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Fremdheilung

Sie verdrehte die Augen, während er zufrieden stöhnte. Es war ein Fleischberg, der vor ihr lag. Oder ein Fettberg. So viel Masse, die nur einem Menschen gehörte. Links und rechts von der Massageliege hingen seine Schwarten bis zum Boden. Sehnsüchtig blickten sie nach unten; so gerne würden sie fallen und sich dem Körper entziehen. Doch die Haut hielt die innere Masse in dem Individuum, dem Unteilbaren, zusammen. Dividuum, "teilbar", in, "nicht", nicht teilbar, das Unteilbare. Und so hingen die Schwarten zu Boden, blieben aber im massigen Körper.

Das ist sehr gut, grunzte der Fleischberg in die Massageliege, während sie mit aller Kraft ihre trainierten Daumen durch das Fleisch drückte. Es war ein anstrengender Job. Begonnen hatte alles aus Idealismus. Damals hatte ihr großer Bruder einen schweren Fahrradunfall und konnte fast ein Jahr lang nicht mehr gehen. Lange Zeit musste sie mitansehen, wie dieser sportliche junge Mann nur noch zu Hause liegen und seine Schmerzen aushalten musste. Irgendwann begann sie, seine Waden zu massieren, und das schien zu helfen. Sie folgte ihrer Intuition, knetete die Muskeln an der Unterseite und strich an den Faszien entlang. Das schmerzte ihn kurzzeitig, brachte ihm langfristig aber Entspannung. Sie wusste damals noch nichts über Heilmassagen, aber sie erinnerte sich noch gut an den ersten Abend, an dem er völlig selig einschlief, ohne seinem schmerzverzerrten Gesicht. Jeden Abend massierte sie ihn, und der Heilungsverlauf beschleunigte sich. Irgendwann konnte er sogar wieder Fahrrad fahren. Das war ihre Bestimmung – Menschen zu heilen.

Sie war eine der Besten im Studium, lernte sämtliche Methoden, wendete sie an und hatte ihre ganz bestimmten Griffe, die den Menschen halfen. Die Jahre vergingen, sie baute ihre eigene Praxis auf, hatte Stammkunden und hatte somit ihr äußeres Ziel erreicht. Eine gut gebuchte Privatpraxis, modern hergerichtet, ihre Schulden hatte sie abbezahlt, eine Assistentin und eine Putzkraft unterstützten sie und gossen auch regelmäßig die Pflanzen.

„Ja, das ist sehr gut”, stöhnte der Fleischberg wieder. Über die Jahre war ihr Idealismus verschwunden. Es wurde zum Job. Die Energie, die sie ursprünglich aus der Hilfe für andere Menschen geschöpft hatte, wurde immer weniger. Egal, wie viele Menschen sie massierte, es kamen immer neue hinzu. Jeden Tag wieder. Eine Verspannung hier, ein Unfall da oder einfach die Suche nach Entspannung. Die meisten waren aus ihrer Sicht einfach unsportlich und faul. Sie aßen zu viel und zu ungesund und Bewegung war für sie ein Fremdwort. Anstatt ihren Lebensstil zu ändern, kamen sie lieber alle zwei Wochen zur Massage und hofften, dadurch gesund zu werden.

Sie fühlte sich ausgenutzt. Sie sollte ihr ungesundes Leben kompensieren. Und da lag er nun vor ihr. Der nächste Fleischberg, der zu faul war, sich zu bewegen. Er wohnte nur zwei Kilometer entfernt, kam aber mit dem Auto zu ihrer Praxis. Er parkte in der Tiefgarage, nahm den Aufzug hinauf und schleppte seinen massigen Körper auf die Massagebank. Eine Stunde Heilmassage, sogar vom Arzt verschrieben. Sie ekelte sich. „Ja, da ist es besonders gut”, hörte sie ihn weiter nuscheln.

Sie drückte fester. In ihr stieg Aggression auf, genährt durch die jahrelangen Behandlungen dieser Menschen und deren indirekten Misshandlung ihr gegenüber. Ihre Arbeit gab ihr keine Energie mehr, sie verlor sie nur noch. Eigentlich verschwendete sie ihre Energie schon. Anstatt sich zu freuen, anderen Menschen zu helfen, spürte sie nur, wie ihre Energie aus ihr herausgezogen wurde. An den Abenden musste sie ihre eigenen Daumen massieren, um den Druck aus ihrem Körper zu bekommen. Sie drückte noch fester. „Ah, da ist wohl eine Verspannung”, hörte sie den Mann sagen. Doch es war keine Verspannung. Es war einfach nur ein Schmerzpunkt, den sie drückte. Fester als sonst. „Das ist jetzt schon sehr stark.“ Sie drehte ihren Daumen geschickt, zog an den Fasern und wusste, dass er sich durch diese Bewegungen verspannen würde. Die angenehmen Rückmeldungen änderten sich zu schmerzhaften Grunz- und Zischlauten. „Da müssen wir durch”, sagte sie bestimmt. Zum Schluss machte sie eine schnelle Bewegung über einen Muskelfaser, woraufhin der Mann kurz aufschrie. „Au, das hat jetzt wirklich wehgetan”, empörte er sich. „Ja, eine tief sitzende Verspannung. Es könnte die nächsten Tage noch nachwirken.", antwortete sie lapidar. Sie fühlte sich zum ersten Mal erleichtert. Nach Jahren. Es gefiel ihr, einmal nicht ihrem Ideal nachzueifern.

