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Eine perfekte Familie

Ein reich gedeckter Tisch aus massivem Eichenholz. In der Mitte stehen verschiedene Teller. Falscher Hase, Kartoffeln mit Petersilie, ein frisch gepflückter grüner Salat mit Tomaten und Zwiebeln. Eine zusätzliche Schüssel für die Bratensoße steht daneben. In einer Kanne steht frisch gepresster Orangensaft, daneben ein gekühlter Weißwein. Das Tischtuch ist kunstvoll, aber schlicht bestickt und die früheren Patzer wurden wieder sauber gewaschen. Das Besteck ist etwas klobiger als das alltägliche. Die Messer haben einen etwas dickeren Griff, die Spitzen der Gabeln sind etwas länger und der Löffel ist etwas tiefer gebogen und mit kleinen Mustern verziert. Es ist ein Abend, der sich von den anderen Abenden abheben soll. Vater und Mutter haben sich, wie das Besteck, etwas weniger alltäglich angezogen. Der Vater hat statt der Hausschlapfen Schuhe angezogen, obwohl sie zu Hause geblieben sind. Die Mutter ist anders als sonst geschminkt. Sie lächelt öfter als sonst, als ob eine versteckte Videokamera mitfilmen würde.

Es sind die Momente vor dem Fotografieren, in denen die Personen plötzlich einfrieren, als würden sie das Foto bereits vorab inszenieren. Eine Gruppe von Menschen bewegt sich noch eilig. Die Großen sollen nach hinten gehen. Es werden die typischen Scherze gemacht, dass man den Jüngeren oder Attraktiveren die vorderen Plätze überlassen solle. Man möchte sich ja selbst lieber verstecken. „Aber nein, gerade du solltest doch vorne stehen.“ Dieser Satz erzeugt ein ruhiges, gesellschaftliches Gelächter. „Ich verstecke mich lieber hinter deiner Schönheit.“ Die ältere Frau lächelt, während sich ihre Falten träge nach oben schieben. Die Haare werden gemacht. Schnell und etwas hektisch, denn die eigene Eitelkeit soll nicht allzu deutlich auf dem Silbertablett der gesellschaftlichen Beobachtung serviert werden. Beim Umdrehen des Kopfes werden die Haarsträhnen noch einmal geschüttelt. Einmal, zweimal. Ein kontrollierender Blick auf das eigene Gewand. Sitzt das Hemd richtig? Bedeckt der Rock meine Knie? Die Spannung steigt. Die Augenpaare derjenigen, die gleich fotografiert werden, suchen das Objektiv, das sie einfangen wird. Die Augen werden ein wenig größer. Die Männer ziehen die Bäuche ein und blasen die Lungen auf, um stattlicher auszusehen. Die Frauen bringen ihr entzückendes Lächeln zum Vorschein, pressen die Brüste nach vorne und positionieren die Beine elegant. Angestrengt suchen die Arme nach der richtigen Pose, um leger zu wirken, obwohl sie vor Anspannung bereits zittern. Der Aufforderung „Cheese” wird brav nachgekommen, und in diesem Moment steht die Gruppe plötzlich völlig still. Keine Bewegung ist zu sehen und kein Atemzug ist zu hören. Der Moment friert für die Ewigkeit ein und offenbart die Unnatürlichkeit sozialer Situationen. Ohne die Fotografie hätte sich diese Gruppe niemals in dieser Form gezeigt. Ein Schmetterling, der in seiner chaotischen Flugbahn vorbeifliegt, wundert sich, warum diese Lebewesen plötzlich eingefroren sind. Er selbst bleibt in seiner natürlichen Schönheit, ohne posieren zu müssen und ohne der Zukunft zeigen zu müssen, wie schön die Vergangenheit war. Klick.

Die Mutter legte ihren erwachsenen Kindern ein Stück vom falschen Hasen auf den Teller. In diesem Alter verhalten sich Kinder anders als früher. Als sie noch bei ihren Eltern wohnten, wurden Kämpfe ausgetragen, Grenzen ausgelotet und um Rollen gestritten. Türen knallten und es wurde aufbegehrt. Diese Zeiten waren längst vorbei, das letzte Echo der zugeknallten Türen längst verstummt. Die Kinder bedankten sich für das Essen und gewährten der Mutter ohne Spitzfindigkeiten ein leises Gebet zu flüstern. So war sie eben. Ein Familienessen, wie sie es alle kannten. Eine nette Plauderei, kurze Erzählungen vergangener Erlebnisse, einige Fragen, die nicht beantwortet wurden, und einige Antworten, nach denen nicht gefragt wurde. Einer dieser Abende.

