Goliath gegen David
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 8 Min. Lesezeit
Es war ein Akt der Zärtlichkeit, als er der Fliege ein Bein ausriss. Neben der kleinen Fliege wirkten Davids Finger riesig, obwohl er noch ein Kind war. Den ganzen Tag jagte er ihr nach, weil sie ihn die ganze Nacht über nicht hatte schlafen lassen. Das erste Mal erwachte er mitten aus einem Traum. Es ging darum, wer der Anführer der Buben-Gang war. In Wirklichkeit war er der Chef und passte sehr genau darauf auf, dass niemand seinen Status untergräbt. Doch im Traum war es anders. Roland, der Außenseiter, forderte ihn heraus. „Du willst gegen mich kämpfen?“, lachte David ihm laut ins Gesicht, sodass seine Freunde hinter ihm ihn auch gut hören konnten. Ohne Vorwarnung wollte er ihm auf die Nase schlagen, doch er verfehlte ihn. So sehr er es auch versuchte, sein Gegner wich ihm ständig gekonnt aus. Die Menge um sie herum wurde leiser und einige Mädchen begannen zu kichern. Als er sich unsicher umsah, zog Roland ihm die Hose herunter. Jetzt begannen sogar seine Freunde zu lachen. Er wollte davonlaufen, doch durch die heruntergezogene Hose fiel er hart auf den Boden – und erwachte endlich aus seinem Alptraum.
Während seines Traums hatte er tatsächlich mit seiner Decke gekämpft, war noch halb im Traum vom Bett gefallen und knallte mit dem Gesicht auf dem Boden der Realität. Kurz weinte er auf, unterdrückte die Tränen aber schnell wieder. Es war nur ein Traum gewesen. Niemand hatte etwas gesehen. Niemand hatte etwas gehört. Es waren nur seine eigenen Gedanken gewesen. Seine Geschwister schienen zu schlafen, er hörte ihren leisen Atem. Es war nur ein Traum. Nur in seinen Träumen war Roland so stark gewesen. In Wirklichkeit war er der Starke. Mit jedem Satz versuchte er, sich selbst wieder zu stärken. Das war nur ein Traum, von dem niemand wusste.
Und dann hörte er sie. Die Fliege, die über seinen Kopf surrte. In der Nacht klang ihr Flügelschlag wie der Bohrer eines Zahnarztes. Das Surren dröhnte schmerzhaft in seinen Ohren. Als das Geräusch pausierte, spürte er, dass sie sich auf sein Ohr gesetzt hatte. Er schlug spontan nach der Fliege, die aber rechtzeitig wegflog, sodass er sich nur selbst eine laute Ohrfeige gab. Seine Wange schmerzte. Nach dem ersten Klatschen und Brennen hallte der dumpfe Schmerz des Schlages nach. „Scheiße“, zischte er in die Nacht hinein und hoffte, dass seine Brüder am nächsten Morgen keinen Handabdruck auf seiner Wange sehen würden. Wie sehr würden sie ihn auslachen.
Er hörte wieder die Fliege. Im Dunkeln tappend, versuchte er, sie aufzuspüren. Immer wieder surrte es. Als das Geräusch anhielt, schlich er vorsichtig in die Richtung, aus der es das letzte Mal gekommen war. Kurz darauf schlug er in diese Richtung, traf aber nur die Tischkante. Er fluchte erneut in die Nacht hinein. Nach mehreren erfolglosen Jagdversuchen schlich er wieder in sein Bett, um weiterzuschlafen. Doch die Fliege hatte andere Pläne. Immer und immer wieder surrte sie um seinen Kopf wie die verstörenden Gedanken und Ängste, die aus seinem Unbewussten auftauchten. Er drehte den Kopf im Kissen, um seine brennende Wange an der kühlen Stoffseite zu beruhigen. Doch kurz darauf ertönte das surrende Geräusch erneut. Er spürte, wie seine Wut wieder aufkochte, und schlug mit der Faust auf die Matratze. Aber es durfte niemand aufwachen. Es war schon schlimm genug, er wollte nicht, dass jemand sah, wie er mit dieser kleinen Fliege kämpfte.
Er versuchte, sich abzulenken, und zählte in Gedanken Zahlenkombinationen hinauf und hinunter. Doch jedes Mal entstand wieder dieses Geräusch aus dem Dunkeln, das er so gerne verdrängen würde. Er zog die Decke über seinen Kopf. Als die Fliege schließlich auf seinen nackten Zehen landete, schlug er mit dem Polster nach ihr, verfehlte sie jedoch erneut. Und so ging es die ganze Nacht. Er schlief immer wieder ein, doch jedes Mal hatte er dasselbe Traumgefühl, bei dem die Fliege ihm tatkräftig half. Einmal kämpfte er sich durch den Dschungel, in dem ständig Schlangen nach ihm bissen. Ein anderes Mal stand er unter einer Brücke, als Fledermäuse knapp über seinen Kopf flogen und ihm einen kurzen Schreck einjagten. Er fuhr hoch, als er sich vorstellte, eine Spinne krabbele über seinen Kopf. Und immer wieder riss es ihn aus dem Schlaf in die Dunkelheit, in der das Summen der Fliege zu hören war..