Sie starrte an die Decke. Ihr Freund lag auf ihr und bewegte sich mechanisch hin und her. Sie hörte ihn tief atmen und spürte seinen Schweiß auf ihrer Haut. Früher hatte sie noch Leidenschaft empfunden, doch in letzter Zeit war die eheliche Pflicht zur Routine geworden. Sie ließ es über sich ergehen, weil er danach weniger angespannt war. Plötzlich erkannte sie, dass sie gerade die Holzstreben an der Decke zählte. Dieses Verhalten war ihr bekannt, wenn sie in einem Warteraum saß und ihr langweilig war. Stimmt, ihr war langweilig.

Sie atmete kurz ein und aus, eher resignierend. Bemerkte er überhaupt, dass es ihr nicht gefiel? Sollte sie es ihm sagen? Sie schaltete ihr inneres Kopfkino ein und erinnerte sich an den Schwimmlehrer aus ihrem Kurs. Er war ein durchtrainierter junger Mann mit strahlenden Augen. Ja, so jemand würde ihr gefallen. Sie stellte sich seine breiten Schultern, seine gut definierte Statur und sein kantiges Gesicht vor. Gerade als sie dieses Bild erzeugte, spürte sie wieder den tatsächlichen Schweiß ihres Freundes und stürzte zurück in die Realität, aus der sie ausbrechen wollte. „Fuck“, fluchte sie mürrisch. Wahrscheinlich dachte er, dass es ein leidenschaftlicher Ausruf war. Doch dem war nicht so. Sie begann, ihn zu umarmen. Wie bei einer Massage hielt sie seine Schultern mit festem Griff. Vielleicht glaubte er, dass es leidenschaftlich war. Sie umklammerte ihn fester und drückte ihre Nägel langsam in sein Fleisch. Es schien ihm zu gefallen. Seine mechanischen Bewegungen wurden schneller. Sie zog die Nägel tiefer ins Fleisch und fuhr seinen Körper entlang. Er begann, sich zu winden. Sie wusste, dass er jetzt Schmerzen spürte, aber er wollte offenbar nicht aufhören. Also erhöhte sie den Druck. „Schatz, das ist etwas zu wild“, hörte sie ihn schnaufend sagen. Aber sie hörte nicht auf. Sie bewegte sich so, dass sich der Druck weiter erhöhte. Er wurde langsamer. „Das ist jetzt wirklich zu viel“, meinte er. „Nur noch ein bisschen“, hörte er sie flüstern. Irgendwann gab er auf. Die anfängliche Lust hatte sich in Unwohlsein verwandelt. Er drehte sich ohne etwas zu sagen um und schlief trotzdem ein. Ihre Augen blieben offen. Im dunklen Raum lag ein diabolisches Lächeln auf ihrem Gesicht, das sie in ihren Traum begleitete.

Als sie am nächsten Tag in der vollen U-Bahn saß, stellte sie ihre Tasche so auf den Boden, dass sie auf den Füßen eines anderen Fahrgasts stand. Sie sah, wie es für sie unangenehm wurde. Mit unschuldiger Mine blickte sie weiter aus dem Fenster. Als sie aufstand, drehte sie die Tasche so, dass sie ihr kurz über das Gesicht streifte. Sie betrat den Aufzug, stieß dabei aber die Tasche einem Mann gegen die Beine. „Oh, entschuldigen Sie”, sagte sie mit einem unschuldigen Lächeln. Wie konnte man diesem Lächeln böse sein?

„Guten Morgen, Jasmin“, begrüßte sie ihre Assistentin. „Oh, was ist denn mit deinen Haaren passiert?” Jasmin blickte erschrocken in den Spiegel. Es war nichts anders als sonst. Doch es war ein Stich, ein kleiner Seitenhieb, der sie in eine Unsicherheit brachte.

