Die Vergangenheit
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 13 Min. Lesezeit
(Musik: From a Distance, Grandbrothers)
Lange Zeit wusste er es nicht. Wie hätte er es auch wissen sollen? Wenn man nur dieses Leben und diese Wahrnehmung hat, ist der Unterschied zu den anderen nicht sofort ersichtlich. Wie der Fisch im Wasser, dem das Wasser nicht bewusst ist. Es war immer Wasser hier. Bei seiner Geburt war er ein Fisch im Wasser, sein ganzes Leben lang war er ein Fisch im Wasser und er wird voraussichtlich auch im Wasser sterben. Das Leben eines Fisches. Und ein Fisch glaubt auch, dass die anderen um ihn herum ebenfalls Fische sind. Das ist eine durchaus plausible Annahme.
Mit der Zeit merkte er jedoch, dass er anders war als die anderen. Sie konnten sich an so vieles erinnern, was längst vergangen war. Sie wussten, was letzte Woche, letztes Jahr und sogar noch früher geschehen war. Er nicht. Er konnte sich nicht an die Vergangenheit erinnern. Irgendwie schaffte er es jedes Mal, sich so anzupassen, dass niemand seine Andersartigkeit bemerkte. Vielleicht wie ein Mensch, der farbenblind war. Anfangs wäre es ihm auch nicht aufgefallen. Erst wenn er im Kindergarten bemerkt hätte, dass die anderen verschiedene Stifte unterscheiden können und er nicht, hätte er erste Hinweise erhalten. Und wenn er geschickt gewesen wäre, hätte er diesen Unterschied gut verbergen können. Die anderen nennen das oberste Licht der Ampel rot, das in der Mitte orange und das unterste grün. Er könnte sagen, dass jemand losfahren soll, weil es grün ist, obwohl er nur sieht, dass das untere Licht leuchtet.
Er sah sich selbst als etwas Besonderes. Er war anders als die anderen. Irgendwann begann er sich selbst zu erforschen. An den Tag zuvor konnte er sich erinnern. An zwei Tage zuvor jedoch nicht. Er hatte ein 24-Stunden-Fenster bewusster Erinnerung. Es dauerte lange, bis er nachvollziehen konnte, wie andere ihre Vergangenheit erinnern können. Wie der Farbenblinde, der verstehen musste, dass andere etwas sahen, was er selbst nicht sah. Die anderen Menschen konnten sich länger zurückerinnern als er. Sie besaßen eine bewusste Vergangenheit – er nicht. Aber er fand heraus, dass sein Wissen und seine Fähigkeiten gespeichert wurden. Er konnte sich nur nicht mehr daran erinnern, wo er gewesen war, mit wem er gesprochen hatte oder was er getan hatte. Und so kompensierte er sein fehlendes Erinnerungsvermögen mit Präsenz. Er begann, die Gegenwart so genau wahrzunehmen, dass er in seiner Jetzt-Welt gut überleben konnte. Jeden Tag begann er, sein Leben neu zu entdecken und zu erleben. Er lernte, die kleinen Hinweise zu deuten, die Menschen über die Vergangenheit erwähnen. Er konnte sich an jedes Detail der letzten 24 Stunden erinnern – er besaß eine Art fotografisches Gedächtnis. Morgens las er einige Zeitungen, scrollte durch die Nachrichten der letzten Woche und konnte so mit den anderen mitreden. Einfach, weil er sich einen Tag lang daran erinnern konnte.
