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Fluss des Lebens und Sterbens

(Musik: Love Letters to God, Nahko and medicine for the people)

Er steht an ihrem Grab. Es sind so viele Gefühle gleichzeitig, dass er sich taub fühlt. Keines lässt sich aus der dichten und verwobenen Konsistenz herausschälen. Wie eine braune Farbe, die entsteht, wenn alle Malfarben gleichzeitig zusammengerührt werden. Ein braunes Gefühl. Aus allen Farben bestehend, aber keine sehend. Ein schwerer Klumpen zieht seine Eingeweide hinunter. Es ist scheiße. Es ist einfach scheiße. Ein Klumpen Scheiße, die er in sich fühlt. Braun, der letzte Rest, der einfach gehen möchte. Ist diese Scheiße noch ein Teil von ihm? Oder muss er sie einfach herauslassen?

Plötzlich beginnt er, den Kopf in den Himmel gerichtet, laut aufzuschreien. „Neeeeiiin!”, schreit er noch einmal seinen tiefen Schmerz hinaus. Er schreit die ganze Scheiße aus sich heraus. Er fällt zu Boden, schluchzt aufgebracht, laut atmend. Seine Hände verkrampfen sich in der Erde. In tiefer, brauner Erde. Seine Hände verkrampfen sich so stark, dass er die Gräser über der Erde herausreißt. Sie beugen sich seiner Kraft, spüren, wie ihre Wurzeln aus der Erde gerissen werden, sie werden sterben. Langsam wird ihnen die Lebensenergie entweichen. Ein Grashalm, noch strotzend von grüner Lebensenergie, wird müder werden, langsam heller, gelber werden, bis er Schritt für Schritt auch zu brauner Erde transformiert. Werden Teile von ihm von Ameisen weggetragen werden? Werden ihn Würmer aufsammeln? Wird er Teil eines Vogelnestes? Oder wird er einfach liegenbleiben, in die Erde gezogen werden und vergehen?

So liegt er da, der Mann, dem die Wurzeln entrissen wurden. Weinend vor Schmerz, der durch seine Tränen aus ihm hinausfließen möchte. Brennende Tränen, heiß vor Schmerz, fallen auf die Erde. „Nein”, weint er leise und erschöpft in den Boden hinein. Ein entwurzelter Mensch, dem seine Lebensenergie genommen wurde.

Doch plötzlich bemerkt er, dass er sich nicht von ihr verabschiedet. Es geht nicht um sie. Noch schluchzend, überrascht von diesem Gedanken, die Tränen noch auf seiner Wange spürend. Leise, unruhig atmend. Es geht nicht um sie. Seine Hände, die noch immer verkrampft versuchen die Erde festzuhalten, lösen sich langsam. Das Blut fließt wieder durch sie hindurch. Sein Kopf ist immer noch zu Boden gerichtet. Langsam öffnet er die Augen, als ob er beginnen würde, etwas zu sehen. Die Erde ist direkt vor ihm, eingeweicht von seinen Tränen. Es geht nicht um sie, spürt er in seinem Körper. Sein Herz klopft ihm in der Stirn. Kopfschmerzen, als ob die noch nicht verstandenen Gedanken ihm Schmerzen bereiten. Sie drängen sich in seinen Kopf und versuchen, in sein Bewusstsein zu dringen. „Worum geht es eigentlich?”, schwirrt es durch seinen Kopf. Er fühlt sich noch immer wie erschlagen. Seine Hände, sein Gesicht, sein ganzer Körper sind voller brauner Erde. Die ersten Regentropfen treffen seinen Rücken. Einer nach dem anderen dringt durch seine Kleidung, um seinen Körper zu erweichen. Er entspannt sich und lässt sein Gewicht auf die Erde sinken.

Während er auf dem Boden liegt, wird der Regen stärker. Sein Atem wird ruhiger. „Worum geht es eigentlich?“, fragt er sich wieder, während er in der Frage bereits die Antwort erfühlen kann. Der Regen wird stärker, beginnt unter ihm einen kleinen Fluss zu bilden, der die Oberfläche der Erde mitnimmt. Er sieht, seinen Kopf zur Seite neigend, den braunen Fluss an ihm vorbeirinnen. „Was möchte gehen?" fragt er sich, die Antwort schon längst fühlend. Taube Angst paart sich mit tiefer Weisheit. Er spürt den immer größer werdenden Fluss um sich und den leichten Sog ins Grab. Freundlich, aber bestimmt lädt ihn der Fluss des Lebens ein, zu sterben. Ohne Worte. Ohne Gedanken. Der Grashalm, dem die Wurzeln entzogen wurden. Er lässt los. Er fühlt die Erde durch das Wasser an seinen Händen vorbeiziehen, als würde er am Strand Sand in seinen Händen halten, den die Wellen Sandkorn für Sandkorn wegfließen lassen. Ein Finger bewegt sich, die Hand folgt ihm und schließlich der ganze Arm. Er entspannt sich und spürt, wie auch sein anderer Arm dem Fluss folgt. Wie von Tausenden Ameisen zärtlich getragen, beginnt sein Körper, sich zu bewegen. Er schließt die Augen und lässt es zu.