Niemand bemerkte den Unterschied beim Sohn. Innerlich schweißgebadet versuchte er, der Konversation zu folgen. Wie in Zeitlupe sah er, wie sich seine Familie zu ihren Geschichten in Szene setzte. Der Vater, ruhig, aber doch gestikulierend, zeigte, wie überrascht er war, als ein alter Kunde das Geschäft betrat. Seine Augen weiteten sich, um zu verdeutlichen, wie sehr ihn das überrascht hatte, da er ihn schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Seine Frau lächelte milde, als ob sie die Geschichte zum ersten Mal hören würde. Die Tochter nickte wohlwollend und lächelte sozial. Der Sohn blickte vorsichtig hinunter zu seinem Bauch, in dem das Messer steckte. Die eiserne Klinge war tief in seine Eingeweide eingedrungen. Hart und unbarmherzig. Die Wunde blutete schon lange nicht mehr. Sie war eingetrocknet, und die äußere Haut war verheilt. Eigentlich war doch alles wieder gut. Er kaufte ein weißes Hemd eine Nummer größer, damit der Griff des Messers weniger leicht zu sehen war. Wenn er sich beim Sitzen vorbeugte, sah man es kaum noch. Nur Umarmungen waren noch immer schwierig. Wenn er nicht aufpasste, spürte er den stechenden Schmerz der familiären Umarmung. Deshalb schüttelte er lieber Hände und verteilte Luftküsse. Er konnte sich nur noch dunkel an die Zeit erinnern, in der er ohne Messer gelebt hatte. Wie frei sich das Leben damals angefühlt hatte. Er war neidisch, wenn er in die Runde blickte und wusste, dass die anderen diesen Schmerz nicht fühlen mussten. Es war eine dramatische Szene gewesen, als seine Schwester ihm plötzlich das Messer in den Bauch gestoßen hatte. Sie wollte ihn nicht verletzen, zumindest nicht bewusst. Sie wollte einfach nur sie selbst sein. Und er wollte sie immer unterstützen. Der große Bruder, der seiner kleinen Schwester half.

Schon als kleine Kinder waren sie unterschiedlich. Er war so groß wie sein Vater, sportlich gebaut und mit einem schnellen Verstand gesegnet. Seine Schwester wirkte ebenso agil, doch ihre Knochen waren porös. Wie oft brachen ihre Knochen, selbst bei den leichtesten Stürzen. Er erinnerte sich noch an den gemeinsamen Ausflug, als sie Kinder waren. Er war stolz darauf, von einem Sprungbrett zum nächsthöheren zu klettern und schließlich aus zehn Metern Höhe ins Wasser zu springen. Seine Eltern waren stolz auf ihn und klatschten ihm Beifall. Damals wussten sie noch nicht, wie zerbrechlich seine Schwester war. Sie eiferte ihrem großen Bruder nach. Doch als sie vom 3-Meter-Brett sprang, klatschte sie ungeschickt auf die Wasseroberfläche und brach sich das Handgelenk. Als sie vor Schmerz schrie, dachten sie zunächst, sie habe sich nur erschreckt. Ein Wasserklatscher war schließlich nicht gefährlich. Da sie jedoch tagelang jammerte, ließen die Eltern schließlich gegen ihre intuitive Einschätzung die Hand von einem Arzt untersuchen, der tatsächlich einen Bruch feststellte. „Nur von Wasser?”, fragte der Vater den Arzt mehrfach. Ab diesem Moment brach sie sich immer wieder einen Knochen. In belanglosen Situationen: Wenn sie gegen einen Baum lief, sich die Finger einklemmte oder beim Eislaufen hinfiel. Routiniert wurde sie zum Arzt gebracht, wo ihr eine Schiene oder ein Gipsverband angelegt wurde, bis die Wunde verheilt war. Ihre Eltern konnten nicht glauben, dass es sich tatsächlich um Knochenbrüche handelte, auch wenn die Ärzte dies bestätigten. Es war, als würde man einem kleinen Kind ein Pflaster auf eine nicht vorhandene Wunde kleben, damit es sich endlich beruhigt. So gingen sie mit ihr zum Arzt, damit sie endlich aufhörte zu jammern. „Ein Bussi und dann ist es wieder gut“, sagte ihre Mutter immer wieder, obwohl die Tochter einen Gips bekam.