„Endlich wieder schönes Wetter nach dieser verregneten Woche“, konnte er zu seiner Nachbarin an der Bushaltestelle sagen, weil er am Morgen gelesen hatte, wie das Wetter gewesen war. Bei seinen Therapiesitzungen schrieb er jedes Detail seiner Klienten mit. Vor der nächsten Sitzung las er sich seine Notizen durch und konnte exakt an die bisherigen Themen anschließen. Er passte aber auf. Wenn er sich nicht genau erinnerte, was in der Vergangenheit besprochen worden war, stellte er lieber Fragen. Außerdem achtete er auf jede Körperregung seines Gegenübers. Sobald er einen fragenden Blick oder Erstaunen in den Gesichtern der anderen bemerkte, weil er etwas sagte, das nicht der tatsächlichen Vergangenheit entsprach, wechselte er das Gesprächsthema oder kaschierte sein Nichtwissen mit gezielten Fragetechniken. Auch seine Kollegen in der Beratungsgruppe wussten nichts von seinem fehlenden Erinnerungsvermögen. Das war der Vorteil von Therapeuten. Es war legitim, ständig Gegenfragen zu stellen, ohne sich selbst zu offenbaren. Das half ihm.
Er genoss sein Leben. Er war oft belustigt über die Menschen, die durch Meditation und Achtsamkeit versuchten in dem Moment zu leben, statt in ihrer Vergangenheit zu verharren. Wie sehr litten seine Klienten doch daran, sich jeden Tag wieder an ihre längst vergangenen Themen zu erinnern. An ihre übergriffigen Eltern, das Mobbing in der Schule, die traumatisierende Erfahrung bei einem Unfall, das gebrochene Herz aus der letzten Beziehung oder das berufliche Scheitern im vergangenen Jahr. Er war fasziniert davon, wie viel sie wussten. Und wie oft sie immer wieder dasselbe erzählten. „Ja, das haben Sie mir vor zwei und vor sechs Wochen bereits erzählt“, sagte er zu der Klientin, die wieder davon sprach, wie traurig sie war, weil ihr Sohn ausgezogen war. Er hatte seine Notizen durchgelesen und wusste daher genau, was sie in den letzten Sitzungen erwähnt hatte. „Die Frage ist, wie es Ihnen jetzt geht.“ Er blickte ihr in die Augen. In dem Moment, als sie aus der traurigen Vergangenheit in die Gegenwart wechselte, hellte sich ihr Gesicht auf, und sie erzählte von ihrem heutigen Anruf mit ihrem Sohn. Die Klienten bemerkten, dass er ein besonderer Therapeut war. Er schaffte es immer wieder, sie in die Gegenwart zu holen. Dort hatten sie die Möglichkeit, ihr Leben zu verändern. Sie lernten, wie sie ihre Vergangenheit neu interpretieren, was sie in diesem Moment wahrnehmen und wie sie sich ab nun entscheiden könnten. „Vielen Dank”, sagte ihm seine Klientin am Ende dieser Sitzung. „Sie haben mir wirklich geholfen. Es war schmerzhaft, als mein Sohn ausgezogen ist. Aber Sie haben mir auch wieder bewusst gemacht, wie viele schöne Erinnerungen ich an ihn habe. Und diese Erinnerungen trage ich in meinem Herzen. Jeden Tag von neuem.“ Er bedankte sich mit einem aufgesetzten Lächeln, spürte dabei aber einen Stich in seinem Herzen. Er fühlte einen tiefen Schmerz. Irgendetwas traf ihn.
An diesem Abend sah er sich die Fotos seines letzten Urlaubs an. Er hatte einen Roadtrip durch den Süden Spaniens unternommen. Es waren wunderschöne Bilder. Von der Strandpromenade, dem Meer mit dem schier unendlichen Horizont und den Menschen in den Restaurants. Er sah ein Foto von sich vor einer Statue. Offensichtlich hatte er jemanden gefragt, der dieses Foto von ihm machte. Er wusste nicht mehr, wer es gewesen war. War es ein Mann, eine Frau, ein Spanier oder ein anderer Tourist? Und da kam er wieder. Dieser Stich ins Herz. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Hatte er das Handy vielleicht nur auf eine Mauer gelegt und selbst ein Foto gemacht? Oder hatte er einen Urlaubsflirt, eine wunderschöne Spanierin, mit der er diese Woche verbrachte? Oder war es ein alter Mann, dem er zuvor erklären musste, welche Taste er drücken musste? Und da kam es wieder. Dieses Unbehagen. Es erinnerte ihn an das Buch "Die unendliche Geschichte", als das Nichts begann, Phantásien aufzulösen. Er hatte sich immer als etwas Besonderes angesehen. Er war erfolgreich und niemand bemerkte, dass er sich nicht erinnern konnte. Aber jetzt ... jetzt war es plötzlich da. Wie seine Klientin strahlte, als sie erzählte, dass sie sich jeden Tag an ihren Sohn erinnert. Dieses Leuchten in den Augen. Die pure Freude, die sie aus der Vergangenheit schöpfte. Diese Freude hatte er nie erlebt.
