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Prolog eines Aliens

Aktualisiert: 8. Dez.

Er jubelte seiner Mannschaft zu. Sie hatten tatsächlich ein Tor geschossen. Die Menge im Stadion tobte und feierte. Erwachsene Männer umarmten sich mit Tränen in den Augen. Es war ein schöner Tag. In diesem riesigen Stadion, das genau für solche Fußballspiele erbaut worden war. Zehntausende Menschen hatten sich versammelt, um zwanzig anderen Menschen dabei zuzusehen, wie sie einen Ball in ein Tor schossen. Die eine Hälfte war in dieser Farbe gekleidet, die andere in jener. Sie alle trugen T-Shirts, Fahnen, Schals und Kappen, manche sogar Tattoos ihrer Mannschaft. Und er war unter ihnen. Aber er war anders.

Schon immer war ihm bewusst gewesen, dass er ein Alien war. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, dass er in seinen ersten Lebensjahren die Welt wie ein Abwesender beobachtet hatte. Er saß in der Sandkiste, sabberte und beobachtete. Er war eine Seele, die in einem Menschenkörper angekommen war, sich auf dieser Welt aber noch nicht zurechtfand. Wie auch, es war eine andere Welt. Er war ein Alien.

Aus seinem Blickwinkel gestaltete sich der Alltag oft absurd, was für „native” Menschen nicht ersichtlich war. Wie der Fisch das Wasser nicht erkennt, so erkannten die Menschen die Absurdität ihres eigenen Verhaltens nicht. Er hatte nie verstanden, warum Menschen anderen Menschen beim Sport zusahen. Erwachsene Menschen mit zwei verschiedenen Trikots versuchten mit ihren Füßen einen Lederball in einen Holzrahmen zu schießen. Zehntausende andere Menschen beobachteten sie dabei. Jeweils die Hälfte der Anwesenden freute sich, wenn ein Tor fiel. Es wurde geschrien, geklatscht, gesungen, getanzt, getrunken, geschimpft, gekämpft und umarmt. Die Menschen nennen das „Fußball spielen”. Das ist normal. Niemand wird komisch angesehen, wenn er zugibt, sich ein „Fußballspiel” anzusehen. Es wird gehofft, dass eine Mannschaft den Lederball in das Tor der anderen Mannschaft schießt. Darum herum werden Regeln entwickelt, Kulturen aufgebaut, Geschäfte betrieben, Trainings angeboten, riesige Stadien gebaut, Werte vermittelt und Meisterschaften organisiert.

Aus seinem Blickwinkel war das einfach nur absurd. Während er das dachte, umarmte er seine Freunde, die noch immer vor Glück strahlten. Er erkannte echte Freude in ihren Gesichtern. Tatsächliche Euphorie, weil „ihre” Mannschaft ein Tor geschossen hatte. Und seine Menschenhülle freute sich mit ihnen. Er schrie in das Stadion und klatschte in die Hände. Er war einer von ihnen – zumindest von außen betrachtet. Innerlich wunderte er sich einfach nur darüber, dass Menschen sich tatsächlich über so etwas freuen konnten.

Er war schon immer ein Alien gewesen, das sich wunderte. Am meisten wunderte ihn, dass sich niemand anderes wunderte. Wie konnten sie all das als normal ansehen? Ein schwarz-weiß gekleideter Schiedsrichter holte eine rote Karte aus seiner Hosentasche. Raunen und wütendes Pfeifen erklangen durch das Stadion. Wie wütend die eine Hälfte des Stadions wurde. Es war echte Wut und Enttäuschung, die sie empfanden. Die andere Hälfte war hochzufrieden, dass die eigene Mannschaft jetzt einen Mann mehr auf dem Platz hatte. Wie viele Fragen musste man sich nicht stellen, um dieses Schauspiel einfach nur genießen zu können?

