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Ein pietätvoller Abschied

Ich musste schmunzeln. In meinem schwarzen Anzug, meiner schwarzen Hose, mit schwarzen, frisch polierten Schuhen und meinem weißen Hemd. Irgendetwas kam an die Oberfläche, was ich nicht unterdrücken konnte. Ein leichtes Kribbeln im Bauch. Das Gefühl, das Aufkommende nicht mehr ignorieren zu können. Aber es war jetzt einfach unpassend.

Zum ersten Mal fühlte ich es, als ich das Schild am Eingang las: „Bitte seien Sie pietätvoll.“ „Pietät, das Pflichtgefühl“, hörte ich meine Stimme sagen. Die Pflicht zu einem gewissen Gefühl. Ich verstand es kognitiv. Es klang passend. Aber mein Gefühl war ein anderes. Es war das erste Fragment der Absurdität dieser Beerdigung. Ich beobachtete die anderen Trauergäste. Sie blickten zu Boden und verhielten sich pietätvoll. Sie alle waren schwarz gekleidet, was mich an Pinguine erinnerte. Mit ihren viel zu kurzen Beinen watschelten sie unbeholfen auf dem Land. Nach links und rechts wackelnd. Mit Flügeln, die ihnen nicht erlaubten zu fliegen. Vögel, die weder laufen noch fliegen konnten, watschelten am Land entlang, obwohl sie eigentlich unter Wasser jagten und dennoch Luft zum Atmen brauchten. Ein evolutionärer Scherz der Natur. Es war so kalt, dass sie sich alle eng aneinanderkuschelten. Sie lebten in der Antarktis, wo es schweinekalt war. Und sie konnten sich nicht einmal einen Windschutz bauen. Ihnen war einfach scheißkalt. Deswegen watschelten sie erfroren zusammen, um sich gegenseitig vor dem eisigen Wind zu schützen. Sehr pietätvoll.

Er stellte sich zu den anderen Angehörigen. Die Familie stellte sich an den Kopf des Sarges. Die Aufstellung war hierarchisch angeordnet. Zuerst standen der Vater und die Mutter des Verstorbenen, dann er selbst als Bruder, die Witwe, die Kinder und schließlich die übrigen Verwandten. Die Menschen gingen um den Sarg herum, schüttelten Hände, nuschelten „Herzliches Beileid” und warfen einen kurzen Blick in die Augen der Verwandten, bevor sie wieder zu Boden blickten. Er konnte nicht anders, als ebenfalls auf den Boden zu blicken, um herauszufinden, ob es dort etwas Besonderes zu sehen gab. Diese Geste amüsierte ihn auf gewisse Weise. Was wäre, wenn es auf dem Boden etwas zu finden gäbe? Vielleicht wertvolle Münzen, die man suchen musste. Und deswegen blickten die Personen auf den Boden, um diese Münzen zu entdecken.

Er stellte sich vor, wie eine Trauernde plötzlich eine dieser Münzen sah. Gold schimmernd, halb unter dem Teppich der Halle versteckt. Erschrocken blickte sie auf den Boden und kontrollierte mit schnellen Blicken, ob jemand den Fund bemerkt hatte. Sie wollte die Münze unbedingt aufheben, aber es musste pietätvoll wirken. Kurzentschlossen hustete sie in ihre Hand und wollte sich rasch bücken. Doch das wäre noch zu auffällig gewesen. Sie blieb stehen. Hektisch suchte sie ein Taschentuch in ihrer Handtasche. Sie tat so, als ob sie sich schnäuzen würde, ließ das Taschentuch jedoch kurz vor dem Ausblasen fallen. Die Szene erinnerte sie an eine Werbung aus den 90er Jahren. Darin steht eine schöne Frau mit ihrem Ehemann an einer Bar und flirtet mit einem anderen Mann. Beim Hinausgehen lässt sie heimlich ein Taschentuch mit ihrer Telefonnummer fallen. Der angeflirtete Mann ruft sie am Abend an und sagt: „Oh! It's a feh!”, den Namen des Herstellers. Ähnlich elegant und versteckt wollte auch sie sich verhalten. Selbstbewusst bückte sie sich, versteckte die Münze geschickt im Taschentuch und steckte ihren Schatz schnell in ihre Handtasche. Ängstlich blickte sie zu den anderen Anwesenden, um zu überprüfen, ob sie entdeckt worden war. Als sie keine auffällige Reaktion bemerkte, ging sie zum Nächsten in der Reihe und sagte mit einem versteckten Lächeln des Erfolgs: „Herzliches Beileid”.