Mit leeren Augen starrte er auf den Bildschirm. Er sah sich selbst lächelnd am Strand von Tarifa. Aber er konnte sich nicht in die Vergangenheit einfühlen. Er war zwar dort, konnte es aber nicht mehr spüren. Er wusste nicht, was davor oder danach passiert war. Das Nichts war um ihn herum präsent. Nur das eine Foto konnte ihn aus der Leere des Vergessens erretten. Es war wie ein kleiner Rohdiamant im ewigen toten Gestein der Erde. Er spürte, wie die Panik in ihm aufstieg. „Ich weiß nicht, wer ich bin“, schoss es ihm durch den Kopf. Er blickte hastig um sich. Ja, er konnte sich an seine Wohnung erinnern. Einfach, weil er gestern auch hier gewesen war. Und die Tage zuvor. Weil es irgendwo in seinem Gehirn gespeichert war, wo er alles finden konnte. Erst jetzt bemerkte er all die Notizen in seiner Wohnung. Hat er jemals jemanden in seine Wohnung eingeladen? Dann hätten sie alle seine Notizen gesehen. Eine Liste, wann er die Wäsche gewaschen hat, wann er einkaufen war. Ein Kalender, in dem jeweils der letzte Tag durchgestrichen war, damit er wusste, welcher Tag war. Notizen für jeden vergangenen Tag, damit er sich am heutigen Tag orientieren konnte.
Plötzlich spürte er die Angst vor dem Nichts, das immer einen Tag hinter ihm wartete. Sein Herz schlug schneller. Wie oft hatte er bereits genau diesen Gedanken gehabt? Wie oft hatte er dabei diese Panikattacke gefühlt? War es seine erste oder hatte er sie mehrmals pro Woche? Wusste er es nur nicht, weil er sie nicht aufgeschrieben hatte? Und wie oft hatte er sich das schon gedacht? Was für ein Leben führte er? Er dachte, er lebe im Jetzt, doch vielleicht bestand sein Leben aus sich ständig wiederholenden Routinen, ohne dass er es bemerkte? War er einen Tag oder einen Monat in Spanien gewesen? Hatte er alle zwei Tage ein Foto von sich und der Skulptur machen lassen, weil er sich nicht mehr daran erinnern konnte? Lachten die anderen Menschen an der Bar ihn schon aus, weil er schon wieder dort war?
Und dann begann er, alles aufzuschreiben. Alles, woran er sich an diesem Tag erinnern konnte. Er wollte keine Erinnerung mehr verlieren. Was er gegessen hatte, wen er getroffen hatte, was er gesagt hatte. Er schrieb sich eine Notiz für den nächsten Tag auf: Ab jetzt werde ich alles dokumentieren. Der nächste Tag kam und er begann, sein Leben zu dokumentieren. Fotos von seinem Frühstück, Notizen, was er getan und sich gedacht hatte. Er protokollierte nicht nur die Gespräche aus seinen Sitzungen, sondern jegliche Konversationen. Mit dem Busfahrer, der Nachbarin, dem Kassierer des Supermarkts. Er wollte nichts mehr vergessen. Er wollte nicht noch mehr verlieren, als er bereits verloren hatte. Das Nichts war zu präsent. Am nächsten Tag las er die letzten Tage durch. Er erinnerte sich an seine Mission und setzte sie fort. Er begann, sein Leben auf Instagram zu dokumentieren. Wenn er sein Notizbuch verlieren würde, wären alle Erinnerungen für immer verloren. Dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Sie mussten in der Cloud gespeichert werden.