Wie damals in der Sandkiste saß er auf der Tribüne und beobachtete staunend die Menschen. Er war kein Mensch. Er war nur in einer Menschenhaut geboren worden. Er hatte gelernt, sich den Ritualen und Verhaltensweisen der anderen Menschen anzupassen, und er konnte sie perfekt imitieren. Das war manchmal auch nicht so einfach. Als die rote Karte gezeigt wurde, musste er zuerst schmunzeln, weil ihm der Ausdruck „Arschkarte” in den Sinn kam. Dieser Ausdruck entstand, als es noch Schwarz-Weiß-Fernseher gab. Die gelbe Karte wurde aus der Brusttasche gezogen, die rote aus der hinteren Hosentasche. So konnten die Zuschauer die Farbe identifizieren, ohne die Farbe sehen zu müssen. Die „Arschkarte” war die rote Karte. Doch als er die betroffenen Gesichter seiner Freunde sah, begriff er, dass er sich nun ebenfalls betroffen zeigen sollte. „Das gibt es ja nicht!”, schrie er empört in Richtung des Schiedsrichters, doch dieser hörte ihn natürlich nicht, und sein Ausruf blieb ohne Wirkung. Aber so taten es die anderen Menschen nun auch einmal und er tat es ihnen nach. Ihm war nur klar, dass er in die Rolle eines „Fußballfans” geschlüpft war, obwohl er in Wirklichkeit ein Alien war. Ein Alien, das sich wunderte. Ein Alien, das weder Glück noch Traurigkeit empfand, wenn ein Lederball ins Tor geschossen wurde. Wieso auch?

Ein Fußballspiel war jedoch nur ein plakatives Beispiel für sein Erleben. Er wunderte sich ständig darüber, wie Menschen lebten und was für sie normal war. Was sie alles nicht hinterfragten, sondern als gegeben hinnahmen. Am nächsten Morgen ging er in sein Büro und schüttelte seinem Gegenüber die Hand. „Guten Morgen. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee haben, bevor wir uns gemeinsam die Dokumente ansehen?“, fragte er seine Kundin.  Er lächelte sie freundlich an und streckte ihr die Hand entgegen. Seine fünf Finger begannen, sich aus ihrer Komfortzone zu bewegen. Sie streckten sich durch die Muskelkraft seines Willens auseinander. Auch die Finger seiner Kundin streckten sich. Wie in Zeitlupe kamen sich diese Finger näher. Stramm, gestreckt, bereit für den ersten Kontakt. Ähnlich wie die Fußballspieler am Vortag formierten sie sich. Kurz bevor sie sich berührten, begannen sie sich wie in einem choreografierten Tanz langsam wieder zu schließen. Sie taten dies im exakt richtigen Timing, sodass sich beide Fingermannschaften umschlossen und die Hand des jeweils anderen umarmten. Weder zu leicht, das wäre eigenartig gewesen, noch zu fest, das wäre grob gewesen. Genau in diesem gesellschaftlich akzeptierten Mittelmaß an Stärke für eine formelle Begrüßung. Dann begannen sie das Schüttelritual. Zuerst gingen alle zehn Finger, die sich noch immer gegenseitig hielten, in die Höhe, dann gemeinsam wieder hinunter, noch einmal hinauf, noch einmal hinunter und noch einmal hinauf. Anschließend lösten sie sich wieder langsam voneinander. Während dieser Zeremonie mussten sich die beiden Personen in die Augen sehen. Er hatte einige Zeit trainieren müssen, um dieses Ritual zu erlernen. Früher hatte er immer die Hände angesehen und mitgezählt, wie oft sie auf- und ab bewegt wurden, um dann rechtzeitig seine Hand wieder loszulassen. Zog die andere Person die Hand weg, während er sie noch festhielt, kam schnell eine verwunderte Gegenreaktion. Aber auch wenn er die Hände ansah, produzierte er damit diese eigenartige Mimik der Menschen. Dann nahm er wieder die zugekniffenen Augen, den leicht gedrehten Kopf und die gerümpfte Nase wahr. Diese Mimik kannte er zur Genüge und er war darauf trainiert, zu lächeln und schnell eine Ausrede zu erzählen. „Durch den Jetlag bin ich noch nicht ganz aufgewacht.“ „Entschuldigung, ich hatte bereits an unseren Fall gedacht.“ So lernte er die sozialen Regeln der Menschen kennen. Wie viel Abstand sie zueinander hielten. Wann sie sprachen. Wann sie nicht sprachen. Welche Körperteile er ansehen durfte und welche nicht. Welche er davon berühren durfte und welche auf keinen Fall. Er beobachtete die Menschen ständig, um herauszufinden, ob er sich in ihren Augen gerade eigenartig verhielt. Dann schüttelte er Hände, grüßte sie und nahm den Stift, wie sie es taten, um etwas zu notieren. Für sie war das alles normal, für ihn war es eigenartig.

