Vom Aufblühen der Vergänglichkeit
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 10 Min. Lesezeit
Sein Garten erstrahlte in voller Blütenpracht. Auf der einen Seite ließ er Rosen wachsen. Über die Jahre wuchsen sie Schritt für Schritt. Als sie noch ganz klein waren, war kaum vorstellbar, dass sie einmal in die Höhe ragen würden. Am Anfang hatten sie auch noch keine Blüten. Eigentlich war am Anfang noch gar nichts da. Irgendwann kamen die ersten Blätter, und auch die Dornen waren relativ schnell zu sehen. Die Blüten kamen erst viel später. Mit jedem Jahr wurden sie größer und prächtiger, bis sie schließlich ihren Duft dem Garten schenkten.
Auf der anderen Seite hatte er eine ganz andere Art von Blumen. Er malte sich damals schon aus, wie der Garten wohl aussehen könnte: Auf der einen Seite diese prächtigen weißen und roten Rosen, auf der anderen Seite wilde, bunte Blumen. In seiner Vorstellung ergänzten die beiden Blumenarten den Garten wunderbar. Dazwischen befand sich ein fein geschnittener Rasen, auf dem jeder Grashalm dem anderen glich. Es war eine Armee voller kleiner Lebewesen, die tagein und tagaus nichts anderes versuchten, als in die Höhe zu wachsen. Bis sie wieder von einer mit Messern besetzten Maschine abgeschnitten wurden. Und der Drang nach oben begann wieder von vorne.
Jeden Morgen goss er seinen Garten. Neben Blumen und Rasen hatte er auch eine prächtige Hecke, die im Laufe der Jahre immer mehr Form annahm – wie ein starker, eng verwurzelter Baum, der viele Bäume in sich trug. Es war alles fein angelegt, schön, genauso wie er es sich vorgestellt hatte.
An diesem Morgen goss er wieder all seine kleinen Lebewesen und begrüßte sie mit demselben Lächeln wie jeden Tag. Doch diesmal entdeckte er sie zum ersten Mal. Die Rosenblüten, auf die er so viele Jahre gewartet hatte. Er hatte die Pflanzen immer wieder zurechtgeschnitten, damit sie genau so wuchsen, wie er es sich vorgestellt hatte. Wie oft hatte er sich an den Dornen verletzt. Manchmal nur leicht, wenn sie durch die Gartenhandschuhe hindurchstachen, manchmal auch fester, wenn ein Ast abbrach und auf seine Arme oder Finger fiel. Dann schrie er kurz auf, fluchte innerlich, leckte seine Wunde und wartete, bis sein Körper die organische Stelle wieder geschlossen hatte.
Und nun waren sie da, genauso, wie er sie sich vorgestellt hatte. Prächtig und groß, mit Blütenblättern, die sich gegenseitig überragen wollten. Sie erinnerten ihn an die Wellen am Meer, eine nach der anderen, mit dem wunderbaren Rauschen, das zu hören war, wenn eine Welle an den Strand rollte und sich dort niederlegte. Auf den Wellen wuchsen weitere Wellen, vor allem, wenn eine leichte Brise aufkam und die Meeresoberfläche etwas rauer wurde. Es gab so viel zu beobachten, wenn man auf die feinen Unterschiede achtete: auf die Wellen in den Wellen, auf das Glitzern der untergehenden Sonne. Wenn man sich der Natur und ihrer Ästhetik einfach hingeben konnte.
Wie schön es für viele Menschen war, in dieser Ästhetik und Naturverbundenheit zu leben und tiefe Ruhe und Entspannung zu finden. Doch bei ihm war es anders. Er konnte die Rosen, die Blüten seiner Arbeit, nicht anblicken. Er hegte und pflegte sie und freute sich in seinem Inneren auf sie. Aber wenn sie dann aufblühten, spürte er widersprüchliche Gefühle.
Heute ging er zu einem dieser prächtigen Rosenköpfe, der strahlte und auf seine Ästhetik stolz war. Er streckte sich, jede Faser seines Organismus wollte sich zeigen. Die Rose wusste, wie schön sie war, wie herrlich sie über alle anderen Pflanzen ragte und wie fein und edel sie roch. Sie wusste, dass es ganze Industrien gab, die sich nur der Anlage riesiger Rosenbeete widmeten. Diese wurden in kleinster Feinarbeit und gleichzeitig in anstrengender Schwerstarbeit gepflegt. Die vollendete Form des Schönen wurde dann bei Besuchen der königlichsten Familien stolz präsentiert. Die Rosen wurden nach ihrer Blütezeit geerntet, als wären sie die süßesten Früchte der Erde. Sie wurden eingelegt und verdampft, um das Rosenaroma zu gewinnen. So wurden die teuersten Parfums kreiert und feines Rosenwasser zum Trinken destilliert. All diese Schönheit und Perfektion war der Rose bewusst.