Nur ihr Bruder glaubte ihr. Es machte ihn rasend, dass seine Eltern sie hinstellten, als würde sie sich alles nur einbilden. „Sie hat sich wirklich das Bein gebrochen!”, schrie er seine Eltern nach einem Unfall an. Er wollte sie unterstützen, doch seine Eltern blieben ungerührt und sie fühlte sich voller Scham. Sie wollte doch selbst glauben, dass nichts sei. Wenn die Eltern sagten, es sei nichts, dann würde es schon stimmen. Irgendwann bemerkte er, dass sie nicht mehr jammerte, selbst wenn ihr ein Knochen brach. Einmal hörte er es sogar auf dem Spielplatz. Er lief zu ihr hin und sah, dass sie gerade losweinen wollte. Doch dann riss sie sich zusammen, so wie es ihre Eltern ihr beigebracht hatten. Sie presste die Lippen zusammen und meinte, dass nichts passiert sei. „Aber ich habe es doch gehört”, insistierte ihr Bruder. Sie ging einfach weg und schaukelte weiter. Er sah ihren schmerzverzerrten Blick, als sie weiterschaukelte, um den Anschein zu vermitteln, dass nichts geschehen sei. Er sah, wie sie nach Hause humpelte, wie sie am Esstisch saß, oberflächlich lächelte, sich in der Nacht aber in den Schlaf weinte. Es dauerte einige Wochen, bis ihr gebrochenes Bein wieder heilte. Es war keine optimale Heilung, aber aus ihrer Sicht ausreichend, denn eigentlich war ja nie etwas gewesen. Seitdem brach sie sich nie wieder einen Knochen. Zumindest sagte sie es nicht mehr. Ihre Eltern bemerkten die Veränderung gar nicht. Die früheren Arztbesuche passten nicht in ihr Weltbild, und sie vergaßen die Unfälle noch während sie passierten. Es war alles so, wie es sein sollte. Nur er sah das Leid seiner Schwester. Er sah, wie sie immer wieder bestimmte Teile ihres Körpers schonte, weil wieder einer ihrer Knochen gebrochen war. Gute Miene zum bösen Spiel. Er sah, wie sie nie richtig gesund wurde, Fehlstellungen entwickelte und ihr Leben immer mehr einschränkte. Sie sprang nie wieder von einem Sprungturm ins Wasser, verzichtete auf das Klettern und fand keine Freude mehr am Fahrradfahren. Sie ging nur noch spazieren, am liebsten auf asphaltierten Wegen. Für sie war es befreiend. Sie entschied sich dafür, den versteckten Schmerz zu ertragen, anstatt sich der öffentlichen Scham auszusetzen, dass sie sich ihre Schmerzen nur einbilde. Wenn ihr gesagt wurde, dass es keinen Schmerz gibt, dann durfte es auch keinen geben.

Ihr Bruder konnte diese Situation kaum ertragen. Nachdem seine Eltern sein Aufbegehren mit stummer Gleichgültigkeit ignoriert hatten, beschützte er sie fortan ständig. Am liebsten hätte er sie in Watte gepackt, damit ihr nie wieder etwas passieren könnte. Doch entgegen all seiner Bemühungen zerbrach ihr Leben an der harten Realität.  In ihrem ohnehin eingeschränkten Leben raubte er ihr noch mehr Freiheit, in der Hoffnung, seiner Schwester damit Sicherheit zu geben. Er trug ihre Schultasche, gab ihr die Hand beim Treppensteigen, achtete auf Türen, die aufgingen, bemerkte entgegenkommende Fahrradfahrer auf dem Gehweg bereits aus der Ferne und ging dann einen Schritt vor ihr, um sie zu beschützen. Er wollte ihr einfach nur helfen und bemerkte nicht, dass er sie damit noch mehr einschränkte.