Er fragte sich immer, ob andere erkennen würden, dass er kein Mensch war. Sahen sie seine Andersartigkeit? Nahmen sie wahr, dass er eigentlich nur in einer Menschenhaut steckte? Oder war er bereits so ein guter Menschen-Schauspieler geworden, dass er sich wie sie verhielt? Gab es wohl auch andere Aliens? Aliens, die wie er perfektioniert hatten, Mensch zu spielen? So gut, dass er sie selbst nicht mehr erkennen konnte? Würde ein anderes Alien ihn erkennen oder von der Menschenhülle geblendet werden? Was war der Unterschied zwischen einem nativen Menschen und einem Alien mit Menschenhülle? Auf den ersten Blick würde man keinen Unterschied erkennen. Äußerlich sind es zwei Menschen, die in einem Fußballstadion sitzen, lachen, trinken und jubeln. Der einzige Unterschied wäre, dass es dem nativen Menschen nicht bewusst war. Für ihn war dieses Verhalten normal. So normal, wie für einen Hahn zu krähen. Oder für eine Kuh, Gras zu fressen. Oder für ein Eichhörnchen, Nüsse zu verstecken, die es später nicht mehr wiederfindet. Für das Alien ist dieses Verhalten jedoch nicht normal. Es würde sich wundern, wenn es mit seinem Bewusstsein in einem Hahn existieren würde. Ja, es würde als Hahn krähen, als Kuh Gras fressen und als Eichhörnchen Nüsse verstecken. Aber es wäre sich dessen bewusst, so wie es sich in dem Körper eines Menschen bewusst ist.

Für das Alien wäre das menschliche Verhalten ein Spiel. Ein Verhalten, das bestimmten sozialen Regeln und kulturellen Traditionen folgte. In Wirklichkeit fühlte es jedoch nur im Außen Freude oder Traurigkeit. Als Alien spielte es keine Rolle. Es war wie ein Theaterstück, eine Vorstellung. Als Besucher dieses Theaterstücks konnte es die Stücke betrachten und verstand, dass sie die Menschen inspirierten. Aber er selbst sah immer die Schauspieler und nicht ihre Rollen. Er sah die Schauspieler, die Menschen mit ihren Kostümen und Schminke, die diese Rollen verkörperten. Die anderen Besucher schienen die Schauspieler auszublenden und nur noch die Rollen zu sehen. So, wie sie im echten Leben nicht mehr die Menschen dahinter wahrnahmen, sondern nur noch die gespielten Rollen. Es waren die Schatten an der Wand, wie Platon es einmal so treffend beschrieben hat.

Als Alien sah er etwas vollkommen anderes. Er sah keinen Lederball und keine Theaterstücke, sondern vor allem die Bedeutung der Spiele für die Menschen. Er sah das Bedürfnis, Teil einer Gruppe zu sein, sich mit etwas zu identifizieren, ein gemeinsames Erlebnis zu haben und kollektive Gefühle zu spüren. All das war für Menschen scheinbar bedeutsam. Das war auch für Aliens bedeutsam. Aber es blieb für ihn absurd, wie Menschen es schafften, mit so banalen Verhaltensweisen diese Bedeutung zu erlangen. Sahen sie wirklich nicht einfach nur einen Lederball, Rollen oder Geld? Sahen sie nicht die Bedeutungslosigkeit von außen? Als Alien war ihm diese Tatsache immer bewusst. Er wusste, dass ein Fußballspiel kein echter Kampf war und keine echte Bedeutung hatte. Es war ein Spiel, das gespielt wurde.

