Robotermagnete
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 5 Min. Lesezeit
(Musik: Lifetime, Eelke Kleijn)
„Er braucht sie nicht mehr“, ging ihm durch den Kopf. Er erinnerte sich daran, wie er mit seinem Magneten vor ihr gestanden hatte. Er spürte diese unglaubliche Anziehung. Wenn er nichts unternahm, wurde er von ihr magisch, automatisch, magnetisch angezogen. Es war schwierig, Abstand zu gewinnen. Wenn er weggehen wollte, wurde er wieder zu ihr gezogen. Er erinnerte sich daran, dass es nicht immer so gewesen war. Am Anfang war diese Anziehung schwächer, aber dennoch prickelnd. Die stärkere Anziehung entstand erst mit der Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden, kann aber auch die Anziehung verstärken.
Doch jetzt ... Jetzt blickte er verwundert auf seinen Bauch hinunter. Dort spürte er immer die Magie, den Magneten. Doch er zog ihn nicht mehr zu ihr. Er blickte sie an. Sie stand wie immer vor ihm. Ein leichtes Prickeln durchzog seinen Körper, aber er fühlte keine starke Anziehung mehr. Als ob ein Wackelkontakt bei ihm vorhanden wäre. Er klopfte auf seinen Bauch. Am liebsten hätte er im Befehlston gesagt: „Magnet einschalten.”
Zwei Roboter, die sich gegenüberstanden. Er klopfte noch einige Male auf seinen Bauch. Dann blickte er sie an, hob die Schultern und zeigte sein verwundertes Gesicht. Auch sie hob ihre Roboterschultern. „Komisch“ zeigten beide mit ihren Gesichtern. „Eigenartig“ war die nächste Emotion in seinem mechanischen Gesicht. Wenn sein Magnet nicht funktionierte, dann könnte ja vielleicht ihrer funktionieren. Er blickte sie an. Sie wurde rot. „Warum wirst du rot?”, fragte er verwundert. „Mein Magnet funktioniert schon länger nicht mehr“, antwortete sie. Stille. Sein Mund öffnete sich. Schloss sich wieder. „Dein Magnet funktioniert schon länger nicht mehr?”, fragte er nach. „Ja”, sagte sie und ihr Blick senkte sich. „Aber ...", begann er nach einiger Zeit wieder. „... du hast gar nichts gesagt ...", sagte er verwundert. Stille. „Nein“, vernahm er leise von ihr. Sein Mund öffnete sich. Und schloss sich wieder. „Aber ...”, versuchte er ein weiteres Mal etwas zu verbalisieren. Sie standen sich gegenüber. Er wollte eine neue Frage formulieren. Aber er fand keine Worte. Stille.
In den Tiefen seines Roboterherzens entstand ein neuer Gedanke. Die magnetische Anziehung, die er gespürt hatte, hatte sie nicht wie er gespürt. Er blickte auf seinen Bauchmagneten. Die Anziehung war nur von ihm ausgegangen. Ein Magnet wird von Eisen angezogen. Aber Eisen muss gar nicht magnetisch sein. „Hast du überhaupt einen Magneten?”, fragte er endlich. Sie schaute hinunter. „Weiß nicht“, kam als Antwort. „Dachte eigentlich schon”, versuchte sie zu antworten. Aber irgendwie war sie sich selbst nicht mehr sicher. Hat sie jemals echte Anziehung gefühlt? Oder hat sie sich immer nur zu Magneten hingezogen gefühlt, war aber selbst nur aus Eisen?
„Schade”, sagte er. „Ja”, sagte sie. „Zumindest wissen wir es jetzt”, meinte er sachlich. „Ja”, sagte sie. „Ich schaue mal, ob mein Magnet sich bei jemand anderem wieder aktiviert”, sagte er und drehte sich um. „Okay”, sagte sie, während er wegrollte. Nach einiger Zeit kam er wieder zurück. „Er scheint zu funktionieren”, meinte er zuversichtlich. „Okay”, sagte sie. „Noch nicht so stark wie bei dir früher, aber ich spüre ihn." „Gut”, meinte sie. „Es fühlt sich ziemlich gut an, wenn jemand nicht nur aus Eisen ist, sondern auch einen Magneten hat. Ist stärker." „Verstehe”, sagte sie. „Und du?“, fragte er. Sie blickte ihn kurz an, drehte sich um und rollte davon. Nach einiger Zeit kam sie wieder zurück. „Ich bin wirklich aus Eisen. Läuft aber ziemlich gut mit anderen Magneten”, sagte sie stolz. „Okay“, meint er. Stille.
