur Toilette führt. Die Tür schließt sich und später wird die Spülung das gesammelte Wasser freilassen, damit es seinen vorgeplanten Weg weiterfließen kann. Der Wasserhahn lässt gutmütig und wie immer ein wenig stolz das frische Wasser durch sich hindurchlaufen, um die Hände zu spülen.

Nasse Hände haben eine ganz eigene Qualität. Die Wassertropfen hängen an den Händen und Fingern. Es lässt sich mittragen und nimmt mit Unterstützung der Seife den angesammelten Schmutz mit sich. Wenn das trockene Handtuch das restliche Wasser begrüßt, lässt es die Hände wieder los. Danach ist das Handtuch nasser als die Hände, das das Wasser in sich aufsaugt, als ob es das kühle Nass trinken würde.

Sie kommt in das Zimmer hinein und er spürt die Wellen neuer Energie. Doch diesmal vermischt sie sich nicht mit seiner Energie. Sie fließt durch ihn hindurch. Sie geht in die Küche und hebt einen Apfel aus der Obstschale heraus. In der freudigen Erwartung, gegessen zu werden, lässt er sich von ihren Händen durch die Luft tragen. Er blickt sie an, doch sie reagiert nicht. In Gedanken und Gefühlen verstrickt nimmt sie ein Holzbrett, um den Apfel zu zerteilen. Das Messer schneidet gekonnt durch die Schale, das Fruchtfleisch und die Kerne.

Ein Teil des zerschnittenen Kerns fällt auf den Teller. Er spürt den Schmerz des Schnitts, durch den er zerteilt wurde. Das, was zusammengehörte, liegt nun abgeschnitten neben ihm. So sicher hat er sich gefühlt. Eingehüllt mit den anderen Kernen, mitten im Apfel. Dunkel, wohlig warm und geschützt durch das Fruchtfleisch. Glänzend und pompös eingehüllt in einer straff gespannten Schale. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, kam das scharfe Messer, das rücksichtslos gegenüber der natürlichen Entwicklung des Apfels alles auseinanderriss. Der Kern hört die Schreie der anderen Apfelsamen, die ebenfalls zerteilt um ihn herumliegen. Ein schriller, hoher Ton, als ob eine Bombe eingeschlagen wäre, überdeckt das Wehklagen. Der Apfel sieht an sich hinab und erblickt erschaudernd sein Inneres, für immer zertrennt von seinem Ganzen.

Er hört, wie sie in den saftigen Apfel beißt und leise kaut, während sie sich ihm gegenüber auf den Küchentisch setzt. Eine Zeitung in der Hand öffnend, blättert sie durch die nichtssagenden Artikel. Bilder und Texte ohne Kontext oder Sinn. Ein Blatt nach dem anderen rauscht von einer Seite zur anderen. Wie ein Tanz mit Beugungen und Streckungen des Papierkörpers, der sich von einer Seite zur nächsten bewegt. Aber ihn sieht sie nicht.

Er blickt ihr direkt in die Augen. Sie hat ein schönes Gesicht. Fein gezeichnet, von den Haaren sanft umhüllt. Blickt sie ihn an oder durch ihn hindurch? Er spürt ihre Energie durch seine durchfließen, an der Wand abprallen und sich weiter durch den Raum bewegen. Er schaut auf ihr Gesicht, bemerkt aber, durch sie hindurchsehen zu können. Durch sie hindurch, hinaus in den Garten, der ihn freundlich begrüßt.

Sie sieht so echt aus. Wie früher. Der Blick, die Bewegungen, alles wirkt so echt. Sie legt die Zeitung wieder weg, atmet tief durch und beginnt, den Teller, auf dem die Apfelstücke gelegen haben, wegzuräumen. Der zerschnittene Apfelkern liegt in seinen letzten Zügen, bereit sich zu verabschieden. Wie früher steht sie auf und legt den Teller in den Geschirrspüler. Ein schöner Hauch von Erinnerung. Und mit jedem Schritt wird sie transparenter.