Der Gärtner ging zu der Rose, roch daran und nahm ihren feinen, süßen Duft wahr. Kurz darauf wandte er sich wieder ab. Es war wieder diese gefühlte Doppeldeutigkeit. Diese Pracht, diese Schönheit, diese Süße konnten die meisten Menschen erfreuen. Doch wenn er sie sah, wurde er traurig und melancholisch. Vielleicht, weil er immer auch das Ende in der Blüte sah. Wenn etwas so schön war, dann würde es auch irgendwann vergehen. Er konnte sich nicht daran erfreuen, dass diese Schönheit gerade präsent war, sondern empfand gleichzeitig immer auch Wehmut angesichts der Vergänglichkeit. Je schöner und prächtiger etwas war, desto größer war seine Wehmut. Und so stieß ihn genau diese Schönheit ab – je schöner sie wurde, desto mehr Widerstand empfand er ihr gegenüber. Er spürte bereits jetzt den Schmerz, dass die ersten Rosenblätter fallen und der Duft nachlassen würden. Er sah es bereits vor seinem inneren Auge. Gerade jetzt, wo sich die volle Blüte und die Schönheit der Natur zeigten, spürte er den Stich in seinem Herzen, dass all das innerhalb weniger Wochen nicht mehr zu sehen sein würde.
Es erging ihm wie beim Wandern. Er wunderte sich immer wieder, wie glücklich die Menschen am Gipfel waren. Wie glücklich sie dort oben standen, wenn sie nach vielen Stunden des Wanderns und Hochsteigens endlich ihr Ziel erreicht hatten. Auf dem Gipfel befand sich ein Kreuz. Starke Männer hatten das Kreuz mit großen Holzplanken und Stahlseilen mutig hinaufgezogen und auf der obersten Spitze befestigt. So wurde für jeden Wanderer noch deutlicher, dass er den obersten Teil des Berges erreicht hatte. Sogar Stempel gab es dort, damit die Wanderer sich selbst zeigen konnten, dass sie ganz oben gewesen waren. Es wurden Fotos gemacht, Hände gestempelt – alle in die Höhe ragend, sich und den Höhepunkt ihres Lebens zeigend. Manchmal war dort oben sogar ein Tagebuch zu finden, in das sie schrieben, aus welchen Teilen der Erde sie kamen. Sie hinterließen Grüße, Gedanken, das Datum, ihren Namen und eine Zeichnung. Ganz oben – auf dem Höhepunkt des Lebens, die Hoch-Zeit, das Fest, das alle verband. Dort, wo sich Menschen füreinander entschieden. Da, wo klar wurde, wie das Leben weitergehen sollte. Dort lud man die engsten Freunde, Bekannten und Verwandten ein, sogar Menschen, denen man sich sonst vielleicht gar nicht begegnen wollte. Zu diesem Anlass kamen auch sie. Es wurde gefeiert, getrunken und gegessen. Die schönsten Plätze wurden ausgewählt, um Fotos zu machen und diesen Augenblick für die Ewigkeit festzuhalten.
Er erinnerte sich wieder an das über 60 Jahre alte Hochzeitsfoto seiner Großeltern. Es hing in Schwarz-Weiß in ihrem Schlafzimmer. Darauf war die Großmutter noch faltenfrei und der Großvater noch glücklich verklärt mit Blick in die Kamera zu sehen – in diesem Moment des Höhepunkts. Jeden Morgen, wenn sie aufstanden, zeigten sie sich gegenseitig die Glückseligkeit dieses Moments, der nicht vergänglich sein sollte. Wie Menschen versuchten, diesen Moment in die Ewigkeit zu bringen und ihn niemals enden lassen wollten.
Aber bei ihm war es anders. Er konnte sich nicht an der Schönheit dieses Gipfelmoments erfreuen. Kaum war er dort oben angekommen, sah er bereits den Abstieg. Ganz oben angekommen, bedeutete das für ihn, dass der Weg ab diesem Zeitpunkt nur noch hinunterführen konnte. Man wanderte stundenlang bergauf doch für ihn war oben nicht der Höhepunkt, sondern der Wendepunkt erreicht. Ab diesem Zeitpunkt ging es nur noch bergab.
Die Hoch-Zeit. Der Zeitpunkt, an dem sich Menschen das Ja-Wort gaben. Der Moment, in dem alle Freunde und Bekannten zusammenkamen, auf den man so viele Wochen und Monate hingearbeitet hatte, für den man sich so viele Gedanken und Vorstellungen gemacht hatte. Dieser Moment verdeutlichte auch, dass ab jetzt der Abstieg beginnt. Von ganz oben konnte es nur wieder hinuntergehen, bis dass der Tod euch scheidet.