Der ausgerissene Grashalm, der an der Wasseroberfläche vom Fluss getragen wird. Zunächst spürt er die Hände, die schwerelos über dem offenen Grab schweben. Das Wasser, das sich noch an den Händen anhält, um dann berauschend wie eine Wasserfall loslassen und sich fallen lassen. Als sein Kopf über den Abgrund wandert, blickt er noch einmal in den Himmel. So viele Regentropfen, so viele Teile, die ihm den Weg weisen. Ein müdes, dankendes Lächeln. Er atmet ruhig aus, bevor er den Blick wieder hinunter in das Grab richtet. „Ich bin bereit“, hört er seine Gedanken sagen. Ein letztes Einatmen, als würde er in das Meer springen. Die Augen schließend, fühlt er, wie auch der restliche Körper über die Schwelle getragen wird. Ein brauner Körper, voller Gefühle, ohne eines fühlen zu können, der bereit ist zu gehen. Ein unendlicher Fall. Ein schwereloser Fall, der ihn in die ewige Dunkelheit einweiht.

Er sieht sich von oben hinunterfallen. Während er am Rand des Grabes kniet, sieht er sich wie einen der Regentropfen in die ewige Dunkelheit fallen. Mitgerissen von dem Sog zu seiner Frau. Ein Teil von ihm, der sterben musste. Der Grashalm, der mit seiner Frau verwurzelt war. So fest waren sie verwurzelt. Und mit ihr musste auch der Grashalm sterben. Ruhig schreiend. Loslassen, was losgelassen werden musste. Er blickt hinunter. Die ersten Sonnenstrahlen beginnen, über seinen Rücken hinweg in das Loch zu scheinen. Sie spiegeln sich in den fallenden Regentropfen wider. Jeder einzelne lächelt ihm für einen kurzen Moment in Regenbogenfarben zu. Da sind sie wieder. Die Farben des Lebens. Er blinzelt mit den Augen, ruhig, aufmerksam. Es sind so viele. Sie streicheln ihm zärtlich über das Gesicht und verschwinden dann in der Dunkelheit. Ohne den Kopf zu heben, spürt er den Regenbogen vor sich. Alle Farben dieser Welt erstrahlen und tanzen gemeinsam ihren Tanz. Die Verbindung von Wasser und Sonne, die jedes Gefühl in seinem Herzen öffnet. Es ist nicht mehr eine braune Masse an Gefühlen, sondern ein unendliches Aufwachen des Lebens. Eine Träne des Glücks bahnt sich einen Weg aus seinem Gesicht, fällt von seiner Nasenspitze in die Luft und durchlebt dort kurz einen eigenen kleinen Regenbogen.

Es war Zeit, seine Wurzeln zu seiner Frau loszulassen. Es gab nichts mehr zu sagen, zu fühlen oder zu verstehen. Erschöpft und befreit stand er langsam auf. An seinen Füßen fließt der braune Fluss weiter ins Grab. All das abgestorbene Gras mitnehmend, es verabschiedend. Das Grab füllt sich mit all den abgestorbenen Teilen, wäscht den Boden der Natur, und lasst gehen, was bereits gegangen ist.

Nur die grünen Grashalme bleiben bestehen. Fest verwurzelt in der Erde, lassen sie das Wasser und die gestorbenen Freunde, die entwurzelten Freunde, an ihnen vorbeifließen. Sie wünschen ihnen eine gute Reise und bleiben selbst standhaft. Sie werden weiterwachsen, bis ihre Zeit gekommen ist. Es entsteht Platz für Neues.

