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Parallelwelten

Er blickt auf seine Hände. Sie waschen gerade weiße Teller. Die Bewegungen sind routiniert, im Körper verankert. Er beobachtet, wie schnell sie kreisförmig die Innenseite des Tellers mit einem Schwamm auswischen. Zuerst die Außenseite, dann, im richtigen Moment, auch die Innenseite. Einmal den Teller umgedreht, folgt die Rückseite. Den feinen Rand an der Unterseite des Tellers mit geschickten Bewegungen säubernd, damit auch die kleinen Essensreste erwischt werden. Der saubere Teller kommt auf die vorbereitete Ablage. Während die linke Hand ihn platziert, bewegt sich die rechte bereits zum nächsten, noch dreckigen Teller, um ihn in das warme Seifenwasser zu legen.

Die Hände wussten, was sie taten, und er konnte seinen Blick von ihnen abwenden. Sie verrichteten die Arbeit auch ohne seine Aufmerksamkeit weiter. Er befand sich in einer Großküche. Die Armaturen waren aus Edelstahl, der Boden aus Fliesen. Er selbst stand vor dem großen Waschbecken. Links davon stand der riesige Geschirrspüler, in dem das Geschirr anschließend noch einmal gründlich gereinigt wurde. In diesen Prozess waren mehrere Menschen involviert. Er war Teil eines größeren Ganzen.

Eine attraktive Kellnerin brachte gerade weiteres benutztes Geschirr in die Küche. Mit flottem Blick, ihr Pferdeschwanz von einer zur anderen Seite schaukelnd, und großen blauen Augen. Ihre vollen Lippen fielen ihm sofort auf, wahrscheinlich nicht nur ihm. Hinter ihr sah er eine ältere Köchin. Weiße Haare, kein müder, sondern eher ein entspannter Blick auf einen riesigen Kochtopf, in dem sie frische Gemüsesuppe zubereitete. Auch sie war in ihrer Routine eingebettet, der Körper verrichtete ohne Anstrengung eine Bewegung nach der anderen. Jetzt streute er gerade noch Salz hinein, die Zunge schmeckte das Gericht ab, die Nase befand das Resultat bereits gelungen. Von außen hörte er den vollen Gästeraum. „Patrick, hol doch einmal die Gemüsekisten herein”, hörte er eine männliche Stimme hinter sich sagen. Offensichtlich hieß er Patrick, denn er spürte, wie sein Kopf nickte und er hinausging. Erst jetzt bemerkte er seine weiße Küchenkleidung. In der Früh war sie wohl noch frisch gewesen, jetzt klebten bereits Essensreste auf ihr. Farbenfroh, in unterschiedlichen Formen und Konsistenzen.

Er schien ein Küchengehilfe zu sein, Anfang 20, etwas träge, aber wohlwollend. Er fühlte sich entspannt. Oder eher phlegmatisch. Ambitionslos im guten Sinne. Während er unbekümmert die Kiste in die Hand nahm und durch den Hintereingang in die Küche kam, erinnerte er sich an den gestrigen Tag. Im dreiteiligen Anzug. Vor dem Spiegel stehend, knüpfte er sein Gelée zu. Er war schon einmal sportlicher gewesen. Jetzt sah er vor allem seinen Bauch und nicht mehr seine Füße, wenn er an sich hinunterblickte. Das Gelée passte aber perfekt. Maßgeschneiderte Anzüge waren eine Wohltat. In den letzten Jahren musste er sie allerdings öfter umschneidern lassen, so schnell veränderte sich sein Körper. „Viel Stoff haben wir nicht mehr, Herr Wudrov“, lächelte ihm der alte Schneider zu, während er Nadeln durch den Stoff stach. Entweder müsse er neue Anzüge kaufen oder seine Figur wieder in ihren früheren Zustand bringen. Aber er war Mitte 50 und mit jedem Jahrzehnt dehnte sich sein Körper weiter aus. Er wurde scheinbar resistent gegen Kalorienverbrauch, trotz langer Wanderungen. Seit er seine eigene Anwaltskanzlei hatte, war er einfach viel zu beschäftigt gewesen. Er musste selbst seine Mandanten finden, und die Angst, einmal keine mehr zu haben, trieb ihn dazu, immer zu viele zu haben. Besser, er entwickelte jetzt einen finanziellen Wohlstandsbauch, um einen Puffer für magere Zeiten zu haben. Ein letzter selbstbewusster Blick in den Spiegel, einmal tief durchatmen und eine halbe Stunde später stand er im Gericht. „Und diese Faktenlage lässt sich nicht ignorieren, Frau Richterin.", hallte seine selbstbewusste Stimme durch den Saal. „Wie Sie in diesen Dokumenten sehen, war das Patent meines Mandanten bereits seit Wochen vorbereitet und auch digital gespeichert."

