Memento Mori
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 9 Min. Lesezeit
(Musik: If today was your last day, Nickelback)
„If today was your last day", hörte er das Lied im Hintergrund spielen. Er summte leise mit, ohne noch bewusst auf den Text zu achten. „And tomorrow was too late." Er zeichnete ein Gesicht. Mit dem Bleistift schattierte er gerade die Augen einer geheimnisvollen Frau, die ihn direkt ansah. Allein in der Wohnung sitzend, mit einigen Kerzen im Hintergrund, die flackernde Schatten an die Wand warfen. Die leicht verwelkten Blumen, die er vor einigen Tagen gekauft hatte, tänzelten als Schattenwesen im Rhythmus der Musik. Schnell, ohne Taktgefühl, irritierend. Ein nervöses, schwarzes Wackeln. Wie die Bewegungen von Spinnen, die er immer gruselig fand. Die menschlichen Hirne können diese Bewegungen nicht einfach verarbeiten. Die Spinnenbeine bewegen sich, schnell, für uns unkoordiniert. Sie wirken nicht ästhetisch, sondern hektisch, angsterzeugend. Wie in einem der Gruselfilme, in denen ein verstorbenes Mädchen mit schwarzen Haaren und bleichem Gesicht plötzlich aus einem Brunnen krabbelt, spinnenartig, das Gesicht nicht zu erkennen. Es sind diese schwarzen, dunklen Abgründe, die ihm Angst einjagten. Vor einigen Wochen musste er den Abfluss seines Waschbeckens säubern. Dunkler, vergorener, schwarzer Schlamm hatte sich im Rohr gesammelt und ließ das frische Wasser nicht mehr fließen. Es staute sich im Waschbecken und hinterließ einen üblen Geruch von Vergangenem. Er schraubte das Rohr, das sonst gut versteckt war, auseinander und dann zog er diesen schwarzen Schlamm, der aus Haaren und Essensrückständen bestand, heraus. Es ekelte ihn. Irgendwann musste er seine Finger noch weiter hineinstecken, um auch den Rest zu ergreifen. Und da entstand diese Ungewissheit, was er wohl ertasten würde, was noch herauskommen würde. Wie aus dem Brunnen, aus dem plötzlich die Untote kam und der Deckel schnell verschlossen werden musste. Die Spinne, die mit ihren schnellen Beinen aus dem schwarzen Loch springen könnte. Würde sie auf sein Gesicht springen? Würde er vor Schreck schreien? Wäre sie giftig?
Er zeichnete ruhig weiter. Es waren nur Schatten, die er kaum wahrnahm. „Every second counts.“ Das Lied wiederholte sich immer wieder. Vielleicht hatte er unbeabsichtigt eine Endlosschleife eingestellt. Immer dasselbe Lied. „Leave your fears behind.“ Er blickte auf seine Zeichnung. Sie sah ihn an. „Leave old pictures in the past.“ Irgendetwas geschah. Er spürte, wie ein tieferer Gedanke langsam in ihm aufstieg. Sollte er schnell den Brunnendeckel schließen? Er legte die unfertige Zeichnung der Frau auf den Tisch. Er sah auf. Er befand sich in seiner kleinen Wohnung. Sie war gemütlich. Eine schöne Komfortzone. An den Wänden hingen seine Zeichnungen. Sie waren alle schwarz-weiß. Mit Bleistift gezeichnet. Ein Leuchtturm vor einem stürmischen Meer, dessen Gischt bis hinauf zur Lampe getragen wurde. Ein großer Gorilla, den man von hinten sah. Sein rieseiger Rücken war übersät von dichten, starken Haaren. Er drehte gerade seinen mächtigen Schädel herum und blickte den Betrachter des Bildes an. Eine Seerose, die im Schlamm am Grund verwurzelt war und auf die Wasseroberfläche wuchs, um in der Sonne zu strahlen. „Every second counts, because there's no second try.“ Er ging zu der Seerose. Wie stark sie war, um bis an die Oberfläche des Wassers zu wachsen. Er ging noch näher zu ihr. Wie schön sie sein musste. Wie farbenfroh. Aber er zeichnete nie in Farben.