Doch ein Teil von ihm fühlte sich ausgeschlossen und allein. Es war die ständige Distanz zu den anderen Menschen, die so unbewusst durch ihr Leben gingen. Ein anderer Teil von ihm war erschöpft. Die ständige Verwunderung und Analyse seiner Umwelt und Mitmenschen sowie das ständige Anpassen an soziale Normen waren anstrengend. Ohne es zu bemerken, begann über die Jahre ein langsamer Wandel. Das erschöpfte Alien wurde müde und schlief mit der Zeit ein, während die sehnsüchtige Menschenhülle Nähe zu anderen Menschen suchte. Sie tat das, was andere taten. Sie fühlte, wie andere fühlten. Was andere Menschen als wichtig erachteten, wurde der Hülle wichtiger. Sie versuchte, ein Leben zu führen, wie es auch die anderen führten. Sie wurde immer mehr zu einem Menschen. Die Spiele, die der Alien-Teil ad absurdum führte, wurden für den menschlichen Teil immer wichtiger. Wie der Hahn, der irgendwann lauter als der Nachbarshahn krähen wollte; wie die Kuh, die sich mit Gras fressen begnügte; wie das Eichhörnchen, das nur noch Nüsse im Kopf hatte. Menschlicher Ehrgeiz und Gier waren die Folgen. Wenn er schon in dieses Menschenleben geworfen worden war, dann wollte er nicht nur die Regeln verstehen, sondern auch besonders gut im Spiel sein.

An einem Abend war er mit seinen Arbeitskollegen Billard spielen. Sein Alien erwachte nur kurz und schüttelte darüber den Kopf. Es fragte sich, warum es wichtig war, bestimmte Kugeln in einer bestimmten Reihenfolge mit einem Holzstab, dessen Spitze mit blauer Kreide bemalt war, in ein Loch zu befördern. Seine Menschenhülle wollte das Spiel aber lernen. Am Anfang spielte er schlecht, die Kugeln flogen vom Tisch hinunter und er bemerkte die spöttischen Blicke der anderen, die ihn schmerzten. Also trainierte er. Er kaufte sich einen Billardtisch für seine Wohnung, sah sich sämtliche Online-Videos an und übte täglich mehrere Stunden. In dieser Zeit schlief sein Alien die meiste Zeit; die Menschenhülle vergaß ihn. Dieser Ehrgeiz, einer sinnlosen Tätigkeit nachzugehen, hätte es wahrscheinlich noch mehr gewundert als die gesellschaftliche Alltäglichkeit. Es war der Ehrgeiz eines Menschen, der endlich sein Ego erhöhen wollte und nicht über den Sinn oder Unsinn der Tätigkeit an sich nachdenken wollte. Als er das nächste Mal mit seinen Kollegen in die Billardhalle ging, wirkte er wie ein professioneller Spieler. Sie sahen ihn erstaunt an. Wieso konnte er das plötzlich? Hatte er beim letzten Mal nur so getan, als ob er nicht spielen könne? Es fühlte sich gut an. Seine Körperhülle strahlte vor Stolz.

Er fand heraus, dass er sich in allen Spielen verbessern konnte, wodurch sein menschlicher Drang wuchs. „Wenn ich mehr arbeite, fördere ich meine Karriere. Dann erhalte ich mehr von dem monetären Tauschmittel. Und ich könnte ins Fitness-Center gehen, um attraktiver zu werden. Ich könnte ...“, hörte er die menschlichen Gedankenspiralen. Er spürte, wie er allein durch diese Vorstellung glücklicher und aufgeregter wurde. Er spürte erstmals die psychologische Wirkung von Geld, Prestige und Anerkennung. Das Alien darunter staunte wie immer nur, wenn es kurz aufwachte und seine Hülle beobachtete. Aber es zog ihn einfach an, Billardkugeln besser einzulochen, sich von anderen zu unterscheiden und sich in diesem Spiel zu verbessern.