Er fand diese Vorstellung amüsant, unterdrückte seine Gefühle jedoch, als der Pfarrer den Raum betrat. Für die anderen Anwesenden schien es normal zu sein, nur er bemerkte seine aufkommenden Gedankengänge. Ein älterer Mann mit einem weißen Rock, oder war es ein Kleid, einem roten Schal und einer Halskette mit einem Kreuz. Hätten sich bestimmte Menschengruppen nicht über Jahrhunderte hinweg gegenseitig eingeredet, dass dies normal sei, hätten sie alle den gleichen Gesichtsausdruck wie er. Wie gebannt starrte er auf diesen Mann, der eine rauchende Kugel mit sich trug, als wäre es das Normalste der Welt. Gab es wohl einen Rauchmelder in einem Bestattungsraum? Der Rock – oder eben das Kleid – war ihm viel zu lang. Immerhin war es frisch gebügelt. Doch seine Straßenschuhe waren alt und abgetragen. Er fragte sich, ob dieser Mann schon einmal Sex gehabt hatte. Was wäre, wenn er selbst in diesem Gewand zur Beerdigung seines Bruders erschienen wäre? In einem weißen Kleid, einem roten Schal und einer Halskette? Er hätte auch diese rauchende Kugel mitgenommen. Was wäre passiert, wenn er völlig ernst in den Saal eingetreten wäre? Hätten die Leute dann etwas gesagt? Oder wären sie still und pietätvoll geblieben?

„Lobet den Herrn“, hörte er ihn sagen und sah, wie der Gottesanbeter die Hände dramatisch in den Himmel erhob. Es wirkte dramatisch. Als ob gleich ein Blitz einschlagen würde und er wäre der Blitzableiter gewesen. Sein Bruder hätte darüber gelacht. Er hätte es genauso absurd gefunden wie er. Sie waren sich ähnlich, stellten alles in Frage und beugten sich keinen Konventionen. Aber er war noch zu jung gewesen und hatte kein Testament verfasst, mit dem er diesen Zirkus hätte vermeiden können. Wahrscheinlich hätte er hineingeschrieben, dass alle Trauergäste in Hawaii-Hemden und bunten Kleidern erscheinen mussten, sonst wären sie von der Beerdigung ausgeschlossen worden. Am Eingang, neben dem Schild „Bitte seien Sie pietätvoll”, wäre ein Türsteher in einem Hawaii-Hemd gestanden. „Entschuldigen Sie, aber bei der Beerdigung müssen Sie ein Hawaii-Hemd tragen”, hätte er zu einem der Gäste gesagt. Der Mann sah entrüstet auf: „Ich habe kein Hawaii-Hemd!” Bevor er sich echauffieren konnte, zeigte der Türsteher auf einen mobilen Schrank mit Hemden in verschiedenen Farben und Größen. „Sie können sich gerne für die Beerdigung eines ausleihen.“ Der Mund des alten Mannes öffnete sich sprachlos, der Blick wandte sich zu der Garderobe, und missmutig ging er hinüber. Den letzten Wunsch des Verstorbenen durfte man nicht ablehnen, das wäre pietätlos gewesen.

Der alte Mann kam zum Grab, um das herum die Anwesenden in bunten Farben beieinanderstanden. Sie tranken Cocktails, die durch das hinzugefügte Trockeneis dampften. Im Hintergrund spielte eine Live-Band Swing-Musik, die Leute lächelten und plauderten. Auf einer Leinwand wurden Videos vom Verstorbenen abgespielt. Es wurden unterschiedliche Szenen gezeigt. Wie er als kleines Kind mit vollen Windeln freudestrahlend durch den Garten lief. Fotos von seiner ersten Strandburg, die er mit seinem Vater und Bruder erbaute. Sein erstes Fahrrad, auf dem er unbeholfen, aber mutig die Straße entlangfuhr. Sein erstes Moped als Jugendlicher, auf dem seine viel zu schlanke Freundin saß und beide durch die Helme grinsten. Seine beiden Zwillinge nach einer endlos langen Geburt, die wie zwei kleine, verschrumpelte Puppen in seinen Armen lagen, während er selig lächelte. Das Band einer neuen Straße, das er als junger Bürgermeister durchtrennte. Es waren all diese schönen Erinnerungen an sein Leben, und die Anwesenden feierten mit dem Verstorbenen die glücklichen Momente seines Lebens. Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, sah man ihn auf der letzten Videoaufnahme. Mit einem breiten Grinsen lächelte er den Anwesenden zu. „Schön, dass ich euch in meinem Leben haben durfte. Prost!“ Alle Gäste hoben die Gläser, sagten wie einstudiert „Prost!” und stießen an, als ob nicht ein Leben, sondern nur ein Jahr zu Ende ginge. Sie feierten ein Silvester. Ein Feuerwerk des freudvollen Abschieds.