Er spürt den Drang, sie aufzuhalten. Er will nicht, dass sie wieder verschwindet. Noch ein wenig länger. Nur noch ein paar Minuten länger möchte er, dass sie bei ihm bleibt. Wie früher. Er möchte ihr nur kurz zusehen, wie sie einen Apfel zubereitet. Oder wie sie ein paar Seiten umblättert. Nur ein paar. Er will sie nicht loslassen. Er will sie nicht gehen lassen. Ein paar Seiten, die sich biegen lassen und sinnlosen Text zeigen. Nur noch ein bisschen länger, auch wenn es quälende Gefühle erzeugt. Ein Hauch von Illusion. Ein letztes Mal ihre Hand berühren. Nur noch ein Mal. Während die Gedanken und Gefühle durch seinen Körper und seinen Geist rauschen, verschwimmt sie mit ihrer Energie im Raum.

Sie löst sich auf, als wäre sie nie da gewesen. Wie lange ist es schon her, dass sie gestorben ist? Er blickt hinab auf seinen Wesenskern, der durchgeschnitten ist. Das Innerste sehend, die stechenden Schmerzen des Verlustes spürend, nicht ganz auf der Welt mehr zu sein. Warum hast du mich bloß verlassen? Und draußen hört er Schritte vor der Tür. Aber es sind nicht ihre Schritte. Irgendjemand geht an seiner Tür vorbei, ohne sie zu öffnen. Traurig blickt die Tür der Person nach. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie von ihr geöffnet worden wäre. Wie schön wäre es gewesen, sie wieder hereinzulassen. Die Tür seufzt leise und bleibt geschlossen. Heute wird sie nicht mehr geöffnet werden. Und der zerschnittene Wesenskern bleibt zu Hause.

 

Perspektive

Diese Geschichte erzählt von einer Präsenz, die nicht mehr berührt, von einem Raum, in dem alles weitergeht, nur ohne sie. Der Erzähler erschafft eine Séance des Alltäglichen, beschwört die Verstorbene durch die minutiöse Nachzeichnung ihrer vertrauten Handlungen. Schritte vor der Tür, der Schlüssel im Schloss, die Jacke, die sich am Haken entspannt. Je genauer die Wahrnehmung, desto spürbarer das Fehlen. Was zunächst wie eine Heimkehr erscheint, entpuppt sich als rituelle Beschwörung, als Versuch, durch exakte Beschreibung gegen das Verschwinden anzuschreiben. Doch die Energie fließt nicht mehr in Beziehung, sondern durch ihn hindurch. Sie kommt heim, zieht die Jacke aus, beißt in einen Apfel, alles geschieht wie früher. Aber nichts ist wie früher.

Der zerschnittene Apfelkern wird zur zentralen Metapher dieser Verwundung. Eingehüllt mit den anderen Kernen, mitten im Apfel, dunkel, wohlig warm und geschützt. Das Messer, das rücksichtslos gegenüber der natürlichen Entwicklung alles auseinanderreißt, meint den Tod selbst, jene Gewalt, die ohne Vorwarnung einbricht. Es ist diese Brutalität des Normalen, die der Text spürbar macht: Wie alltägliche Handlungen zu Trägern existenzieller Erfahrung werden. Der Apfel, das Handtuch, die Zeitung – sie alle sind Zeugen einer Gegenwart, die sich weigert, loszulassen. Mit jedem Schritt wird sie transparenter, ihre Geste zur Erinnerung, ihr Blick zur Projektion. Die Erzählung zeigt das Dilemma des Trauernden: Loslassen bedeutet, die Geliebte ein zweites Mal zu verlieren. Festhalten bedeutet, in einer schmerzhaften Täuschung zu verharren.

Am Ende bleibt das, was der Titel schon sagt: ein zerschnittener Wesenskern. Der Text handelt von der existenziellen Einsamkeit des Zurückgebliebenen, gefangen in einem Zwischenzustand zwischen Leben und Tod, während draußen das Leben weitergeht. Keine vollständige Zerstörung, sondern ein klaffender Riss im Innersten, durch den das Leben hineinweht – und gleichzeitig hindurchzieht. Die Tür bleibt geschlossen. Nicht, weil niemand da ist. Sondern weil niemand mehr kommen wird. Und doch lauscht der Erzähler weiter. Vielleicht auf Schritte, vielleicht auf Hoffnung. Vielleicht einfach auf das, was nicht mehr zurückkommt.

 
 
 

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