Irgendwie bemerkte er erst jetzt, wie monochrom sein Leben war. Er blickte sich um. Schwarze Ledermöbel. Eine schwarz-weiße Uhr zeigte seine Zeit an. „Every second counts.“ Er ging näher zu ihr. Er spürte, wie seine Zeit verging. Die Schatten der verwelkten Blumen tanzten weiter ihren Todestanz und verhöhnten ihn dabei. Sie lachten ihn aus. Selbst in ihrem Schatten steckte mehr Leben als in ihm. Sein eigener Schatten bewegte sich nicht. Er betrachtete seinen großen Schattenkörper, der auf die Schattenblumen starrte. „Schau uns an!”, schrien sie ihn mit bissigem Gelächter an. Sie zeigten, wie gut sie tanzten. Schnell und vibrierend. Sie wussten, heute war der Día de los Muertos. Er sah Farben in den Schattenwesen, dunkel leuchtende Farben. Ihr Schwarz war getränkt mit früherem Leben. „Und was machst du?“, lachten sie ihn aus. „Du sitzt nur in deinem alten Studierzimmer.“ Eine der Schattenblumen begann mit der anderen zu scherzen. „Der zeichnende Faustus“, lachten sie ihn aus. „In seinem verstaubten Kämmerchen malt er sich die schöne Frau aus, die er niemals treffen wird. Wahrscheinlich wird er sie sogar Gretchen nennen.“ Sie lachten schrill. Gruselig. Er starrte auf den Gorilla, der resigniert seinen Schädel von ihm abwandte. Nicht einmal er wollte ihn noch ansehen. Er spürte, wie der Boden unter ihm nachgab.
Er blickte aus dem Fenster. Es war dunkel. Nur die Gischt zischte daran vorbei. Eine Welle nach der anderen schlug unter ihm ein und spritzte das salzige Wasser an das Fenster. „If today was your last day.“ Es war dieser Abend, der ihn aus seinem eigenen Zimmer katapultierte. Er brauchte keinen Pudel, um die Welt zu erleben. „Every second counts ... if today was your last day ... and tomorrow was too late?" Sein letzter Tag sollte nicht als Film noir enden, in dem selbst die Schatten seiner verwelkten Blume mehr Leben spürten als er selbst.
Kurze Zeit später tanzte er in einem Club. Es war laut, schrill und schnell. Stroboskopische Effekte. Die Drogen, die durch seinen Körper flossen, ließen ihn tanzen, schreien, springen. Menschen, die er nicht kannte, tanzten um ihn herum. Er wollte endlich leben.
Irgendwo sah er die Augen einer schönen jungen Frau, die ihn direkt ansah. „Gretchen?”, fragte er noch in den Lärm hinein, bevor er mit ihr tanzte, sie küsste, die Nacht bei ihr verbrachte. „Every second counts." Er fuhr auf seinem Fahrrad durch die Stadt, erlebte sie, jauchzte vor Freude. Er wollte endlich wieder Freude spüren. Wie in einem Film. Die Hände in die Luft haltend, schrie er laut durch die Nacht.
Irgendwann saß er im Flugzeug und betrachtete die Wolken unter sich. Es flog ihn in neue Länder. Der exotische Geruch, als er ausstieg, machte ihm deutlich, dass er in einer anderen Welt gelandet war. Und diese schwüle Hitze – er schloss die Augen und genoss die Sonnenstrahlen auf seiner Haut. In einem Taxi durch den Dschungel fahrend, singend, mit anderen Reisenden. Ohne Ziel und ohne Halt, hinein ins Leben.
Er tanzte unter den Sternen. Er spürte Traurigkeit, weinte, umarmte sie und fuhr weiter. Ein weiteres neues Land, eine neue Kultur. Das Essen war ihm unbekannt. Er erfuhr, dass es von der Farm selbst angebaut und geerntet wurde. „Wunderschön“, dachte er sich, während er über die weiten Landschaften und Berge blickte. Er fühlte sich stark. Kraftvoll. Er tanzte durch sein Leben. Es platschte laut, als er vom Boot ins Meer sprang. Mitten hinein in das Wasser, das Leben auf diesem Planeten erst ermöglicht. Delphine schwammen an ihm vorbei. Sie waren so viel schöner und ästhetischer als die schwarzen Spinnen. Sie zwinkerten ihm zu und schwammen weiter. Ein Schamane mit dunklen Augen blickte ihn an. „Bist du bereit?”, hörte er ihn fragen, bevor sein Bewusstsein aufgab und er in psychedelische Träume versank und tief in seinem eigenen Ozean schwamm. Er spürte eine lange Umarmung von einem seiner Brüder. Es war ein starker Mann, der ihm freundschaftlich zunickte. Er blickte um sich. Eine Wüste mit Lichtern und Musik. Sein Körper tanzte weiter. Er fühlte sich verbunden, ohne zu verstehen, was geschah. „Die Schatten werden mich nicht mehr auslachen”, hörte er seinen Geist sagen. Und er tanzte, farbenfroh und die Schatten verhöhnend. Stille in einem Tempel. Nur die Saiten einer Gitarre bewegten sich und berührten mit ihrer Musik die Menschen um ihn herum. Sie trauerten. Und dann wurde alles verbrannt. Er sah das Feuer, das sich von allem verabschiedete. Der schwarze Rauch winkte ihm zu. War er wieder in einem Bus, an dem die Landschaft vorbeizog? War er wieder in einem Flugzeug, das ihn über die weißen Wolken zurückbrachte? Zurück nach Hause?