Plötzlich steckte das Messer in seinem Bauch. Es war einer dieser Tage, an denen er ihr wieder davon abriet, etwas Gefährliches zu tun. Sie standen beide in der Küche und bereiteten das Abendessen zu. „Warum musst du unbedingt bei deinem ersten Date zu einer Hochschaubahn gehen?”, fragte er sie vorwurfsvoll. „Geht doch spazieren! Hinunter zum Restaurant, wo alles gut beleuchtet ist. Da gibt es auch diese Parkbank, die dir so gut gefällt.“ Sie schüttelte nur den Kopf. „Lass mich doch einfach machen, was ich will“, insistierte sie. „Aber du darfst doch machen, was du willst.“ „Dann lass mich doch selbst entscheiden.“ „Du darfst ja selbst entscheiden, aber du musst halt auch vorsichtig sein.“ „Aber ich will nicht immer vorsichtig sein.“ „Na, dann passiert eben etwas.“ „Dann passiert eben was!“ „Aber ich will nicht, dass du dir wieder einen Knochen brichst!“ „Es sind immerhin noch meine Knochen!“ „Du bringst dich noch irgendwann um!“ „Dann lass mich eben sterben!“, schrie sie wutentbrannt. Das Messer, mit dem sie gerade noch die Karotten geschnitten hatte, hielt sie immer noch in der Hand. Je wütender sie wurde, desto fester hielt sie es. Sie hielt es fest, weil sie sich irgendwo festhalten musste. Ein Stück nach dem anderen schnitt sie von der Karotte ab. Jedes Mal begegnete die scharfe Klinge des Messers der dünnen Haut der Karotte. Der Druck stieg und der Stahl schnitt das Gemüse erst langsam, dann immer schneller. Es nahm Fahrt auf, bis es mit einem Klack vom Schneidbrett gestoppt wurde und ein Stück Karotte wegrollte. Das Klacken wurde immer schneller. Klack. Klack. Klack. „Aber ich ...” „Aber du ...” „Aber ich ...” Als sie sich rasend vor Wut zu ihm umdrehte, hielt sie immer noch das Messer in der Hand. Anfangs spürte sie nicht, dass es bereits tief in seinem Körper steckte. Sie sah nur seine starren Augen und schrie ihn an. Erst als sie sein schmerzverzerrtes Gesicht bemerkte, hörte sie auf zu schreien. Eine Träne lief ihm über die Wange, er röchelte leise. In diesem Moment bemerkte sie das Blut an seinem Bauch, das dunkel über ihre Finger floss. Sie sprang zurück und knallte mit zitternden, blutverschmierten Händen hart gegen den Kühlschrank. Er blickte hinunter auf seinen Bauch und sah das Messer in ihm stecken. Unendliche Schmerzen schossen durch seinen Körper. Es war, als würde Lava durch seinen Bauch fließen und alles in seinem Inneren zerfressen. Schließlich floss das Blut aus seinem Mund. Er sank auf die Knie und fiel auf den Rücken. „Nein, nein, nein …“, schluchzte sie nur. „Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Nein, nein, nein ...“ Er wusste nicht mehr, wie lange er auf dem Küchenboden lag. Eingebettet in stechende, pulsierende Schmerzen konnte er zum ersten Mal nur für sich da sein. Vielleicht hatte sich seine Schwester etwas gebrochen. Aber es gab kein Draußen mehr. Es gab niemanden anderen mehr für ihn. Er war plötzlich ganz allein mit sich selbst und seinem Schmerz. Tränen rannen leise aus seinen Augen, strichen ihm zärtlich über die Wangen und tropften neben ihm zu Boden. Zum ersten Mal war er zärtlich zu sich selbst. Er hielt das Messer in der Hand. „Nicht das Messer hinausziehen”, hörte er sich innerlich sagen, „damit ich nicht verblute.” Schmerzen. Unfassbare Schmerzen, die ihn daran hinderten, zu schreien.