Jedes Mal, wenn er in diesem Moment die prächtige Blume ansah, spürte er diesen Stich in seinem Herzen. Für ihn machte es Sinn und Freude, die Blume zu pflegen, bis sie ihren Höhepunkt der Blüte erreichte. Die Gartenarbeit gab ihm Energie und erfüllte ihn mit Liebe, während er sich vorstellte, wie sie einmal aussehen und riechen würde. Doch jetzt, da sie da war, änderte sich das Gefühl. „Da bin ich nun“, hörte er sie sagen, „da bin ich nun – genau so, wie du mich geschaffen hast.“ Es war das Wissen um den Höhepunkt. Und nach dem Höhepunkt war es immer aus, das fühlte er.
Es war, als würden die folgenden Tage und Wochen wie vorgespult vergehen. Er blickte zur gerade erblühten Rose und sah, wie sie bereits welkte. Ein bisschen verlor sie schon die Farbe. Ein Rosenblatt fiel ab, verabschiedete sich vom prächtigen Rosenkleid und landete am Boden. Die nächsten Blätter folgten schnell. Ein Rosenblatt nach dem anderen wurde welk und es entstanden braune Schatten an ihren Rändern. Und da sah er, wie sie fielen, eines nach dem anderen. Sie verabschiedeten sich, sie starben.
Er spürte, wie die Panik in ihm aufstieg. „Sie dürfen nicht gehen! Bleibt doch!“, schrie er und versuchte, sie aufzufangen. Er schnappte sich ein Rosenblatt und steckte es mit zitternden Fingern zurück. „Bleib doch noch ein bisschen“, flüsterte er, „nur noch ein bisschen“, und steckte das welke Blatt zurück in die Blüte. Doch vergebens. Selbst durch den Druck seiner Finger welkte es noch schneller. Er hob schnell auch die anderen Blüten auf und versuchte ungeschickt, sie auf die Rose zu legen. „Ein bisschen noch … ein bisschen …“, flehte er sie an. „Nicht jetzt! Nicht jetzt schon!“
Es war der sinnlose Versuch, die Vergänglichkeit aufzuhalten, um die Ewigkeit zu erreichen. Die Rose wurde müde und senkte ihren Kopf nach vorn. Ihr einst so schöner, weicher, rosiger Duft verging, ebenso wie die verwelkten Blätter. Es entstand ein abscheulicher, leiser Geruch des Todes. Er versuchte noch ein letztes Mal, die Blätter wieder einzusammeln und in den Blütenkopf hineinzustecken, doch dann fiel der ganze Kranz ab. Er erstarrte vor Angst. Was von Anfang an klar war, war nun Wirklichkeit.
Der letzte Rest des Blütenkopfes fiel auf das fein geschnittene Gras, auf die kopflose Armee des Hinaufstrebens. Da lag er nun. Einsam, tot, leblos. Ameisen und andere Insekten begannen, die verwelkten Blätter aufzufressen. Die prächtige Rose lag am Boden, wurde zu Erde und hauchte ihr letztes Leben aus. Er spürte die Trauer darüber, dass die Blütezeit wieder das Ende erreicht hatte.
Aus dem Fenster gegenüber sah die Nachbarin in den anderen Garten. Sie sah einen Mann inmitten wunderschöner Pflanzen. Fein geschnittenes Gras, beeindruckende Rosen auf der einen Seite und farbenprächtige Blumen auf der anderen. Der Mann, der Gartenhandschuhe trug und eine große, metallene Gießkanne in der Hand hielt, stand ruhig in der Mitte des Gartens. Er blickte auf seine wunderschönen Rosen, die die herrlichsten Düfte verströmten und sich in den leuchtendsten Farben präsentierten. Die Nachbarin wurde wie wohl alle Menschen magisch von dieser Schönheit und Eleganz angezogen.
Sie sah, wie dieser Mann sinnierend vor dem großen Strauch stand. Sie freute sich für ihn. Sie freute sich, dass er nach so viel Arbeit seine Ernte genießen konnte. Jeden Morgen sah sie, wie er die Rosen behutsam goss, sie schnitt und neuen Dünger brachte. All das tat er, damit sie jetzt endlich so schön dastehen konnten. Sie freute sich für ihn, denn es schien, als könne er diesen Moment des Höhepunkts wirklich genießen.