Er erinnerte sich daran, wie erstaunt er über sein Fachwissen gewesen war, als er als Anwalt aufgewacht war. Alle Informationen waren direkt abrufbar. Geordnet, strukturiert und logisch verknüpft. Die Worte waren wie ein Reisebegleiter, der eine Sehenswürdigkeit nach der anderen vorstellte. „Und hier sehen Sie Information 54, die Information 23b unterstreicht." Es waren kognitive Bahnen im Gehirn, die sein Bewusstsein durchschritt. Er fühlte sich wohl in seinem Wamst, der ihm noch mehr Erdung ermöglichte. Seine tiefe Stimme resonierte im Körper und die Schallwellen breiteten sich durch den ganzen Raum aus. Er lud alle anwesenden Personen ein, mitzuschwingen, penetrierte ihre Gedanken und Gefühle, erschuf Welten, in denen sein Mandant vollständig im Recht war. Seine Hände unterstützten seinen Vortrag, bewegten imaginäre Argumente, als würde er gekonnt Tetris spielen und eine Reihe nach der anderen auflösen. Wie viele Punkte hatte er wohl schon erreicht? Und immer vorwärts denkend, nie zurück.

Im Gerichtssaal waren einige Gedanken bereits beim nächsten Mandanten, beim nächsten Vertrag, bei der nächsten Ausbaustufe seiner Kanzlei. Sie sollte jeden Tag weiterwachsen, größer, bekannter, klarer, nobler und professioneller werden. „Und deswegen beantragt mein Mandant das vollständige Eigentumsrecht der Patente, die er im Grunde auch schon immer hatte." Die Richterin nickte überzeugt und notierte sich etwas auf einem Block. Sein Mandant strahlte ihn an und klopfte ihm auf die Schulter, als er sich zu ihm setzte.

Er stellte die Gemüsekiste neben die alte Frau, die ihn dankbar anlächelte. Gemütlich ging er zurück zu dem Waschbecken, vor dem sich bereits das Geschirr stapelte. Kurz erhaschte er noch einen Blick auf den schönen Hintern der Kellnerin, die wieder zu den Gästen lief. Dann bewegten sich seine Hände wieder kreisförmig über die Teller. Er hatte keine Zukunftsvorstellungen und das aufgestapelte Geschirr stresste ihn auch nicht. Er arbeitete weder schnell noch langsam weiter. Das dreckige Geschirr musste einfach gereinigt werden. Da gab es nicht viel zu überlegen. Er sah sich schon am Abend vor dem Fernseher einschlafen.

Der Wind wehte durch ihre braunen Haare. Auf dem alten, klapprigen Fahrrad sauste sie durch die Straßen. Sie warf schnelle Blicke nach rechts und links. Der linke Arm hob sich, um den nachfolgenden Autofahrern ihren Weg anzuzeigen. Noch ein letzter Blick, dann bog sie ab und hielt dabei ihre Laptoptasche im Fahrradkorb fest. Die Uhr verriet ihr, dass sie noch sieben Minuten Zeit hatte. Es war ein völlig anderes Gefühl, in einem Frauenkörper zu sein, dachte er sich. Dachte sie sich. So viel leichter. Weniger Muskelkraft, aber viel schmiegsamer. Sie spürte ihre Hände am Lenker. Sie waren nicht so stark wie am Tag zuvor, als er noch die Teller gereinigt hatte. Es war ein feineres Gefühl. Ihre Finger versuchten nicht, das Fahrrad mit Kraft zu beherrschen und zu lenken, sondern es war eine Symbiose aus Material und Körper, die sich wie in einem leichten Tanz vereinten. Dennoch klapperte es bei jeder Unebenheit der Straße.