Im Praxisraum angekommen, setzte sie sich kurz hin. In ihr brodelte eine Aggression, die sie noch nie zuvor gespürt hatte. Es war ein Hass gegen die Menschheit. Sie fühlte sich ausgenutzt und betrogen. Gedanken und Gefühle kreisten durch ihren Kopf und Körper. Warum hatte sie eigentlich damals ihren Bruder ständig massiert? Er war selbst schuld gewesen. Wie oft hatte sie ihm gesagt, dass er nicht so schnell den Berg hinunterfahren solle? Dass er aufpassen müsse, weil noch Rollsplitt auf der Straße lag. Aber nein, er wollte wieder den nächsten Rekord brechen – doch stattdessen brach er sich ein Bein. Und dann kümmerte er sich auch nicht einmal um sich selbst. Nein, er lag nur da und wartete, dass es besser werden würde. Sie allein fühlte sich verpflichtet, ihn zu unterstützen. Als er wieder fahren konnte, jagte er dem nächsten Rekord hinterher. Erst der letzte Unfall beendete seine sportlichen Ambitionen. Da halfen auch keine Massagen mehr, er hatte seinen Körper tatsächlich zugrunde gerichtet. Warum zerstören Menschen ihren Körper und erwarten dann von mir, dass ich sie wieder heile?

An diesem Tag hatten ihre Klienten eine harte Zeit. Sie griff ihre Schmerzpunkte an, überdehnte ihre Sehnen und ermutigte sie, noch tiefer zu gehen, obwohl dies nicht mehr heilsam war. „Ja, so richtet ihr euren Körper zugrunde“, hörte sie ihre innere Stimme sagen. Doch all diese Attacken brachten ihr Blut nur noch weiter in Wallung. Es war der Hass, der aus ihr herausströmen wollte.

„Ich komme heute Abend erst später nach Hause“, waren die einzigen Worte, die ihr Freund an diesem Abend von ihr hörte, bevor die Tür zuknallte und sie aus dem Haus lief. Er hatte nicht gesehen, was sie angezogen hatte. Er hätte sie auch kaum wiedererkannt. Sie trug den kurzen schwarzen Lederrock von früher, ein enges Top, ihre langen Haare waren wild frisiert, sie hatte dicken, roten Lippenstift aufgetragen, eine schwarze Ledertasche hing an ihrer Seite und sie lief in hohen Stöckelschuhen in die Nacht. Ihr starkes Parfüm begleitete sie. Nach einigen Wodka-Shots tanzte sie wild und ekstatisch in einem Club. Sie spürte die Blicke der Männer, die sie an sich zog. Sie genoss es. Sie brauchte sie. Ein jüngerer Mann kam tanzend zu ihr. Vorsichtig, anpirschend. Doch sie wusste viel besser, was sie wollte, als er es sich vorstellen konnte. Sie tanzte ihn an, ihre Hüfte kreisend, anziehend, betörend. Sie wusste, dass er nicht mehr entfliehen konnte. Es war eine Mischung aus wilder Leidenschaft und tiefem Hass gegen all die Männer, die sie ständig ausnutzten. Jetzt war sie es, die ausnutzte. Sie hielt seinen Kopf mit den Fingernägeln fest, blickte ihm tief in die Augen und küsste ihn dann leidenschaftlich. Mitten auf der Tanzfläche. Sie biss ihm in die Lippen, nicht mehr zart, sondern fordernd. Kurz darauf zerrte sie ihn in das Männerklo, hob ihren Rock und ließ sich von ihm bedienen. Sie stöhnte. Kurz vor seinem Höhepunkt stieß sie einen lauten Schrei aus, rammte ihm ihr Knie zwischen die Beine und zerkratzte brutal sein Gesicht. Ihr Hilferuf ließ andere Menschen hereinströmen. Sie trugen die blutverschmierte, hysterisch weinende Frau aus dem Männerklo hinaus.