Am nächsten Morgen blieb er zu Hause und sagte seinen Eltern, dass er sich krank fühle. So übernächtigt, wie er aussah, glaubten sie ihm. Als sich die Wohnung leerte, blieben nur noch er und die Fliege zurück. „Und jetzt erwische ich dich”, ging ihm durch den Kopf. Doch tagsüber war es schwieriger, sie zu hören. Die Geräusche der Baustelle in der Straße verdeckten das Surren ihrer Flügel, das in der Nacht so unerträglich gewesen war. Zudem vermutete er, dass sie aufgrund der nächtlichen Aktivität selbst müde war und weniger flog. Doch sie würde ihm nicht entkommen. Akribisch durchsuchte er die Wohnung und blickte hinter jedes Möbelstück. Noch einmal würde der dunkle Schatten ihn nicht aus dem Schlaf reißen.
Und plötzlich schnappte er sie. Behutsam, mit hohlen Händen, spürte er, wie sie über die Innenseite seiner Hände krabbelte. Er drückte die Hände leicht zusammen, sodass sie nicht entkommen konnte. Er öffnete sie erst wieder, als er ein Fischernetz um sie gezogen hatte. „Jetzt habe ich dich”, flüsterte er ihr direkt in die Facettenaugen. Sie wirkte so klein, als er sie in seinen Fingern hielt. Wie konnte so etwas Kleines so große Probleme anrichten? „Ja, jetzt kannst du mich nicht mehr ärgern, du blödes Tier. Wer ist jetzt der Stärkere?" Er erinnerte sich an die Geschichte von David und Goliath, war sich aber nicht sicher, wer welche Rolle gerade übernahm. „Du hast mich die ganze Nacht nicht schlafen lassen”, zischte er böswillig in ihre nicht vorhandenen Ohren. "Du hast mich mit deinem Surren ständig genervt." In seiner Erinnerung spürte er wieder die nächtliche Folter. Wie ein böser Gedanke, der ihn ständig umkreiste. Wieder und wieder begann es von Neuem. Jedes Mal war es noch schmerzhafter als zuvor. Es war wie eine wunde Stelle auf der Haut, die ständig neu gereizt wurde. Doch seine Wut überdeckte die dahinterliegende Angst. Die Angst vor der eigenen Schwäche. Die Angst, dass andere seine Schwächen sehen könnten. Die Angst, dass er seine Schwächen selbst erkennen würde. Er wollte die Bilder aus dem Traum nicht sehen, die er täglich verdrängte. Im Kreis seiner Freunde und guter Gedanken stilisierte er sich täglich wieder als unbesiegbarer Chef. Niemand konnte ihm etwas anhaben. Die Gegner, die er sich aussuchte, waren bereits Opfer. Die Außenseiter, die ihm nichts anhaben konnten. Sie unterstützten ihn nur dabei, noch stärker zu wirken. Die unsicheren Gedanken, die er mit überzogener Selbstdarstellung in die Knie zwang.
Dann riss er der Fliege das erste Bein aus. Es war ein Akt der Zärtlichkeit ihm selbst gegenüber. Eine Beruhigung, um die eigene Angst zu mildern. „Was machst du jetzt?”, fragte er die Fliege, als er ein weiteres Bein ausriss. Er schnippte das Beinchen wie eine heruntergefallene Wimper durch die Luft. Und jedes Mal formulierte er intuitiv einen Wunsch, als ob es tatsächlich eine Wimper gewesen wäre. „Du wirst mich nie wieder stören. Du hast keine Chance gegen mich. Du wirst mich nicht mehr aufwecken." Innere Mantren an sich selbst. Als er dem Tier schließlich auch noch die Flügel ausriss, sah er nur noch den Rest ihres verstummelten Körpers vor sich. Er legte das Fischernetz beiseite und betrachtete den noch schwirrenden Korpus. Er hörte nur noch das leise Surren der nicht mehr vorhandenen Gliedmaßen. So brutal er dem Tier gegenüber war, so zärtlich war er zu sich selbst in seinem Inneren. Wie lange musste er darum kämpfen, als Chef gesehen zu werden? Wie lange hatte er gebraucht, um selbst aufzubegehren? Wie oft hatte er sich selbst heruntergemacht, so wie es seine Familie getan hatte? Wie lange hatte er in der Dunkelheit gelebt, in der ihn niemand gesehen hatte? Doch das hatte er geändert. Er zeigte nur noch seine starken Seiten. Er trainierte. Er übte, schlaue Sätze zu sagen. Er überlegte sich, was er wem sagen konnte. Er erzählte Geschichten, die ihn größer machten. Er bemerkte nicht, dass er ein Angeber wurde.