Als sie vor der Firma ankam, schwang sie sich elegant vom Fahrrad. „Wie leicht das geht, wenn man gut gedehnt ist“, dachte er sich. Dachte sie sich. „Guten Morgen!”, strahlte sie ihre Kollegen an. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus, ein wohliges Ankommen in ihrem Team. „Wir haben dir noch einen halben Muffin übergelassen, Sonja!“, hörte sie ihre Chefin rufen. „Vielen Dank!”, rief sie zurück, ging am Esstisch vorbei, stopfte sich den restlichen Muffin in den Mund und begrüßte ihre anderen Kollegen mit vollem Mund und dramatischen Gesten. Ihr war bewusst, dass sie ein Qwerky war – zumindest wurde sie so von allen genannt. Laptop auf, Kennwort eintragen, Muffin hinunterschlucken, mitten im Code und endlich am fast perfekten Algorithmus weiterschreiben. Und plötzlich gab es keine anderen Gedanken mehr. Das technische Kunstwerk lag vor ihr. Hier ein Befehl, dort eine Klammer, diese neue Variable noch einfügen, einen Verweis auf die Datenbank. Der Blick wanderte von einem Monitor zum anderen. Sie musste nicht einmal auf ihre Finger sehen. Sie war mit der Tastatur und der Maus verbunden, die Bildschirme hatten einen schwarzen Hintergrund mit weißer Schrift. Courier. Sie liebte diese Schriftart. Fein, grazil und schnell denkend. Sie hätte noch schneller arbeiten können, wenn ihr Körper es zugelassen hätte. Sie war körperlich trainiert durch die morgendlichen Yoga-Stunden, die sie schon seit vielen Jahren online praktizierte. Gesund und fit war sie durch die neue Bio-Energetic-Ernährung, die ihr täglich vor die Wohnung geliefert wurde.

Es war bereits eine Stunde vergangen, in der sie programmiert hatte, und sie spürte den Drang, etwas zu trinken. Erst jetzt kam das dahinterliegende Bewusstsein wieder hervor, das sich in diesem Leben zu orientieren versuchte. Ein völlig neues Leben, dachte er sich. Dachte sie sich. Als ob sie nie ein anderes Leben gehabt hätte, war alles so normal. Diese tiefe empathische Empfindung gegenüber anderen Menschen. Die lustigen Gedanken, die so verwirrend und lustvoll in ihrem Gehirn herumtanzten. Ständig auf der Suche nach kognitiver Nahrung. Und gleichzeitig die Fähigkeit zur völligen Fokussierung auf die Arbeit. Sie blickte in die eigene Spiegelung an der Glastür.

Eine hellblaue Bluse, frisch gebügelt. Ein schwarzer, knielanger, elastischer Rock, der ihre Figur betonte. Die gelbe Strumpfhose war genau das, was ihren quirkigen Look ausmachte, und wurde von weißen Sportschuhen umschlossen. „Female Techy“, dachte sie und strahlte. Sie fühlte sich so frei und voller Energie, während sie das fertige Erdbeersmoothie trank. Ihre Kollegen waren in ihren Bildschirmen versunken. Ein Großraumbüro, in dem jede Person vor zwei riesigen Monitoren saß. Es war ein eiliges Arbeiten. Fleißige Bienen, die summten und surrten, manchmal flog eine herein, sprach kurz, flog wieder hinaus, summte weiter. Ein Bienenschwarm in seinen Waben, angetrieben durch den Sog der Entwicklung von Software. „Bist du nach der Arbeit beim Lindy-Hop dabei? Wir werden die neuen Schritte von gestern wiederholen." Die Stimme kam vom jungen Kollege, der einige Reihen hinter ihr saß. Ein verspielter, unschuldiger Typ. Ein Mamas Liebling, mit dem es immer Spaß machte zu tanzen. Sie nickte kurz mit ihrem Erdbeer-Bart und ging zurück zu ihrem Platz. Es war ein schnelles, klares Leben. Ein wenig oberflächlich, aber schön. Sie tanzte noch bis in die späten Abendstunden.