Im Krankenhaus gab sie zu Protokoll, dass der Mann sie in die Toilette geschleppt und vergewaltigt habe. Sie konnte sich das so gut vorstellen, dass er es wirklich getan haben könnte. Denn genau so ausgenutzt fühlte sie sich von der Welt. Von der Welt vergewaltigt, von allen Männern missbraucht. Sie projizierte nur ihre innere Welt nach außen. Es fühlte sich so real an. Denn genau so war es für sie. Sie wurde immer von anderen missbraucht. Jetzt, zum ersten Mal, spürte sie in der externalisierten Situation, wie es sich innerlich für sie anfühlte. Es musste so gewesen sein. Sie hatte es sich genau so vorgestellt. Wie er ihr immer näherkam, obwohl sie das nicht wollte. Sie wollte doch eigentlich nur tanzen. Und sie wollte weggehen, aber er hielt ihren Kopf fest. Sie wollte den Blick abwenden, doch er starrte ihr weiter in die Augen. Sie riss sich los und ging zur Damentoilette. Doch bevor sie eintreten konnte, packte er sie und zerrte sie mit in das Männerklo. Sie wollte schreien, doch er hielt ihr den Mund zu und drang in sie ein. Irgendwann schaffte sie es, sich zu lösen, stieß ihn weg und schrie um Hilfe. Der Mann wurde tatsächlich angeklagt und eingesperrt. Wegen sexueller Misshandlung und Vergewaltigung. Er war das Bauernopfer ihrer inneren Vorstellungen. Die Vorstellung, dass sie das Opfer war. Das Opfer neben all diesen Tätern. Sie musste ihren Bruder unterstützen, obwohl sie es nicht wollte. Sie unterstützte alle. Immer war sie diejenige, die das machte, was die anderen wollten. Und das war ihr Befreiungsschlag. Endlich konnte sie ausbrechen.

Sie fühlte sich frei. Zum ersten Mal fühlte sie sich frei, weil sie nicht mehr von anderen ausgenutzt wurde. Sie bemerkte nicht, dass sie es selbst war. Sie bemerkte nicht, dass sie sich selbst in all diese Situationen gebracht hatte. Sie spürte nicht, dass sie sich eigentlich immer selbst hätte heilen können. Dass sie ihre eigene Aufmerksamkeit gebraucht hätte. Ihre eigenen Verletzungen hatte sie immer auf andere projiziert. Es fühlte sich gut an, diese zu heilen. Doch dabei heilte sie nicht selbst. Sie sah nur, wie die anderen heilten. Ihnen ging es besser, ihr selbst aber nicht. Und das kippte in das Gefühl der Ungerechtigkeit. Das Gefühl, ausgenutzt zu werden. Die Aggression gegenüber der Projektion. Der gefühlte passive Hass gegen sich selbst, wenn man sich selbst vergisst zu heilen.

Später schrieb sie ein Buch über ihre Vergewaltigung. Sie wurde berühmt. Sie half anderen, ihr Leid zu verarbeiten. Sie half wieder anderen. Diesmal unterstützte sie Frauen, die tatsächlich missbraucht worden waren. Und sie fühlte sich gut dabei, ihnen zu helfen. Jedoch bemerkte sie nicht, dass sie in ihrem eigenen Muster gefangen blieb. Sie half wieder nur anderen. Und sie selbst ging dabei leer aus und heilte nie.

 

Perspektive

„Fremdheilung“ entfaltet eine verstörende Wahrheit über Menschen, die versuchen, ihre eigenen Wunden durch die Heilung anderer zu schließen. Die Geschichte porträtiert eine Frau, die in einer selbst geschaffenen Hölle gefangen ist – nicht durch äußere Umstände, sondern durch ihre fundamentale Unfähigkeit, sich selbst zu sehen.

Die Massage symbolisiert die Illusion der Kontrolle und den Versuch, die eigene Seele durch die Manipulation fremder Körper zu reparieren. Der „Fleischberg“ steht nicht nur für körperlichen Ekel, sondern auch für die Entmenschlichung, die eintritt, wenn Menschen zu Objekten der eigenen Heilungsfantasien werden. Wie ein blinder Chirurg operiert sie an anderen, während sie selbst innerlich verblutet. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass nicht die Patienten sie ausbeuten, sondern dass sie sich selbst durch chronische Selbstverleugnung zerstört.

Der Wendepunkt liegt in der Clubszene. Die erfundene Vergewaltigung macht ihre innere Wahrheit nach außen hin sichtbar. Sie fühlt sich von der Welt missbraucht und macht einen Unschuldigen zum Bauernopfer dieser Projektion. Indem sie die Tat nach außen verlagert, befreit sie sich emotional von der Last der Opferrolle. Sie wird zur Heldin ihrer eigenen Geschichte. Die falsche Anschuldigung verschafft ihr das Recht, endlich als Opfer wahrgenommen zu werden, ohne etwas geben zu müssen.

Das Ende zeigt jedoch keine Heilung, sondern Wiederholung. Sie hilft anderen Opfern und perpetuiert damit denselben Kreislauf. „Fremdheilung” ist letztendlich eine existenzielle Warnung. Wahre Heilung entsteht durch Selbstbegegnung, nicht durch Weltverbesserung. Alles andere bleibt eine projektive Illusion, die zur Zerstörung führt. Es ist eine düstere Meditation darüber, wie wir uns selbst betrügen, indem wir unsere Schatten auf andere werfen.

 
 
 

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