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Halbmarathon

Sie fühlt sich, als könnte sie einen Halbmarathon laufen. In letzter Zeit ist sie oft joggen gewesen und fühlt sich stark genug, um ihn zu bewältigen. Sie sieht sich schon den ganzen Weg laufen, dabei schwitzen, angefeuert werden, ins Ziel kommen und stolz auf sich sein, weil sie es geschafft hat. Der Startschuss knallt über die Menge, die sich träge, aber motiviert bewegt. Schnell kommt sie in ihren Rhythmus und stellt sich bereits vor durch das Ziel zu laufen. Nach kurzer Zeit sieht sie aber auf der Seite einen Wasserstand. Sie spürt, dass sie Wasser braucht, und empfindet den Drang, das kühle Nass in ihren Körper fließen zu lassen. Allein die Aussicht darauf bringt ihr Erholung, und als sie die ersten Schlucke getan hat, durchströmt sie eine bestätigende Kühle. Doch die Sonne sticht zu stark auf ihren Körper. Ihre Augen blinzeln und sie kann ihre Umgebung nicht mehr genau erkennen. Nur der Schatten eines Baums wirkt deutlich, und sie merkt, dass ihr Körper den kühlen Schatten ansteuert.

Schon die ersten Schritte bestätigen ihr, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Dort angekommen, erlebt sie den wohlwollenden Einfluss dieser mächtigen Pflanze. Innerlich bedankt sie sich bei dem Baum dafür, dass er sie vor der Sonne beschützt und so viel Schatten spendet. So viel, dass sie bereits eine Gänsehaut auf den Armen bekommt. Der Wind ist stärker geworden und trägt die Wärme ihres Körpers sanft von ihr weg. Sie beginnt zu frieren. Zuerst auf den Unterarmen, dann auf den Oberarmen. Als die Kühle schließlich ihren Nacken erreicht, entschließt sie sich, etwas dagegen zu tun. In einer kleinen Boutique hinter ihr lächelt sie ein Pullover an. Er scheint dünn und weich zu sein und sie fühlt bereits das angenehme Material auf ihrer Haut.

Im Geschäft angekommen, erblickt sie einen jungen Mann, der sie interessiert ansieht. Sie erwidert den Blick, lächelt, und fühlt ihre innere Erregung aufflammen. Es werden nicht viele Worte gewechselt, bis sie sich in einer der Umkleiden vereinigen. Schnell, wild, leidenschaftlich, mit einem Kuss auf seine Wange verabschiedet sie sich von ihm, ohne den Pullover gekauft zu haben. Sie setzt sich auf eine Parkbank, verschnauft noch mit pochendem Herzen, als eine Ameise ihre Hand kitzelt. Fasziniert betrachtet sie die Ameise, während diese sich auf ihrer Hand bewegt. Dann lässt sie die Ameise auf der Parkbank weiterkrabbeln und geht zur nächsten Straßenbahn. Als diese ankommt, dreht sie sich weg, weil sie eine Eisdiele entdeckt hat, die sie magisch anzieht. Allein die Vorstellung von dem kühlen Eis auf ihrer Zunge lässt sie erschaudern, und nur wenige Augenblicke später spürt sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat.