Sie betrachteten sich selbst, jeder für sich. Nicht die Beziehung zueinander. Nicht die Beziehung zu anderen. Nur sich selbst. „Ich finde mich gerade selbst sehr anziehend“, kicherte er plötzlich leise. „Schön“, meinte sie. Und sie sahen, wie sich andere Roboter in ihre Nähe begaben. Verwundert blickten sie sich um. „Ich glaube, wenn ich mich selbst anziehe, verstärkt das die Anziehung auch für andere”, staunte er. „Ja“, sagte sie, „ich finde dich jetzt auch wieder anziehender.“ Während er die anderen Roboter beobachtete, drehte er langsam den Kopf zu ihr. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Magnet sich wieder aktiviert hatte. Dadurch, dass er sich selbst wieder anziehend fand, war wieder ein Magnetfeld zwischen ihnen entstanden.
„Spannend“, meinte er. „Ja“, sagte sie und kam ihm wieder näher. Sie zogen sich an. Doch diesmal war es anders. „Weißt du, ich brauche dich gar nicht mehr, um diese Anziehung zu spüren. Ich ziehe mich selbst an und eben auch dich“, fasste er seine Beobachtungen zusammen. „Okay“, sagte sie. „Ich brauche dich also nicht mehr“, sagte er zu ihr, unschuldig. „Aber ich finde es schön, wenn du an meiner Seite bist.“ „Okay“, sagte sie. Und sie begann, auch wieder ein Prickeln zu spüren. „Bei mir prickelt es auch wieder“, meinte sie, nachdem sie auf ihren Bauch geschaut hatte. „Ich glaube, das Prickeln kommt jetzt auch mehr von mir als von dir.“ „Okay“, sagte er. Dann sah sie ihn an und meinte: „Ich mag mein Prickeln.“ Er lächelte. Ihr Prickeln zog ihn nicht direkt an. Aber er fand es anziehend, sie dabei zu beobachten, wie sie es genoss. „Ich glaube, ich brauche dich auch nicht“, gestand sie ihm. „Das freut mich“, antwortete er gutmütig. „Okay, rollen wir jetzt weiter“, fragte er sie. „Ja“, antwortete sie.
Irgendwie sahen sie aus wie früher. Aber trotzdem so anders. Sie zogen sich innerlich an. Sie brauchten sich selbst, aber nicht den anderen. Doch es fühlte sich gut an, mit dem anderen zusammen zu sein. Einfach so. „Ich mag dich“, meinte er. „Ich mag dich auch“, meinte sie. Und sie rollten weiter.
Perspektive
Diese Geschichte handelt von einer fundamentalen Veränderung in der Beziehung zwischen zwei Wesen. Zu Beginn fühlt er eine Anziehung, die ihn automatisch zu ihr zieht. Was zunächst wie Liebe aussieht, entpuppt sich jedoch als einseitige Fixierung. Der Magnet und das Eisen offenbaren eine schmerzhafte Asymmetrie. Als sein Magnet versagt und sie gesteht, dass ihrer schon länger nicht mehr funktioniert, bricht eine Illusion zusammen. Die Frage, ob sie je einen eigenen Magneten hatte, führt zu existenzieller Verunsicherung. Hat sie je echte Lebendigkeit aus sich selbst heraus gespürt oder war sie immer nur reaktiv?
Die kurze Trennung ist eine notwendige Individuation. Der Wendepunkt kommt, als er sich plötzlich selbst anziehend findet. Dies ist keine Selbstverliebtheit, sondern das Erwachen einer gesunden Selbstbeziehung. Attraktivität entsteht aus Selbstverbundenheit, nicht aus Mangel. Paradoxerweise wird dadurch sein Magnetismus wieder aktiviert, jedoch aus einer völlig anderen Quelle. Er braucht sie nicht mehr, um sich vollständig zu fühlen. Auch sie entwickelt ihr eigenes Prickeln, nicht als Reaktion auf ihn, sondern aus eigener Kraft.
Am Ende sind sie wie früher, aber trotzdem so anders. Sie bewegen sich weiter, nicht verschmolzen, aber verbunden. Es ist eine Art Beziehung, die aus Wahl statt aus Zwang entsteht. Das „Ich brauche dich nicht mehr“ wird zur Grundlage von etwas Neuem. Sie sind von der unbewussten Verstrickung zur bewussten Verbindung gereift. Die Geschichte erzählt vom Brauchen zum Mögen, von der Abhängigkeit zur freien Wahl. Gerade diese Selbstanbindung ermöglicht erst echte Nähe.

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