An einem Abend spielte er mit seinen Freunden Monopoly. Wie in allen anderen Lebensbereichen lernte er auch hier die Regeln sehr schnell. Er war sein Leben lang gewohnt, die Regeln von Spielen zu erkennen und zu perfektionieren. Mit der Zeit sammelte er Häuser und Hotels und erhielt Papierscheine, die einen bestimmten Wert darstellten. Wie beim Fußballspiel spürte er die Emotionen der anderen. Er spürte, wie wütend sie waren, wenn sie etwas nicht bekamen. Oder wie sehr sie lachen konnten, wenn sie ein Ziel erreicht hatten. Es wurden echte Gefühle erzeugt. Als das Alien kurz die Augen öffnete, erkannte es ein Muster, das dem ritualisierten Verhalten der Menschen ähnelte. Es wurden bestimmte Regeln erfunden, Werte unbewusst festgelegt und Routinen sowie Abläufe durchgeführt. Und es kam ihm so vor, als sei er der Einzige, der bemerkte, dass es immer nur ein Spiel war. Am liebsten hätte es laut aufgerufen: „Haaaalloooo, wir spielen hier Monopoly! Das sind unsere Erfindungen! Wir können die Regeln ändern und etwas anderes spielen!“ Es war wieder ein Fragment eines inneren Erwachens. Doch die Menschenhülle wollte im Spiel bleiben, verdrängte die innere Stimme und das absurde Gefühl, das es spürte. Das Alien schwieg und schlief wieder ein. Oder war es der Mensch, der wieder einschlief und seinen Traum des Lebens weiterführte?

Damals wunderte er sich, wie unbewusst Menschen ihre Spiele verfolgten. Jetzt wollte er sie tatsächlich spielen. Am Anfang spürte er noch, wie die absurden Gefühle weniger präsent wurden. Dann waren sie einfach nicht mehr da. Sein Fokus lag darauf, sein Leben aufzubauen, sich weiterzuentwickeln und seinen Lebenstraum zu verwirklichen. Und er war sehr erfolgreich darin. Er verfolgte seine berufliche Karriere zielstrebig, seine sportlichen Leistungen waren bemerkenswert, er vergrößerte sein Kapital und er spielte das Spiel des Lebens professionell. Er spielte um sein Leben.

„Jetzt gehört das Hotel dir“, hörte er einen seiner Freunde sagen, der sein Eigentum an die Bank abgeben musste und wusste, dass er es gleich kaufen würde. Er hörte den Neid in seiner Stimme. Es war ein echtes Gefühl. Wegen eines Spielhotels? hörte er sich innerlich fragen. Und plötzlich fühlte er wieder seine Einsamkeit. Diesmal fühlte er sich nicht einsam, weil er keine Verbindung zu anderen Menschen hatte, sondern weil er keine Verbindung zu sich selbst hatte.  Er hatte schon zu lange in seiner Menschenhülle gelebt. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er die letzten zwei Jahrzehnte fast ausschließlich das Menschenspiel gespielt hatte. Er hatte sein Menschenleben auf hohem Niveau gespielt. Und er war stolz darauf, genauso stolz, wie er es war, ein Monopoly-Hotel zu besitzen. Häuser, Hotels und Papiergeld. All das besaß er in seinem Menschenleben. Er war zu einem Menschen geworden. Ihm war nicht mehr bewusst gewesen, dass es ein Spiel war, das seinen inneren Werten nicht entsprach. Bevor er es bemerkte, begann sich alles wieder zu ändern.