Jetzt tat ihm alles weh. Er wollte vorerst gar nicht die Augen öffnen. Das erste, was er spürte, war das Brennen seiner Haut auf seinem Gesicht. Sie war stark gespannt, als ob sie sich zurückziehen wollte. Und dann kam ein Schmerzpunkt nach dem anderen in sein Bewusstsein. Er stöhnte schwer, als er den Stich in seiner Schulter spürte. Dann fühlte er den Druck in seinem Bauch, als hätte er Hunger wobei ihm aber gleichzeitig fürchterlich schlecht war. Und schließlich kam der stärkste Schmerz aus seinen Beinen. In Gips festgezurrt, ließen sie sich kaum bewegen. Doch selbst diese wenigen Millimeter der Bewegung durchzogen seinen Körper mit elektrischem Schmerz, der durch seine Nerven zuckte. Neben seinem Krankenhausbett hörte er das gleichmäßige Piepsen, das seinen Herzrhythmus anzeigte. Die Infusionen tropften gleichmäßig neben dem Bett hinunter. Eine Krankenschwester, die neben ihm stand, notierte etwas auf einem Block. „Guten Morgen, Herr Decker. Versuchen Sie, sich noch nicht zu bewegen, bis die Schmerzmittel vollständig wirken.", teilte sie ihm sanft mit. Ohne zu nicken, zwinkerte er zweimal mit den Augen. Er erinnerte sich, dass er so antworten sollte.

Es war ein schwerer Unfall. Das Auto überschlug sich mehrfach und stürzte schließlich in den Graben neben der Fahrbahn. Irgendwo brannte es auch. Es war eine unglaubliche Hitze. Von einem Moment auf den anderen fiel er in einen Schmerzkörper, ohne sich bewegen zu können. Es waren Ausschnitte von Erinnerungen. Die Sirenen im Hintergrund. Die blauen, blinkenden Lichter. Die Feuerwehrmänner, die mit schwerem Gerät sein Auto aufschnitten. Er schlief wieder ein. „Wie geht es Ihnen?”, hörte er die Ärztin bei der Visite fragen. „Zwinkern Sie bitte zweimal mit den Augen, wenn sie mich hören können." Er zwinkerte zweimal „Ich weiß, dass Sie Schmerzen haben. Aber Sie hatten tatsächlich Glück, dass Sie überlebt haben." Plötzlich erinnerte er sich, dass er mit seiner Frau im Auto saß. Erschrocken blickte er auf und bewegte seine Augen links und rechts, um etwas zu sehen. Panik übermannte ihn. Er blickte die Ärztin flehend an. Sie blickte zu Boden. „Es tut mir sehr leid. Sie hat leider nicht überlebt.“ Sein Bauch verkrampfte sich qualvoll. Tränen schossen ihm in die Augen. Er schluchzte. Sein Körper schüttelte sich, und der körperliche Schmerz verband sich mit dem tiefen seelischen Schmerz. Seine Lippen wisperten ein „Nein, nein”. „Wir haben alles versucht, aber sie ist noch am Unfallort gestorben.“ Er fiel in ein tiefes schwarzes Loch. Umhüllt von Wehmut. Schluchzen.

Er wollte aufschreien. Aufstehen. Brüllen. Zumindest sein Gesicht vor seine Hände halten. Sich auf den Bauch drehen. Sich klein machen. Verstecken. Untergehen. Davonlaufen. Gegen die Decke schlagen. Doch er konnte nur daliegen. Bewegungsunfähig.