Die Straßenbahn bringt sie nach Hause. Sie öffnet die Haustür, zieht die Schuhe aus und geht duschen. Mit nassen Haaren geht sie in die Küche, ohne zu bemerken, dass ihr Mann bereits am Tisch sitzt. Sie erwidert seinen Gruß abwesend und hört den nächsten Podcast. Halb hier, halb da und eigentlich nirgendwo. Während sie eine Avocado aufschneidet, spürt sie das Verlangen, noch etwas zu trinken. Ein Orangensaftglas später liegt sie auf der Couch, vertieft in den Podcast, und scrollt durch ihre Nachrichten am Handy. Die Avocado auf dem Tisch blickt die geöffnete Orangensaftpackung an. Die Frage ihres Mannes, wie es ihr geht, nimmt sie nur in der Ferne wahr. Sie schickt noch zwei Smileys an ihre Begegnung in der Boutique, lächelt ihren Mann an und meint, dass es ihr gut gehe. „Es war schön, wieder laufen zu gehen“, sagt sie nachdenklich vor sich hin, bereits abwesend. Sie stellt sich vor, wie sie den ganzen Weg lief, schwitzte, angefeuert wurde, ins Ziel kam und stolz auf sich war, es geschafft zu haben. Sie fühlt diesen Stolz, so weit gelaufen zu sein. In ihrer Vorstellung ist sie halb gelaufen und halb nicht. Ein Halbmarathon. Zufrieden schläft sie ein.

 

Perspektive

Diese Geschichte erzählt nicht von einem Lauf, sondern von einem Leben, das keinen Lauf mehr hat. Die Protagonistin hat eine klare Intention, sieht sich bereits im Ziel und spürt den Stolz bereits jetzt. Doch schon nach wenigen Metern beginnt die Auflösung. Ein Bedürfnis nach Wasser. Völlig legitim. Der erste Schritt vom Weg. Was folgt, ist eine Kette von Ablenkungen, die sich als Bedürfnisse tarnen. Zu viel Sonne, zu viel Schatten, ein Pullover, ein Mann, eine Ameise, ein Eis. Jeder Moment überschreibt den vorherigen, jedes neue Verlangen löscht das alte aus. Sie kauft nicht einmal den Pullover, wegen dem sie ins Geschäft ging. Ihr Verhalten ist vollständig reaktiv, getrieben von dem, was gerade die stärkste emotionale oder sensorische Ladung hat

Die Tragik dabei ist, dass sie gar nicht bemerkt, was geschieht. Sie kommt nach Hause, als wäre sie tatsächlich gelaufen. In ihrer inneren Wahrnehmung ist sie den Halbmarathon gelaufen. Die Intention am Anfang und die Erschöpfung am Ende existieren. Nur der Weg dazwischen fehlt. Die Wortbedeutung verschiebt sich. Es geht nicht mehr um die Hälfte einer Strecke, sondern um die Hälfte einer Realität. Die Protagonistin lebt in isolierten Momenten, ohne inneren Kompass. Sie reagiert auf jeden Reiz, jeden Impuls. Sie ist getrieben, jedoch nicht von ihrem eigenen Willen, sondern von ihrer Umgebung, die ständig an ihr zerrt.

Die Szene am Ende offenbart alles. Sie scrollt durch ihr Handy, hört einen Podcast, ist "halb hier, halb da und eigentlich nirgendwo". Sie lebt in einem Zustand permanenter Dissoziation, in dem die Grenze zwischen Intention, Handlung und Imagination vollständig verwischt ist. Ihr Verhalten folgt einem zwanghaften Muster der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung. Die Avocado und der Orangensaft bleiben unberührt, vergessene Überreste halbvollendeter Handlungen. Sie hat vergessen, dass zwischen Intention und Zufriedenheit ein Weg liegt. Sie lebt in einer simulierten Realität, in der Bilder und Gefühle die Erfahrung ersetzen. Sie denkt sich ans Ziel, anstatt zu laufen und verwechselt damit Vorstellung und Wirklichkeit. Das ist keine bewusste Täuschung, sie glaubt wirklich, gelaufen zu sein.

Die letzte Zeile ist von bitterer Ironie durchzogen. Sie schläft zufrieden ein. In ihrer inneren Welt hat sie es geschafft. Aber in der äußeren Welt ist nichts geschehen. Sie hat das Leben nicht gelebt. Es ist nur die Simulation des Lebens, die Vorstellung davon, das Gefühl danach. Ein Halbmarathon. Halb passiert, halb nicht. Und in dieser Halbheit verliert sich alles.

 
 
 

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