Wie in einem Traum hörte er die Stimmen der anderen. Er röchelte und versuchte, Worte zu finden, um zu erklären, was passiert war. Es war doch nicht ihre Schuld. Irgendwann waren seine Eltern da. Zum ersten Mal sah er Mitleid in ihren Augen. Ärzte waren auch da. Seine Schwester war da. Freunde waren auch da. Aber er hörte nicht viel und konnte nur wenig wahrnehmen. Nur seinen Schmerz und sich selbst. Eine unbestimmte Zeit später – es waren Tage oder Wochen – saß er in einem weißen, anonymen Spitalszimmer. Der Arzt redete mit ihm, wie nur Ärzte reden. Menschen, die täglich Schicksale begleiten, sodass selbst traumatische Erlebnisse anderer Menschen zu ihrer Routine geworden sind. Er war ein weiterer Patient, der einen Unfall gehabt hatte. Röntgenbilder, Blutuntersuchungen, eine Akte. „Wir werden das Messer nicht entfernen können, da es sonst zu inneren Blutungen kommen würde“, hörte er den Arzt sagen. „Es wird noch einige Jahre dauern, bis der Schmerz vollkommen verklungen ist. Da müssen Sie jetzt leider durch. Eine Heilung können Sie nicht erzwingen. Ich rate Ihnen, sich zu schonen und etwas kürzer zu treten. Wenn Sie Fragen haben, können Sie jederzeit vorbeikommen.“ Dann kam der nächste Patient zum Arzt.

Er erinnerte sich daran, wie er das Krankenhaus verlassen hatte. Das Messer steckte noch immer in seinem Bauch. Er sah sich in der belebten Straße um. Die Welt ging einfach weiter wie bisher. Ein Auto hupte, als ein Taxi abrupt anhielt. Der Taxifahrer gestikulierte aufgebracht in den Rückspiegel, während er eine ältere Frau einsteigen ließ. Die Tür wurde geschlossen, das Taxi blinkte und fuhr weiter. Der Verkehr wurde nur kurz unterbrochen, dann war die Routine wiederhergestellt. Er sah eine rote Ampel. Die Menschen warteten geduldig auf den beiden Straßenseiten, bis die Ampel grün zeigte. Ein Klicken verriet auch Blinden, dass sie nun die Straße überqueren konnten. Eilig wechselten die Menschen die Straßenseite. Das Klicken wurde schneller, das grüne Licht begann zu blinken, und mit eiligen Schritten erreichte auch der Letzte den sicheren Gehweg, bevor die Autos wieder unbarmherzig über den Zebrastreifen fuhren. Das Leben ging weiter. Doch er selbst stand noch immer vor der Tür des Spitals. Seine Hand berührte den Griff des Messers, das er unter seinem Hemd versteckt hatte. Von außen war es nicht gleich zu erkennen. Doch er spürte es tief in seinem Inneren. „Nicht hinausziehen, sonst verblutest du“, hörte er als Echo in seinen Gedanken widerhallen. Er fühlte sich so unendlich allein mit seinem Schmerz.

In den ersten Tagen hatte er noch mit seinen Freunden darüber gesprochen. Danach hatten sie aber nicht mehr nachgefragt. Sie waren sich unsicher, was sie sagen sollten. Immerhin konnte man nichts tun. Wie steht er nun zu seiner Schwester? Zum Glück ist ihnen das nicht passiert. Gesprochen wurde nur noch hinter seinem Rücken. Das war weniger unangenehm. Vielleicht wollte er auch einfach nicht darüber sprechen. Es ist eine weitere Geschichte, die durch Freundes- und Bekanntenkreise reiste. „Hast du schon gehört?” „Ja, ganz schrecklich. Ich wüsste gar nicht, wie ich damit umgehen würde.“

In den ersten Tagen saß er allein in seiner Wohnung. Er hoffte, dass die Schmerzen irgendwann nachlassen würden. Er konnte nicht einmal mehr fernsehen oder lesen. Der Schmerz holte ihn immer wieder in die Realität zurück. Auf die brutalste Art und Weise musste er sich diesmal selbst beschützen.