Heiße Tränen flossen über seine Wangen. „Nein, nein, nein!”, schrie er in seinem Kopf. Völlige Ohnmacht. Verzweiflung. Und plötzlich kamen die Bilder wieder. Er sah sich wieder, wie er im Auto saß und zu dem Lied im Radio mitsummte. Seine Frau lächelte ihm zu und nickte rhythmisch mit dem Kopf. Dann kam dieser schreckliche laute Knall aus dem Nichts. Ihr angstverzerrtes Gesicht, das vom entspannten Nicken zu einem angsterfüllten Schrei wechselte. Instinktiv krallte er die linke Hand am Lenkrad fest und umfasste mit der rechten den Oberarm seiner Frau, um sie zu beschützen. Dann drehte sich alles. Die Körper wurden wie Marionettenfiguren durchgeschüttelt, die Airbags versuchten sie noch zu stützen. Und dann war auf einmal alles ganz still. Nur ein lauter Ton im Ohr. Er sah noch kurz ihren leblosen Körper neben sich. Er konnte sich aber nicht bewegen. „Nein!", versuchte er zu schreien, gurgelte aber nur unverständlich. Die Ärztin drehte an der Infusion. „Sie werden jetzt wieder einschlafen. Ihr Körper braucht Ruhe.“ Er wollte aber nicht einschlafen. Er wollte sie sehen. Noch einmal. Nur noch einmal. Doch dann übermannte ihn die Müdigkeit. Tiefe, schwarze Leere.

Sie strich ihrem Enkel zärtlich über den Kopf. Er bekam bereits kleine Locken, genau wie sein Vater. Mit seinem Kopf auf ihrer Schoß betrachtete er das spielende Kaminfeuer, das vor ihnen brannte. Sie spürte die wohlige Wärme, die das Holz noch vor seinem Abschied spendete. Es war eine kleine Holzhütte, gemütlich eingerichtet, idyllisch und heimelig. Ein schönes Zuhause, in dem man sich geborgen fühlen konnte. Der Körper fühlte sich weich an. Sie hatte keine Muskelkraft mehr und war auch nicht mehr für akrobatische Bewegungen bestimmt. Die Haut legte sich gemütlich auf die eigenen Arme und bot dem Körper genug Platz, um nicht zu spannen. Manchmal schaukelten die größeren Falten unter dem Kinn hin und her. Vor den Augen befand sich eine große, dicke Brille, um die Umgebung noch scharf sehen zu können. Aber die Welt wurde langsamer wahrgenommen. Ruhiger, entspannter. Es gab keine großen Ziele mehr, die sie erreichen wollte. Es gab für sie nichts mehr zu konsumieren oder zu erreichen. Stattdessen strahlte ihr Herz wie ein kleines Kaminfeuer aus ihrem Körper heraus. Es war ein völlig neues Gefühl, in diesem Körper zu leben. Weniger materiell, mehr fühlend.

Sie spürte, dass es auch ihr Enkel spürte. Durch seinen zur Seite gelegten Kopf sah er das Feuer gedreht. Es war, als ob es von links nach rechts brannte, statt von unten nach oben zu lodern. Er wusste, dass er bald schlafen gehen müsste. Doch noch wollte er wach bleiben. Noch ein bisschen, bevor er diesen Tag abschließen würde. „Oma, ich möchte noch nicht schlafen gehen”, sagte er verträumt, ohne den Kopf zu heben. „Warum denn nicht?“, fragte sie ihn sanft, während sie ihn weiter streichelte. „Wenn ich einschlafe, wache ich vielleicht nicht mehr auf“, sinnierte er. Die kleinen Flammen des Feuers tanzten weiter vor ihnen. „Und was wäre dann?“, fragte sie ihn in ruhigem Ton. Er überlegte. Er hatte eine andere Frage erwartet. Er runzelte die Stirn und begann nachzudenken.