Als er diesmal die Luft durch die Nase einsog, war es kein neuer Geruch mehr. Es war der bekannte Geruch seiner Heimat. Wie früher. Aber kühler und frischer als in seiner Erinnerung. Er ging routiniert die ihm bekannten Wege. In den Zug nach Hause. Es war bereits Nacht geworden. Der Schlüssel drehte sich in der Holztür, die sich quietschend öffnete. Er schaltete das Licht an und war wieder zu Hause. Wie lange war er wohl weg gewesen? War es ein ganzes Jahr gewesen?
Er schloss die Tür zur Außenwelt und setzte sich auf seinen Holzstuhl. Er atmete tief ein und aus. Die Zeichnung lag noch immer auf dem Tisch. Die Frau, die ihn mit ihren schönen Augen anblickte. Von den Blumen war nicht mehr viel übrig. Verdorrte Reste lagen müde über der Vase. Sie war schon lange gegangen. „Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor“, flüsterten seine Gedanken ihm zu.
So viel hatte er erlebt. So viel entdeckt. So viel gefühlt und erfahren. Er könnte Bücher darüber schreiben. Und doch war alles wieder vergangen. Es waren Augenblicke. Sie sollten nicht verweilen, auch wenn sie noch so schön gewesen waren. Er drehte die Musik auf. Es öffnete sich dasselbe Lied wie damals. „Would you live each moment like your last?" Eine Sekunde war er perplex. Dann lachte er laut auf. Es war das erste Mal, dass er wirklich lachte. Dass er lachte. Nicht aus Vergnügen oder Ekstase, sondern aus tiefer Verbundenheit. Das letzte Jahr hatte er tatsächlich jeden Tag erlebt, als wäre es der letzte gewesen. Und erst jetzt spürte er die tiefe Erschöpfung. Er erfühlte diesen starken Drang, sein Leben wirklich zu leben. Den Stress, noch das eine und das andere zu erleben. Den inneren Hunger, alles zu erleben, was er noch nicht erlebt hatte.
Plötzlich weinte er. Sein ganzer Körper schüttelte sich. Tränen flossen auf seine unvollendete Zeichnung. Zum ersten Mal ließ er alle seine Existenzängste aus seinem Körper fließen. Während er sein Leben leidenschaftlich spüren wollte, lief er an sich selbst vorbei. Wollte er nicht eigentlich einfach leben?
Mit verweinten Augen blickte er auf und ging zu seiner Kerze. Er zündete sie mit einem zischenden Streichholz an. Sie warf wieder Schatten an seine Wände, die sich zu bewegen schienen. Doch der Schatten der Blume tanzte nicht mehr. „Das warst du, Mephisto”, dachte er sich. „Das war also der Blumens Kern", sagte er leise in den Raum und lächelte. Die Angst vor dem Tod trieb ihn in ein vorgestelltes Leben. In ein erdachtes Leben, das sich gegen den Tod aufbäumte. Als ob man einen Lebensrucksack packen müsste, um den Tod irgendwann akzeptieren zu können. „Wann hat man denn schon genug gelebt", fragte er sich leise. „Solange der Drang zum Leben aus der Angst vor dem Tod entsteht, bleibt man im Todestanz gefangen", hörte er sich sagen. Es war genau dieser Moment, in dem er den Tod akzeptierte.
„If today was your last day“, ertönte es aus den lauten Sprechern. Aber er spürte keine Angst mehr vor dem Dunkeln. Er fürchtete sich nicht mehr vor den vorgestellten Spinnen, Untoten oder den Schatten seiner selbst. Sie waren Teil eines Ganzen. Er nahm die verstorbene Blume in die Hand, legte sie neben seine Skizze und zeichnete weiter. In völliger Ruhe entstand ein Strich nach dem anderen. Er beobachtete, wie die Frau entstand. Sie sah ihn an. Sie lächelte wie Mona Lisa. Ruhig. Eine Wüstenfrau. Sie hatte auf ihn gewartet. Sie war sein Gretchen, ohne dass er sie erkannt hatte. Die Angst, sein Leben zu versäumen, ließ ihn wandern. Doch jetzt war er hier. Hier, mit ihr. Sie lächelte ihn an. Er lächelte sie an. Nachdem er die Zeichnung beendet hatte, schrieb er noch einen letzten Satz auf das Bild. Dann küsste er sie leise auf den Mund und schlief ein. Er wachte nicht mehr auf. Es war sein letzter Tag.