Der Mann sieht verabschiedend auf das gefüllte Grab. Es ist kein Grab mehr. Das Loch in der Erde wurde geheilt. Mit jeder Regenträne, mit jedem abgestorbenen Teil, mit all der braunen Erde konnte es wie eine offene Wunde mit Blut geheilt werden. Bis die Kruste abfällt und nur noch ein Stück Erde zu sehen ist, das bereit ist, Neues wachsen zu lassen. Er sieht bereits, wie die neuen Samen aufbrechen, an die Erdoberfläche drängen und erstmals die Sonne spüren. Sie werden sich aufrichten. Sie werden in die Höhe streben. Sie werden sich zum Himmel strecken, der Sonne entgegen. Sie werden stark sein. Genährt von der ewigen Erfahrung ihrer früheren Generationen werden sie wieder erblühen. Auf dem Boden der Traurigkeit und des Gestorbenen wird neues Leben entstehen. Groß, bunt, kraftvoll. Bereit zu erblühen und wieder zu vergehen. Ein tiefer Atemzug öffnet die Lungen des Mannes. Er ist bereit, weiterzuwachsen. Er spürt, wie sich das Leben in ihm erneuert und langsam an die Erdoberfläche drängt. Kitzeln bereits die ersten Ideen an seinem Bewusstsein? Er dreht sich vom Grab weg und geht in die andere Richtung. Er zieht seine Füße aus dem nährenden Schlamm. Langsam. Ohne Hast. Hinter ihm strahlt der Regenbogen weiterhin in allen Farben. Umschließen sie ihn?

Ein Grashalm schaut ihm stolz nach. So geknickt, wie er ihn zum Grab gehen sah, so aufgerichtet sieht er ihn jetzt davonschreiten. Er sieht die neuen Wurzeln des Mannes, wie sie durch seine Füße wachsen. Nicht mehr mit seiner Frau verwoben, sondern mit der Erde. Verwurzelt mit der Erde, aufgerichtet zur Sonne, dem Fluss des Lebens folgend und die Farben der Gefühle mitnehmend. Und mit ihm verblasst der Regenbogen langsam wieder, doch mit der Gewissheit des Wiedersehens.

 

Perspektive

Der Text erzählt von einem Wandlungsprozess, der weit über den Abschied von einer verstorbenen Frau hinausgeht. Was als Trauer beginnt, enthüllt sich als Auflösung eines alten Selbst. Die anfängliche Gefühlsstarre, diese braune undefinierbare Masse, steht für einen psychischen Ballast, der nicht verarbeitet, sondern losgelassen werden muss. Der Mann erkennt im entscheidenden Moment, dass es nicht um sie geht. Seine Trauer gilt jenem Teil seiner selbst, der nur in Beziehung zu ihr existieren konnte. Die verkrampften Hände, die Grashalme ausreißen, offenbaren die Illusion der Kontrolle. Er selbst ist der Grashalm, dem die Wurzeln entzogen wurden, und wie das Gras muss auch er sterben, um verwandelt zu werden.

Am tiefsten Punkt, im symbolischen Fall in die Dunkelheit, spaltet sich das Bewusstsein. Er sieht sich selbst fallen, während er am Grabrand kniet. Ein Teil stirbt, ein Teil beobachtet. Der Beobachter ist das, was übrig bleibt, was weitergeht. Mit diesem Erkennen beginnt das neue Leben. Die Farben, die sich im Regenbogen spiegeln, stehen für die Rückkehr der differenzierten Gefühle. Freude, Dankbarkeit, Trauer, Liebe und Hoffnung lösen die braune Masse auf. Das Herz öffnet sich nicht trotz des Schmerzes, sondern durch ihn hindurch. Das Grab füllt sich mit allem Abgestorbenen, und so funktioniert Heilung. Die Wunde schließt sich nicht durch Verdrängung, sondern indem alles, was sterben musste, seinen Platz findet. Die Erde nimmt es auf, kompostiert es und macht es fruchtbar für Neues.

Langsam richtet er sich auf und zieht seine Füße aus dem nährenden Schlamm. Seine Haltung verändert sich grundlegend. Nicht zurück zur Frau, sondern nach vorne ins Leben. Neue Wurzeln wachsen, nicht mehr horizontal zu einem anderen Menschen, sondern vertikal in die Erde selbst, in das tragende Ganze, das ihn empfängt. Das ist keine Isolation, sondern Verwurzelung im eigenen Sein, in der tragenden Kraft des Lebens selbst. Er ist nicht mehr definiert durch die Beziehung zu ihr, sondern durch seine eigene Verbindung zum Grund des Seins. Was gestorben ist, wird nicht begraben, sondern verwandelt. Der Ort des Todes wird zum fruchtbaren Boden. Der Mann geht nicht von seiner Frau weg, er geht in sein eigenes Leben hinein, das nun auch ihre Abwesenheit umfasst und gerade dadurch seine neue Form findet. Wahre Transformation geschieht nicht durch Festhalten, sondern durch Hingabe an den Fluss des Lebens. Wer loslässt, geht nicht verloren, sondern wird neu verwurzelt.

 
 
 

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