„Jetzt gehört das Hotel wieder mir!“, hörte er plötzlich einen seiner Freunde triumphierend in die Runde rufen. Er selbst bemerkte, dass er kein Geld mehr hatte, und musste das Hotel für die Hälfte seines Wertes an die Bank verkaufen. Anschließend kaufte es sein Freund, so wie er es zuvor von ihm gekauft hatte. Es war der Beginn seines menschlichen Untergangs. Er spürte den Zorn gegenüber seinem Freund. Er wollte es zurückhaben. Er würfelte nicht mehr, in dem Wissen, dass eine zufällige Zahl kam, sondern er versuchte, „gut” zu würfeln. Er akzeptierte die Paradoxien und Schicksalsschläge des Lebens nicht mehr. Er war angespannt und verkrampft, blies Wünsche in den Würfel. „Und dieses Hotel gehört ab jetzt ebenfalls mir“, hörte er einen seiner Freunde freudestrahlend verkünden. „Fuck, das gibt es doch nicht“, hörte er sich selbst fluchen. Runde für Runde musste er mit ansehen, wie sein Monopol den Bach hinunterging. Irgendwie funktionierte nichts mehr. Er sah einen Dominostein fallen. Und er spürte bereits, dass auch der nächste fallen würde. Es war der Beginn einer langen Dominoreihe.

Es blieb tatsächlich nicht bei Monopoly. Einige Wochen später fiel der nächste Dominostein um und er erhielt die Kündigung. Grund war ein Merger, wegen dem seine Firma umstrukturieren musste. Er lächelte, als sein Vorgesetzter ihm dies mitteilte. Doch hinter der freundlichen Maske wurde er bleich. Das Gefühl eines existenziellen Verlustes und Versagens machte sich in seinem Bauch breit. Wie fürchterlich es sich anfühlte, etwas zu verlieren. An diesem Abend spielte er Billard. Er wollte sich von den Lebensereignissen ablenken. Wie lange hatte er schon nicht mehr gespielt? Doch statt Erholung musste er feststellen, dass der nächste Dominostein fiel. Die anderen waren ihm wieder überlegen. Hatten sie im letzten Jahr weitergespielt? Hätte er weiter trainieren sollen?

Er weinte, als er an diesem Abend im Theater saß. Er sah nur noch die Rollen, aber keine Schauspieler mehr. Es war eine tiefe Angst, die er fühlte. Gefühle von Anerkennung und Prestige waren flüchtig. So hoch und ekstatisch sie sich auch präsentierten, so tief und erschreckend waren ihre Schatten. Er spürte den emotionalen Schmerz in seiner Menschenhülle. Er wollte seine bevorstehende Metamorphose nicht wahrhaben. Er war eine dicke, fette Schmetterlingsraupe geworden. Tag für Tag fraß er sich voll, sein Ego wurde immer größer. Als er sich schließlich zu zersetzen begann, spürte er seinen von Angst und Hass erfüllten Widerstand. Er wollte weiterfressen, er wollte nicht aufgeben. Er leistete Widerstand gegen den Tsunami der Dominosteine, arbeitete noch verbissener und trainierte noch mehr.

Der Kampf dauerte lange. Er erlebte viele schmerzvolle Nächte. Jahre vergingen und ein Alptraum jagte den anderen. Doch statt aufzuwachen, träumte er immer tiefer hinein. Bis er eines Tages aus menschlicher Erschöpfung und innerem Wohlwollen das Alien schließlich wieder aufwachte. Es erinnerte ihn daran, dass nur seine Menschenhülle schmerzte. Er fühlte sich wie ein Mensch. Er schrie wie sie beim Fußballspiel und vergaß dabei, dass es nur ein Spiel war. Er war an seine äußerliche Hülle angehaftet. Plötzlich wurde dem Hahn wieder bewusst, dass es nicht so wesentlich war, wer am lautesten krähte. Die Kuh, die kurz innehielt und spürte, dass es im Leben mehr gab als Gras zu fressen. Das Eichhörnchen bemerkte, dass der Verlust der Nüsse neue Bäume zum Leben erweckte.