Er wollte kein David mehr sein, sondern wie Goliath wirken. Ein Riese, den alle bewunderten. Und er wurde zu Goliath. Er stellte seine Stärken zur Schau, wenn er die kleinen Davids verachtete. Die Davids konnten ihm nichts anhaben. Er war Goliath und stärker als diese Winzlinge. Die Schatten des Davids hatte er in die Tiefen seines Unbewussten verdrängt. Sie durften nicht mehr sein. Während er sich in diese Vorstellung vertiefte, wuchs er selbst. Er wurde immer größer, Goliath, der seinen kleinen David überragte. In seiner Gedankenwelt hörte er sich riesenhaft sagen: „Ich bin Goliath!” Die Menschen um ihn herum erschauderten ob seiner Kraft und Stärke. Er lachte laut, sodass sogar die Berge bebten. Er schloss die Hand zu einer Faust und schlug auf die Fliege, die unter seiner Wucht explodierte. Er hielt seine Faust wie eine Siegerpose in die Höhe, darunter die zerdrückte Fliege, und fühlte die Kraft und Stärke durch seinen Körper fließen. Ein wahrlich heroischer Tag.
Der kleine David in ihm versteckte sich in einer Höhle. Er machte sich noch kleiner, als er ohnehin schon war. Da draußen war es viel zu gefährlich. Er hörte noch das tiefe Lachen durch die Höhle schallen. Tief im Inneren, wo die Schatten lebten, blieb er. Verängstigt, einsam und klein. Aber er wusste, wie die Geschichte weitergehen würde. Und es machte ihn schon jetzt traurig, dass er irgendwann wieder aus der Höhle kommen würde. Irgendwann würde er vor Goliath stehen. Und dann müsste er ihn töten. Es werden unendliche Schmerzen sein. Goliath wird kämpfen, sich verteidigen und um Gnade winseln. Aber David wird gewinnen. Denn er weiß, dass er tief im Inneren David ist.
Perspektive
Was als nächtliche Begegnung mit einer Fliege erscheint, ist die Konfrontation mit abgespaltenen Teilen seiner Psyche. Die Fliege ist der Bote des Unbewussten, die unerbittliche Stimme dessen, was verdrängt wurde. Ihr Surren ist das Flüstern der eigenen Wahrheit, die in der Stille der Nacht nicht länger übertönt werden kann. Der Traum zeigt die Kernwunde: David wurde in seiner Verletzlichkeit bloßgestellt, ausgelacht, gedemütigt. Roland – der Außenseiter mit der rinnenden Nase – ist sein eigenes gespiegeltes Selbst, verkörpert alles, was David an sich verachtet: die Schwäche, die Ausgestoßenheit, die Hilflosigkeit. Die Szene ist keine Erinnerung, sondern eine Prophezeiung dessen, was geschieht, wenn die Maske fällt.
Die Verwandlung in Goliath ist keine Stärke, sondern eine Flucht ins Größenwahnsinnige. Er wird zum Täter seiner selbst. Indem er andere zu Davids macht und verachtet, hält er seine eigene David-Identität gefangen. Es ist eine geschlossene Schleife: Je mehr er Goliath sein will, desto mehr muss David existieren – als Opfer, als Schatten, als das, was vernichtet werden muss. Der Text nennt diese Gewalt "Zärtlichkeit" – eine verzweifelte Selbstfürsorge durch Selbstauslöschung. Er glaubt, dass er Frieden findet, indem er den verwundeten Teil von sich tötet. Doch das Surren – der Ruf zur Integration – kann nicht zum Schweigen gebracht werden, auch wenn man ihm die Gliedmaßen ausreißt.
Die wahre Tragödie liegt im letzten Absatz. David, versteckt in der Höhle seines Unbewussten, weiß bereits, dass diese Konstruktion zusammenbrechen wird. Er kennt die biblische Geschichte: David tötet Goliath, nicht umgekehrt. Das Kleine, Verwundbare wird das Aufgeblasene, Künstliche besiegen. Aber David ist bereits jetzt traurig darüber – nicht triumphierend. Denn er versteht, dass diese Integration durch unendlichen Schmerz geschehen muss. Dies ist die Geschichte eines Menschen, der noch nicht bereit ist zu heilen, aber bereits weiß, dass er muss. Die Heilung bedeutet, Goliath sterben zu lassen und als David – verwundbar, klein, echt – weiterzuleben. Die tiefste Wahrheit steht am Ende: "Er weiß, dass er tief im Inneren David ist." Das ist nicht Schwäche – das ist die härteste Erkenntnis überhaupt.

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