Als ihn die Nachbarn einige Tage später entdeckten, lief im Hintergrund noch die Musik. „Would you find that one you′re dreaming of." Es war früh am Morgen, die Sonne schien durch sein Zimmer. Sie schalteten die Musik aus. Das ganze Zimmer wirkte friedvoll. Sie klopften ihm auf die Schulter, weil er so lebendig aussah. Doch er bewegte sich nicht mehr. Er schien zu lächeln. Als ob er der gezeichneten Frau zulächeln würde. Seine Beerdigung war ruhig und stimmungsvoll. Vollendet, wie sein letztes Bild, das auf sein Grab gelegt wurde. Es war die Idee der Blumenverkäuferin, die ihn gut kannte. Sie hatte recht behalten. Das Bild war einfach passend. Als sie an der Reihe war, das Schäufelchen mit Erde auf seinen Sarg zu werfen, blickte sie noch einmal auf das Bild. Es zeigte eine wunderschön gezeichnete Frau, die lächelte. Und darunter stand geschrieben: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!”
Perspektive
Die Geschichte handelt von einem Menschen, der in seinem monochromen Kämmerchen sitzt und vom Leben träumt, statt es zu ergreifen. Seine Zeichnungen sind Symbole ungelebter Sehnsüchte. Das Dunkle, das ihn verfolgt, verkörpert nicht nur Todesangst, sondern auch die verdrängte Substanz seines eigenen, ungelebten Potenzials, das sich angestaut hat und nicht mehr fließen kann. Wenn die verwelkten Blumen zu tanzen beginnen, werden sie zu Boten aus dem Unbewussten. Sie verhöhnen ihn, denn selbst im Verwelken pulsiert mehr authentische Lebendigkeit als in seiner statischen Existenz. Sie haben gelebt, während er nicht einmal wirklich angefangen hat. Ihre Stimmen reißen ihn aus seiner Erstarrung.
Was folgt, ist eine verzweifelte Jagd nach Erfahrungen, getrieben von derselben Todesangst, vor der er ursprünglich floh. Der Satz „Every second counts” wird vom Motivator zum Peiniger, während er Erlebnisse wie Versicherungspolicen gegen die Sterblichkeit sammelt. Seine leidenschaftliche Suche nach Leben war selbst eine Form des Todes, denn er rannte so schnell, dass er sich selbst nie begegnete. Die Erschöpfung nach seiner Rückkehr offenbart die Unmöglichkeit dieses Unterfangens: Wann hat man schon genug gelebt? Der Lebensrucksack, den er packt, wird zur Last. Die Frage bleibt unbeantwortet, solange der Drang zum Leben aus der Angst vor dem Tod entsteht.
Der Wendepunkt geschieht in der Stille, als er erkennt, dass Mephisto, der Versucher und Verneiner, in der Angst selbst steckte. Erst als er den Tod akzeptiert, kann er wirklich leben. Die Frau auf dem Papier ist keine Projektion mehr, sondern ein Gegenüber, mit dem er in Beziehung tritt: die Anima, die weibliche Seele. Er kann sie endlich empfangen, weil er aufgehört hat zu fliehen. Sein Tod unmittelbar nach dieser Vollendung ist kein Scheitern, sondern die logische Konsequenz seiner Ankunft. Er stirbt lächelnd, weil er angekommen ist – nicht nach außergewöhnlichen Erlebnissen, sondern bei sich selbst. Das Goethe-Zitat „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!” spricht von der Erlaubnis, einfach da zu sein, ohne die Todesangst, die ihn zuvor trieb.
Echtes Leben entsteht nicht durch die Akkumulation von Erfahrungen, sondern durch die Annahme der eigenen Endlichkeit. Das Memento mori führt nicht zu einer verzweifelten Jagd, sondern zu einer achtsamen Gegenwart. Der Protagonist stirbt in dem Moment, in dem er wirklich bereit ist zu leben, und offenbart damit ein erschütterndes Paradox: Vielleicht war dieses bewusste Sterben das eigentliche Leben.

Kommentare