Fotos genügten nicht mehr. Wie sollte er wissen, was vor oder nach dem Foto passiert war? Er begann, kurze Videos zu erstellen und hochzuladen. @NeverForgetYourPast war der Kanal, den er für sich selbst erstellt hatte. Er filmte sein Frühstück, schriebe über seinen Weg zur Arbeit, seine Erfahrungen und seine Gedanken. Morgens sah er sich die Reels wieder an und erinnerte sich. Zum ersten Mal konnte er seine gesamte letzte Woche rekonstruieren. Es erfüllte ihn mit Freude und Macht, endlich etwas gegen das Nichts unternehmen zu können. Sein Leben wurde gespeichert. Seine Erinnerungen und Erfahrungen waren dokumentiert. Er bekam Follower, die sich scheinbar für seine Dokumentation interessierten. Wenn sich andere an sein Leben erinnern würden, dann wäre es nicht nur digital, sondern auch analog, sogar sozial gespeichert. Wenn andere Menschen wissen, was ich getan habe, dann werden sie sich das Vergangene merken. Mein Leben bekommt einen Sinn. Es bleibt in Erinnerung, kreiste es in seinem Kopf. Dieser Gedanke ist wichtig, bemerkte er und begann, ihn zu notieren.
Doch nach kurzer Zeit waren es zu viele Gedanken. Zu viele, um sie einzeln aufzuschreiben. Er begann, sich selbst als Video aufzunehmen. Porträtmodus. „Wenn sich andere Menschen an mein Leben erinnern, dann ist mein Leben nicht nur digital, sondern auch sozial gespeichert. Wenn ihr wisst, was ich getan habe, dann werdet ihr euch das Vergangene merken. Mein Leben bekommt einen Sinn. Es bleibt in Erinnerung.“ Hochgeladen. Kurz danach kamen die ersten Likes. "Ich bin nicht der Einzige, der das Nichts fühlt. Vielleicht haben auch die anderen ihre Erinnerungen vergessen? Wer sind wir, wenn wir nicht mehr wissen, was wir in der Vergangenheit getan haben?" "Jeder Gedanke sollte dokumentiert werden" schoss ihn durch den Kopf. Er erzählte in den sozialen Medien nichts von seinem Gedächtnisverlust. Er wollte nur endlich nichts mehr vergessen. Das Recht, in Erinnerung zu bleiben.
Der Wecker läutete und er sah seinen eigenen Kanal an. Es waren schon mehrere Wochen vergangen. Immer mehr User folgten ihm und kommentierten sein Leben. Es war bereits zu viel Content, um alles anzusehen. Er begann, seine Dokumentationen mit KI-Tools zusammenzufassen. Die wichtigsten Situationen las er täglich. Doch irgendwann wurden auch diese zu lang. Er kreierte seinen eigenen Podcast, in dem er die Zusammenfassung seiner Vergangenheit täglich hörte. Irgendwann musste er diesen sogar auf dem Weg zur Arbeit hören, um Zeit zu sparen.
„Ich habe Ihren Instagram-Kanal entdeckt“, teile ihm seine Klientin freudestrahlend mit. "Ich finde es schön, dass sie ihr Leben so öffentlich zeigen. Es sind spannende Geschichten, die sie erleben und an die sie sich erinnern möchten." Er antwortete ihr nicht, sondern hörte nur seinen Gedanken zu. „Mein Leben“, hallte es leise nach. An diesem Abend begann er mit Live-Streams zu arbeiten. Jedes Detail seines Lebens wurde gespeichert. Jeder Gedanke wurde notiert. Endlich wurde seine Vergangenheit festgehalten. Menschen auf der Straße begannen, ihn anzusprechen. Sie sprachen über sein Leben, als wäre er berühmt. Vielleicht war er es berits. Irgendetwas an seiner Dokumentation war für andere Menschen interessant. Vielleicht, weil sie einem anderen Leben folgen konnten? Oder weil sie auch eine versteckte Angst vor der Vergänglichkeit spürten?