Seine Schwester spürte eine tiefe Schuld, die sie kaum ertragen konnte. Wie oft hatte sie sich wegen ihrer eigenen Krankheit schon schuldig gefühlt? Wie viel Scham musste sie all die Jahre ertragen? Obwohl sie selbst nicht schuld war, fühlte sie sich immer schuldig. Schuldig, ihren Eltern zur Last zu fallen. Schuldig, ihrem Bruder zur Last zu fallen. Sie war eine Außenseiterin, die immer weniger am Leben teilnehmen konnte. Sie versuchte stets, ihre eigenen Schmerzen und die gebrochenen Knochen zu verstecken, in der Hoffnung, ihre Schuld zu verringern. Doch jeder gebrochene Knochen, dem kein Mitgefühl und keine Achtsamkeit entgegengebracht wurde, zerbrach ihr Herz ein wenig mehr. Ihre harte Schale und die gute Miene zum bösen Spiel ermöglichten ihr ein Leben, das ihr zuvor verwehrt geblieben war. Doch in diesem Leben konnte sie keine weitere Schuld mehr auf sich laden. Sie konnte keine weitere Scham ertragen. Neben ihrem gebrochenen Herzen konnte sie sich nicht eingestehen, das Herz ihres Bruders ebenfalls gebrochen zu haben. Sie konnte sich nicht eingestehen, neben all ihrem eigenen Leid auch noch das Leid anderer verursacht zu haben. Ihre Gedanken und Gefühle kreisten unnachgiebig um sie. Wie ein Wirbelsturm, der nicht ruhen wollte, kreisten ihre Gedanken um ihre Tat. Es konnte nicht sein, dass sie jemandem Leid angetan hatte. Es konnte nicht sein, dass jemand anderes leidet. Hatte sie das nicht von ihren Eltern gelernt? Sie spürte bereits so viel Leid, dass sie kein weiteres ertragen konnte. Es war nicht ihre Schuld. Es konnte nicht ihre Schuld gewesen sein. Sie hatte doch nur Gemüse geschnitten. Ja, daran konnte sie sich noch erinnern. Das Messer war etwas Gutes. Ohne Messer kann man schließlich kein Gemüse schneiden. Wie sollte man sonst Karotten schneiden?

„Er hat mich wütend gemacht. Er hat mich eingesperrt. Ich wollte doch nur nicht eingesperrt sein. Das Leben hat mich schon zu viel eingesperrt. Ich wollte einfach nur frei sein. Ich wollte einfach nur frei sein und mir Essen kochen. Warum ist er mir ins Messer gelaufen? Warum ist er so wütend geworden? Warum hat er mich ständig eingesperrt? Warum hat er mich nicht einfach leben lassen? Ich war doch ganz allein in der Küche. Und er wollte mich wieder einsperren! Ich habe gerade Gemüse geschnitten. Was ist daran schlecht? Er wollte mich daran hindern. Warum darf ich nicht einmal mehr für mich selbst kochen? Es tut mir leid für ihn, aber es war nicht meine Schuld.“

„Willst du noch Sauce haben?“, fragte sie ihren Bruder. Er nickte und sie goss noch mehr über seinen falschen Hasen. In diesem Moment brannte der innere Schmerz noch stärker in ihm. Es war, als würde das Eisen heiß werden, so stark war das Gefühl, die Klinge tief in seinem Inneren zu spüren. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor ihn jemand sah. Er hatte gelernt, sich so zu bewegen, dass die anderen seine Schmerzen nicht sahen. Seine Familie war gut darin geschult, das Leid anderer zu übersehen. So lange nahm er das Leid seiner Schwester wahr. Jeden Bruch fühlte er empathisch mit. Auch jetzt bemerkte er im Augenwinkel, wie sie einen Finger vom Messer abhob, um ihn zu schonen. Doch er spürte kein Mitleid mehr. Er benötigte seine Energie für sich selbst. Er konnte sie nicht mehr retten, er musste sich selbst retten. Der nicht enden wollende Schmerz zehrte an seinen Kräften. Die restliche Energie verwendete er, um diese Schmerzen nach außen zu kaschieren. So, wie seine Schwester ihre Schmerzen versteckt hatte. In dieser Familie hatte niemand Schmerzen. „Der falsche Hase schmeckt sehr gut”, bedankte er sich bei seiner Mutter. Sie lächelte. Nach dem Essen waren alle bereit für das nächste Familienfoto. Sie blickten in die Kamera, öffneten die Augen, versteckten ihre Schmerzen und warteten auf den Auslöser des nicht vorhandenen Fotografen. Eine perfekte Familie. Klick.