Vier Männer in Schwarz nahmen den Sarg und trugen ihn zum Grab. Kalte Stille. Selbst die Träger blickten zu Boden und er hoffte, dass sie nicht den falschen Weg einschlugen. Vor dem bereits ausgehobenen Grab begann der Pfarrer wieder, monoton zu reden und dabei dramatische Bewegungen zu machen. Das war der Moment, in dem er nicht anders konnte, als zu schmunzeln. Das Bild war so absurd im Vergleich zu seiner Vorstellung, dass er das aufkommende Gefühl einfach nicht mehr unterdrücken konnte.

Er wischte sich mit der Hand über den Mund, um nicht bemerkt zu werden. Doch die Zwillinge hatten ihren Onkel bereits entdeckt. Sie waren sichtlich schockiert. Doch nur für einen kurzen Moment. Sie kannten ihren verstorbenen Vater und wussten, dass er ein ebenso schräger Vogel war wie ihr Onkel. Er hörte, wie es in ihren Köpfen ratterte, während sie versuchten, sein Verhalten zu verstehen. Dann zwinkerte er ihnen zu, so wie ihr Vater es immer tat, wenn er eine schelmische Idee hatte. Wie damals zu Weihnachten. Während alle um den Weihnachtsbaum standen, hatte er ihnen zugezwinkert. Im nächsten Moment regnete es weiße Konfetti von der Decke. Er hatte sie dort angebracht und im richtigen Moment eine Schnur gezogen, sodass alle von den weißen Papierschnipseln überdeckt wurden. „Weiße Weihnachten!”, rief er. Nach dem ersten Schrecken begannen alle zu lachen. Unkonventionell, lebendig.

Die Zwillinge sahen sich um. Erst jetzt schienen sie zu begreifen, wie unpassend dieser Abschied für ihren Vater war. Zunächst noch zögerlich, doch dann spürte er, dass auch sie begannen zu lächeln. Nur ein wenig. Drei Pinguine merkten plötzlich, dass es ein evolutionärer Scherz war, mit kurzen Beinchen in der Antarktis völlig erfroren zu stehen. „Warum stehen wir hier?”, fragte einer der Pinguine. Und der nächste begann intuitiv mit seinem Pinguinpopsch zu wackeln. Die anderen stiegen ein. Wenn sie schon nicht fliegen konnten, dann konnten sie wenigstens tanzen. Einer nach dem anderen begann zu wackeln. Da sie so nah beieinanderstanden, wurden die anderen auch mitgerissen. Die ersten Pinguine, die das bemerkten, empfanden das neue Wackeln als Zumutung. Sie wollten hier ruhig stehen und gemeinsam frieren, so wie es von der Natur vorgesehen war. Doch die Bewegung war mitreißend. Einer nach dem anderen folgte dem Rhythmus und die schwarz-weiße Masse an Lebewesen begann zu tanzen. Schritt für Schritt entfachte das Feuer, breitete sich aus und durch die innere Bewegung entstand Wärme in den Körpern. Nach anfänglichem Chaos entstand ein gemeinsamer Tanz. Sie stießen sich nicht mehr, sondern rissen sich im gleichen Takt gegenseitig mit. Das Stampfen ihrer Füßchen wirkte wie das Trommeln eines Urstammes. Hätten die Pinguine es gekonnt, sie hätten gesungen und gelacht. Vielleicht hätten sie auch ein Lagerfeuer entfacht.

Zunächst war das Lächeln der Menschen noch eingefroren. Doch er spürte bereits, wie es an die Oberfläche drängen wollte. Wie ein Vulkan, der kurz davorsteht, Magma in Lava zu verwandeln, leuchteten seine Augen mit denen der Zwillinge. Jetzt bemerkten es langsam auch die anderen. Zunächst waren sie verwundert, aber auch amüsiert. Während der verkleidete Priester monoton heilige Floskeln über den Verstorbenen aufsagte, den er nicht einmal kannte, begann in den Trauernden das Lebensfeuer zu brennen. Was hätten sie tun können? Wenn der Bruder und die Kinder des Verstorbenen lächelten, wie hätten sie dieses Verhalten sanktionieren können? Die nächsten lächelten. Die Mutter der Zwillinge strich ihren Kindern durch die Haare, als wollte sie ihnen sagen: „Ihr seid einfach zwei Lauser, wie euer Vater.“ Die nächsten sahen sie an und mussten ebenfalls schmunzeln. Der Vater stieß ihm liebevoll mit dem Ellbogen in die Hüfte und meinte: „Du bist genauso fürchterlich wie dein Bruder.“