„Was ist, wenn ich dann nicht mehr da bin?”, formulierte er seine erforschende Frage. Sie wurde von einigen Sekunden Stille gewärmt. „Ja, was wäre dann?”, leitete sie ihn in seinen Gedanken weiter. Und er begann, schlaftrunken, mit halb geöffneten Augen, seine kleine Reise. „Dann wäre ich ja nicht mehr da ... aber irgendwo muss ich ja sein... Aber wenn ich schlafe, bin ich ja auch irgendwo anders. Ich kann laufen ... auch wenn ich eigentlich im Bett liege und schlafe..." Er wackelte unbewusst mit seinen kleinen Füßen, als würde er in der Luft laufen. "Manchmal bin ich auch jemand anderes im Traum... Einmal war ich ein Feuerwehrmann... Wäre ich wirklich ein Feuerwehrmann, wenn ich aufwachen würde? Das wäre toll... dann würde ich Feuer löschen." Seine Augen fokussierten auf das Kaminfeuer. Er blickte angriffslustig, bereit es zu löschen und Menschen zu retten. Dann entspannte sich sein Gesicht wieder und er setzte seine innere Reise fort. "Vielleicht bin ich wirklich ein Feuerwehrmann. Und ich träume gerade, dass ich noch ein Kind bin... Oder vielleicht bin ich ja du, Oma? Und ich stelle mir nur vor, dass ich ich bin. Das wäre auch lustig..." Er schaute von unten hinauf in ihr Gesicht. Von hier aus wirkten die Falten noch größer und ihr Lächeln erinnerte ihn an eine große Schildkröte. "Am liebsten würde ich mir jeden Tag aussuchen können, wer ich bin... immer jemand anderes... Vielleicht wäre ich dann morgen ja einmal du, Oma... oder auch Opa... wo der wohl gerade ist ..." Nach einiger Zeit verstand sie nicht mehr, was er murmelte. Seine Augen wurden kleiner, sein Körper entspannte sich mit den letzten Zuckungen. Sie strich ihm weiter über die Haare. Das Holz brannte ruhig weiter und umarmte sie mit seiner Wärme. „Gute Nacht“, flüstere sie ihm leise ins Ohr. „Ich hab' dich lieb. Und ich bin schon gespannt, wer du morgen sein wirst.“

 

Perspektive

Dieser Text erforscht die Natur des Bewusstseins und die Durchlässigkeit dessen, was wir Identität nennen. Ein wanderndes Bewusstsein durchlebt fünf radikal unterschiedliche Existenzen und erwacht jeweils in einem neuen Körper mit vollständigen Erinnerungen und vertrauten Bewegungsabläufen. Der Küchengehilfe Patrick bewegt seine Hände routiniert über die Teller. Der Anwalt Wudrov durchschreitet kognitive Bahnen wie Sehenswürdigkeiten, seine tiefe Stimme resoniert durch den Gerichtssaal. Die Programmiererin Sonja verschmilzt mit Tastatur und Bildschirm zu einem technischen Tanz. Das Unfallopfer Herr Decker liegt bewegungsunfähig in seinem Schmerzkörper und ist gefangen zwischen physischem und seelischem Leiden. Die Großmutter schließlich strahlt wie ein kleines Kaminfeuer aus ihrem weichen Körper heraus. Jede dieser Parallelwelten repräsentiert eine andere Facette menschlicher Erfahrung.

Die Übergänge zwischen den Identitäten bilden die eigentliche Substanz der Geschichte. Das wiederholte Muster von „Dachte er sich. Dachte sie sich“ sind kleine Erwachensmomente, in denen sich das dahinterliegende Bewusstsein erst orientieren muss. Die Unfallszene fungiert als radikale Schwelle. In der absoluten Ohnmacht zerbricht jede Kontrolle; das tiefe schwarze Loch ist gleichzeitig Tod und Übergang. Danach erwacht das Bewusstsein in der Großmutter, in einem Körper, der dem Ende nahe ist und paradoxerweise am lebendigsten wirkt.

Die Essenz liegt in der Befreiung von der Tyrannei des festen Selbst. Der Enkel am Kaminfeuer formuliert mit kindlicher Weisheit, was die gesamte Erzählung durchzieht. Vielleicht ist er wirklich Feuerwehrmann und träumt, dass er noch ein Kind ist. Am liebsten würde er sich jeden Tag aussuchen können, wer er ist. Die Großmutter hat aufgehört, sich mit ihren Rollen zu identifizieren, und ist reine liebende Präsenz geworden. Ihre abschließenden Worte sind die eigentliche Botschaft. „Ich bin schon gespannt, wer du morgen sein wirst.” Das Bewusstsein ist frei, ewig wandelnd und nicht an eine einzige Form gebunden. Der Tod ist nur ein weiterer Übergang zwischen den Parallelwelten des Seins.

 
 
 

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