 

Perspektive

Diese Geschichte offenbart ein Familiensystem, das sich durch die systematische Verleugnung innerer Realitäten auszeichnet. Der festlich gedeckte Tisch, das besondere Besteck, die ungewohnte Kleidung und das geschminkte Lächeln sind dabei mehr als nur eine Fassade. Sie werden zur existenziellen Notwendigkeit einer Familie, die gelernt hat, in der ständigen Pose zu leben. Die Metapher des Fotografierens durchzieht den Text wie ein roter Faden. Die Menschen frieren in unnatürlichen Posen ein, hören auf zu atmen und verwandeln sich in Statuen ihrer selbst. Der Schmetterling, der in seiner natürlichen Schönheit vorbeifliegt, ohne posieren zu müssen, steht für das, was dieser Familie verloren gegangen ist. Die Erlaubnis, authentisch zu existieren. Das Messer im Bauch des Sohnes wird zur körperlichen Wahrheit dessen, was ihm widerfahren ist. Das größere Hemd, die Vermeidung von Umarmungen und die kontrollierten Bewegungen beschreiben den Alltag eines Menschen, der gelernt hat, seinen Schmerz zu verstecken. Der Arzt, der sagt, das Messer könne nicht entfernt werden, spricht wie ein Stellvertreter der Realität. Heilung bedeutet nicht, so zu tun, als sei nichts gewesen. Heilung bedeutet, mit der Wunde zu leben, ohne daran zu verbluten.

Die Schwester mit den porösen Knochen verkörpert eine zu gefährliche Wahrheit, als dass sie anerkannt würde. Ihre wiederholten Knochenbrüche sind real, doch ihre Eltern können diese Realität nicht akzeptieren. Sie würde ihr Weltbild zerbrechen. „Ein Bussi und dann ist es wieder gut“ wirkt wie ein Mantra der Mutter. Beruhige dich, es darf nicht sein, also ist es nicht. Die Tochter lernt eine perverse Lektion. Schmerz, der nicht gesehen wird, existiert nicht. Sie schaukelt weiter mit gebrochenem Bein, lächelt am Esstisch, während ihr Körper zerbricht, und die Fassade bleibt bestehen. Der Bruder wird zum Zeugen und Beschützer, der Einzige, der ihre Schmerzen ernst nimmt. Aus dieser übergroßen Verantwortung erwächst eine Dynamik, die als Liebe beginnt und in Übergriffigkeit kippt. Der Messerstich geschieht im Moment der Rebellion. Ihr verzweifelter Satz, sie notfalls sterben zu lassen, ist die rohe Sprache eines Menschen, der lieber den eigenen Körper riskiert, als innerlich zu ersticken. Die Klinge verdichtet die tragische Wahrheit. In diesem System verletzt Befreiung zwangsläufig den anderen. Die Schwester kann diese Verantwortung nicht tragen und ist auf eine Umdeutung angewiesen, um psychisch zu überleben. Sie wendet die erlernten Mechanismen an und wird zu ihren Eltern.

Die Geschichte erzählt von einer Familie, die gelernt hat, Schmerz zu verleugnen, um ihr Selbstbild zu schützen. Die Knochenbrüche des Mädchens und die Messerwunde des Bruders sind zwei Ausdrucksformen desselben Themas. Es ist die Weigerung, das Leiden eines Menschen wirklich zu sehen und ihm zu begegnen. Am Ende sitzt die Familie wieder zusammen. Der falsche Hase, die Bratensoße, das liebevoll gedeckte Bild von Familie. Die Kamera braucht es gar nicht mehr. Der Blick, vor dem alle posieren, ist längst in ihnen eingezogen. Alle öffnen die Augen etwas weiter, lächeln über das Tellergericht hinweg und halten den Atem an. Mit diesem Klick wird festgeschrieben, woran diese Familie glaubt. Hier ist alles in Ordnung. Hier hat niemand Schmerzen. Hier sind sie eine perfekte Familie.

 
 
 

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