Er wurde sich wieder bewusst, dass er ein Alien war. Er war eingeschlafen und hatte sein Menschenleben geträumt. Wie schön der Traum war, solange alles wie geplant lief. Und wie schnell das Leben zum Alptraum werden konnte, wenn die inneren Dämonen aus der Dunkelheit auftauchten. Aber es waren nur Träume. Er hatte so tief geschlafen, dass ihm die Träume zu Kopf gestiegen waren. Sie hatten mehr Bedeutung erlangt, als er ihnen zuschreiben wollte. Und jetzt wachte er wieder auf. Nach den schönen Träumen, die ihn schlafen ließen, weckten ihn die Alpträume nach langem, vergeblichem Kampf wieder auf. Er war voller Angst, Wut und Traurigkeit. Er erwachte mit Angstschweiß im Gesicht und einem rasenden Herzen. Er schrie mitten in der Nacht, in der stillen Dunkelheit, auf. Er fühlte sich orientierungslos, allein und fehl am Platz. Es waren immer nur Träume gewesen, und doch spürte er den Schmerz des Abschieds. Sein Traum, sein Menschenleben, war gerade zu Ende gegangen. Er spürte, wie das Alien in ihm erwachte und gleichzeitig der Tod seiner Menschenhülle nahte. Den Verlust der fetten Raupe und die Entstehung eines Schmetterlings. Als es ihm als Mensch immer schlechter erging und er es kaum noch aushielt, wurde er aus dem Traum gerissen und erwachte wieder als Alien.

Er stellte sich vor den Spiegel. Er sah den Menschen vor sich, aber durch dessen Augen hindurch sah er sich selbst – das Alien. Er war nie ein nativer Mensch gewesen. Es war nur ein Traum. Die Emotionen fühlten sich jedoch noch immer echt an. Doch immer, wenn er zur Ruhe kam und sich selbst ehrlich begegnete, spürte er diese Leere. Denn Menschenhüllen sind und bleiben leer, wenn man selbst ein Alien ist. Wie oft war er vor sich selbst davongelaufen! Er hatte sich mit Spielen abgelenkt. Er war immer tiefer in seine Träume eingetaucht. Eine innere, besonnene Stimme hat ihn gewähren lassen. „Lasst ihn doch spielen, er muss es selbst erfahren.“ Und erst jetzt, zerschunden und verletzt, erwachte er wieder in sich selbst. In seinem echten Alien-Dasein. „Ich muss wohl akzeptieren, dass es ein Traum war“, erklärte er seinem Spiegelbild. Ein langer und intensiver Traum. Aber ein Traum, in dem ich anderen Traummenschen nicht erklären konnte, dass es nur ein Traum war. Ich konnte es mir ja selbst nicht erklären. Und dann war er wieder da. Aufgewacht. Schweißgebadet. Verletzt. Neugeboren im alten Körper, mit einem neuen Selbst. Sein wahres Ich. Sein authentisches Ich. Und so begann ein neues Leben.

„Jaaa, ihr habt ein Tor geschossen! 2:1, 2:1!“, schrie er mit seinen Freunden und allen anderen Fans im Fußballstadion. Er spürte die Gefühle in seinem Körper. Er genoss sie. Während er seine aufgebrachten, enthusiastisch mitsingenden Freunde beobachtete, lächelte er innerlich. Er wurde sich seines Alien-Daseins wieder bewusst. Er sah die Spiele. Aber er akzeptierte sie. Waren die Spiele auch anderen bewusst? Irgendwann kaufte er sich wieder ein Hotel in Monopoly. Das freute ihn. Zwar gewann er das nächste Billardspiel nicht, aber er konnte die schwarze Kugel einlochen und klatschte mit seinem Partner High Five. Am nächsten Morgen hörte er einen Hahn krähen. Er krähte laut und deutlich. So machten Hähne das eben. Vielleicht war dem Hahn bewusst, ein Hahn zu sein. Vielleicht auch nicht. Für ihn war es das Zeichen, wieder aufzuwachen. Irgendwie fühlte er sich wie ein Schauspieler in seiner Rolle. Er spielte die Rolle, war sich als Schauspieler aber dessen bewusst. Ob es wohl noch andere Aliens gab, die ebenfalls erwachen wollten?