Und dann ging es los. Anfangs versteckten sie ihre Gesichter noch hinter den Händen, doch dann prustete einer nach dem anderen los. Der Brandherd des Lebens war nicht mehr aufzuhalten. Es ging schnell. Manche kippten vor Lachen nach vorne über und stützten sich auf ihre Oberschenkel, andere hielten sich die Bäuche. Manche klopften sich gegenseitig auf die Schulter und jeder Lacher verstärkte den nächsten. Eine ältere Dame lachte so schrill, dass sie die anderen mitriss. Ein Jugendlicher grunzte unabsichtlich, als er Luft einsog, und goss damit noch mehr Öl ins lachende Feuer. Nur der Mann im Rock – oder war es ein Kleid? – wusste nicht, was geschah. Echte Lebenskraft war nicht seine Stärke. Die schwarz-weiß gekleideten Menschen lachten und prusteten lauthals, als der Sarg schrittweise unter die Erde gebracht wurde. Das Quietschen der Seile verstärkte das Lachen noch weiter. Selbst die Sargträger mussten kichern – in diesem Moment war einfach alles lustig. Tränen. So viele Freudentränen. Genau so hätte sich der Verstorbene seine eigene Beerdigung gewünscht. Es fehlten nur noch die Hawaii-Hemden und bunten Kleider. Er sah seinen Bruder durch den Sarg hindurch. Er blickte ihn an und zwinkerte ihm zu. „Danke, Bruder“, hörte er ihn sagen. Ein pietätvoller Abschied. Die Pflicht, sich liebevoll und authentisch von einem geliebten Menschen zu verabschieden. Die Menschen umarmten sich, fühlten sich, wärmten sich. Und plötzlich flossen die Tränen – aus schmerzhaftem Abschied und aus Freude über das gelebte Leben.

 

Perspektive

„Der pietätvolle Abschied“ ist eine satirisch-poetische Parabel über den Kontrast zwischen gesellschaftlicher Pietät und gelebter Authentizität. In der starren Choreografie einer Beerdigung erscheinen die schwarz gekleideten Gäste wie Pinguine, ein Symbol für Menschen, die Konventionen folgen, selbst wenn diese unbequem oder absurd erscheinen. Die Geschichte entfaltet sich zwischen zwei Wirklichkeiten, zwischen der rituellen Erstarrung mit monotonen Floskeln und der inneren Vision einer Feier voller Hawaii-Hemden, dampfender Cocktails und Swingmusik, in der das gelebte Leben geehrt wird. Was als unterdrücktes Kribbeln im Bauch beginnt, wird zu einer Kraft, die nicht mehr zu ignorieren ist. Das Schmunzeln des Erzählers ist dabei kein Akt der Respektlosigkeit, sondern eine tiefe Ehrerbietung gegenüber einem Bruder, der selbst ein schräger Vogel war.

Das Zwinkern zu den Zwillingen löst eine Kettenreaktion aus, die die gesamte Trauergemeinschaft erfasst. Einer nach dem anderen beginnt zu lächeln, zu prusten, zu lachen, bis sich die strenge Ordnung in wärmender Bewegung auflöst. Die Pinguine entdecken, dass sie nicht nur frieren, sondern auch tanzen müssen. Das Feuer breitet sich als belebende Kraft aus, die aus der Tiefe kommt und im Außen sichtbar wird. Humor öffnet das Herz, ohne die Schwere zu leugnen, und wirkt ansteckend auf die gesamte Gemeinschaft.

Am Ende stellt sich die Frage nach wahrer Pietät neu. Ist es das starre Befolgen von Konventionen oder der ehrliche Ausdruck dessen, wie der Verstorbene wirklich war? Der Text beantwortet diese Frage deutlich, dass ein pietätvoller Abschied der ist, der von Herzen kommt. Das Lachen am Grab durchbricht nicht die Ehrfurcht, sondern vollendet sie. In diesem Moment verschmelzen Trauer und Freude, Abschied und Feier, und die Tränen sind beides zugleich. Die Gemeinschaft umarmt sich, wärmt sich und in dieser Berührung lebt der Verstorbene weiter. Humor wird zur Medizin, die Spannungen löst und Nähe schafft. Es ist die Fähigkeit, den Tod zu sehen und zugleich zu lachen, zwei scheinbar gegensätzliche Welten zu verbinden. Ein pietätvoller Abschied ist nicht der erstarrte, sondern der lebendige.

 
 
 

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