Sie beobachtete, wie die Rosen blühten. Das war der Höhepunkt der Gartensaison. Es erinnerte sie an ihre letzte Wanderung, als sie ganz oben auf dem Gipfel stand und voller Stolz ein Foto von sich machte. Dieses Foto hing noch immer in ihrem Wohnzimmer. Jeden Tag ging sie daran vorbei und wusste, dass sie diesen Berg erklommen und es bis nach ganz oben geschafft hatte. Es hing gleich neben ihrem Hochzeitsfoto – die Höhepunkte ihres Lebens, die sie im Herzen trug. Immer wenn sie an diesen Fotos vorbeiging, erfüllte es sie mit Glück, einen so schönen Moment erlebt zu haben. Sie wiederholte diesen Höhepunkt täglich, lächelte sich auf dem Foto selbst an – stolz, verschwitzt, mit einem Wanderstock, ganz oben am Gipfelkreuz stehend, mit einem Stempel auf der Handrückseite. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie ein großes Herz in das Gipfelbuch gezeichnet hatte. Auch ihre Hochzeit war ein rauschendes Fest mit all ihren Freunden, Verwandten und Bekannten gewesen. Dieser Abend blieb für immer in ihrem Herzen. Sie war so stolz und froh, dass sie das erleben durfte und diese Erinnerung bis zum Lebensende nachhallen würde.
Auch die Nachbarin hatte einen Garten. Auch bei ihr blühten die Blumen gerade besonders schön. Sie freute sich, diesen Anblick genießen zu dürfen. In dieser Wohlgesonnenheit blickte sie zu dem Mann hinüber. Sie freute sich für ihn, dass auch er die Schönheit der Natur genießen konnte, die er täglich mit Liebe erschaffen hatte.
Beiden war nicht bewusst, wie unterschiedlich der Blick auf Schönheit sein kann.
Perspektive
Diese Geschichte entfaltet sich als tiefgründige Meditation über zwei fundamental verschiedene Weisen, dem Leben zu begegnen – und damit über das menschliche Dilemma schlechthin.
Der Mann im Garten leidet unter einer stillen Unfähigkeit, die sich erst im Moment der Erfüllung zeigt. Seine Hingabe an die Rosen ist echt, seine Mühe über Jahre hinweg liebevoll und ausdauernd. Doch wenn die Blüte endlich erscheint, kippt etwas in ihm. Was andere als Glanz erleben, wird für ihn zur Mahnung. Die Perfektion der Rose offenbart ihm nicht ihre Gegenwart, sondern ihre Vergänglichkeit. In ihm zeigt sich eine Form der Anhedonie, die Unfähigkeit, Freude im Augenblick zu empfinden, weil sein Geist bereits beim Ende verweilt. Sein Geist ist bereits beim Welken angekommen, beim Fall der Blätter, beim Tod. Die Rose strahlt, doch er sieht sie schon braun. Der Gipfel ist erreicht, doch er sieht nur den Abstieg. Seine Liebe gilt dem Werden, dem Wachsen, der Vorstellung, doch das Sein selbst entzieht sich ihm, sobald es da ist.
In dieser inneren Struktur zeigt sich ein Mensch, der den Übergang nicht halten kann. Der Höhepunkt ist für ihn keine Erfüllung, sondern eine Schwelle, an der das Unvermeidliche beginnt. Die Hochzeit wird zum Anfang des Abstiegs, das Gipfelfoto zum Vorzeichen der Rückkehr und die erblühte Rose zum Vorboten ihrer eigenen Auflösung. Er versucht verzweifelt, die Blätter wieder anzudrücken und zurückzustecken, als ließe sich das Leben rückgängig machen. Doch der Versuch scheitert, wie er scheitern muss. Die Blätter welken schneller unter seinen zitternden Fingern, die Rose senkt den Kopf und der Duft vergeht. Aus Pflege wird Trauer, aus Schönheit wird Schmerz. Alles, was er schafft, trägt in seiner Vollendung den Keim des Verlusts, und dieser Keim wächst in ihm stärker als jede Freude.
Die Nachbarin hingegen sieht denselben Garten und erlebt eine völlig andere Wirklichkeit. Für sie ist der Gipfel ein freudiger Höhepunkt, die Hochzeit ein innerer Schatz und die Blüte ein Geschenk der Gegenwart. Beide stehen im selben Moment vor derselben Schönheit, doch ihre inneren Räume könnten unterschiedlicher nicht sein. Der Garten wird so zum Spiegel ihrer Seelen. Für ihn ist die Rose ein Symbol der Vergänglichkeit, für sie ein Grund zur Dankbarkeit. Diese Geschichte entfaltet das menschliche Dilemma in seiner ganzen Tiefe: Schönheit zu schaffen und sie doch nicht festhalten zu können sowie die stille Einsicht, dass zwei Menschen denselben Anblick haben können und dennoch in völlig verschiedenen Welten leben.

Kommentare