 

Perspektive

Der Text behandelt das Phänomen der existenziellen Entfremdung, das Gefühl, ein Beobachter des eigenen Lebens zu sein statt ein natürlicher Teilnehmer. Der Protagonist erlebt sich als „Alien in Menschenhaut“. Diese Metapher steht für ein tiefes Bewusstsein über die Konstruiertheit sozialer Realität. Das „Alien“ ist dabei kein Fremder, sondern das Sehende im Menschen selbst, das sich nicht vollständig mit Rollen, Routinen und gesellschaftlichen Spielen identifizieren kann. Die Urszene in der Sandkiste zeigt ein waches Bewusstsein, das „noch nicht ganz drin ist“ in der menschlichen Matrix. Von dort an entfaltet sich ein Leben in zwei Schichten: außen die perfekt imitierte Menschenhülle, innen das stille Schauen. Diese hypervigilante Aufmerksamkeit macht jede Geste – Händeschütteln, Jubeln, Höflichkeit – zu einer bewussten Choreografie. Wer so sieht, kann nicht mehr naiv Teil des Ganzen sein. Diese klare Wahrnehmung ist eine spirituelle Gabe, die jedoch auch tiefe Einsamkeit und Erschöpfung mit sich bringt.

In der zweiten Phase schläft das Alien aus Sehnsucht nach Zugehörigkeit und aufgrund der Erschöpfung durch das ständige Anderssein ein. Was folgt, ist ein notwendiger Entwicklungsschritt: Er wirft sich in die Spiele von Karriere, Leistung und Status und wird zum Getriebenen, der durch Perfektion beweisen will: „Ich gehöre doch dazu.“ Dieser Ehrgeiz ist kein Scheitern, sondern die Voraussetzung für ein echtes Erwachen. Erst, wenn die Dominosteine fallen – Kündigung, verlorene Spiele, Tränen im Theater –, erkennt er den eigentlichen Schock: Er selbst ist eingeschlafen. Er hat das Spiel für echt genommen. Wie eine Raupe, die sich vollfrisst und an ihrem alten Selbst festhält, weil sie fürchtet, dass darunter nichts sei, wehrt er sich gegen den Wandel. Der Zusammenbruch erweist sich schließlich nicht als äußeres Unglück, sondern als Offenbarung einer inneren Wahrheit, die sich nicht länger verdrängen lässt.

Die Leere, die er im Spiegel sieht – „Menschenhüllen sind leer“ – wird zur Durchlässigkeit für das Eigentliche. Das am Ende erwachte Alien ist nicht mehr dasselbe wie zu Beginn, denn es hat die Spiele durchschaut, weil es sie vollständig durchlebt hat. Der Unterschied ist entscheidend: Am Anfang stehen Unverständnis und Isolation, am Ende Akzeptanz und Freiheit. Die finale Szene im Stadion zeigt die erreichte Integration. Er jubelt mit, fühlt die Gefühle und genießt sie sogar. Doch er weiß, dass es ein Spiel ist. Das ist keine Heuchelei, sondern Reife. Es ist die Fähigkeit, teilzunehmen, ohne sich zu verlieren, und bewusst zu handeln, ohne das Spiel zu verurteilen.

Als Prolog etabliert dieser Text die Grundmelodie des gesamten Buches. Man muss den Traum erst ganz träumen, bevor man erkennt, dass er ein Traum war. Die fragmentarische Struktur – Stadion, Büro, Billard, Monopoly, Theater – zeigt eine zyklische Bewegung statt einer linearen Entwicklung. Der krähende Hahn am Ende ist nicht nur ein Symbol für das Erwachen des Protagonisten, sondern auch ein Ruf an den Leser: Erkennst du dich wieder? Erwachen bedeutet nicht, aus dem Leben zu fliehen, sondern bewusst im Leben zu bleiben. Der Prolog ist somit keine bloße Einleitung, sondern die Schwelle selbst – der erste Traum, der zum Erwachen einlädt.

 
 
 

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