Zum ersten Mal fühlte er sich wie die anderen. Anstatt die Zusammenfassungen der Nachrichten zu lesen, las er die Zusammenfassungen seines eigenen Lebens. Jeden Tag rekonstruierte er sein Leben aufs Neue. Den letzten Urlaub dokumentierte er beispielsweise so genau, dass er noch Wochen später die Details rekonstruieren konnte. Es dauerte lange, bis er bemerkte, wie sich sein Leben veränderte. Um sich jeden Tag wieder an seine Vergangenheit erinnern zu können, musste er immer länger die Videos und Dokumentationen in der Früh ansehen. Selbst die generierten Zusammenfassungen wurden immer länger, damit er kein wichtiges Detail verpasste. Jeden Tag vertiefte er sich aufs Neue in seine Vergangenheit. So wie auch die anderen Menschen, die sich täglich an ihre Vergangenheit erinnerten.
An einem Samstag Abend bemerkte er, dass er den gesamten Tag seine eigene dokumentierte Vergangenheit gelesen, angesehen und angehört hatte. Er blickte auf den Live-Stream. Er hatte sich den ganzen Tag dabei gefilmt, wie er seine eigenen Videos angesehen hatte. Ansonsten hatte er nichts erlebt. Er erinnerte sich an jedes Detail der letzten Monate. Er hätte jeden Tag wiedergeben können. Was er eingekauft hatte, wen er getroffen hatte, welche Gedanken und Gefühle er gehabt hatte, wie er seiner Arbeitskollegin ein Geschenk gekauft hatte, welche Musikstücke er gehört hatte, wie er die Hecke vor seinem Wohnhaus geschnitten hatte – all diese Erinnerungen waren in seinem temporären Gedächtnis abgespeichert. Er hätte in einem Test jedes Detail mit Bravour wiedergeben können. Und er hatte so viele Follower, die sein Leben täglich mitverfolgten und sich daran erinnerten. Alles war dokumentiert. Alles war gespeichert.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er den ganzen Tag nichts mehr erlebt hatte. Er hatte nichts Neues gedacht. Er hatte nichts Neues gefühlt. Er hatte nichts Neues erfahren. Es war eine endlose Schleife aus Erinnerungen an die Vergangenheit. Jeden Tag wieder. Er wachte auf. Nach Monaten an Dokumentationen wachte er wieder auf. Er atmete tief ein und aus und spürte eine tiefe Traurigkeit. Während auf seinem Computer noch die letzten Videos liefen, spürte er die Leere um sich herum. Er hatte heute noch nicht einmal Musik gehört. Er klappte den Laptop zu, ging zum Kühlschrank und füllte sein Glas mit Wein. Langsam, Schluck für Schluck, trank er ihn. Kühl bewegte sich die Flüssigkeit in sein Inneres. Wie sehr hatte er sich vor dem Nichts gefürchtet. Jeden Tag erinnerte er sich an den ersten Tag, an dem er das Nichts dokumentiert hatte. Jeden Tag rekonstruierte er die Angst vor dem Vergessen. Während er dem Nichts davonlief, holte es ihn ein. Er pflegte es, machte es größer, als es je gewesen war. Wie seine Klienten, die ihre traumatischen Erlebnisse immer und immer wieder durchlebten. Durch die Aufmerksamkeit auf die Angst wurde diese noch größer.
Er nahm einen weiteren Schluck Wein. „Es ist Zeit, loszulassen“, hörte er sich leise sagen. Langsam ging er zum Laptop und öffnete ihn wieder. So viele Videos, so viele Dokumentationen, so viele Kommentare von ihm fremden Menschen, die seinem Leben gefolgt waren. Aber wofür? Die Vergangenheit ist vergangen. "Möchten Sie Ihren Account wirklich löschen? Die gespeicherten Daten können nicht wiederhergestellt werden." Er klickte auf „Account löschen”. Als ob er schon längst gewusst hätte, was er als Nächstes tun würde, nahm er einige Schlaftabletten in den Mund und schluckte sie mit dem letzten Rest Wein hinunter. Ein weiteres Glas mit Schlaftabletten stellte er neben sein Bett. Er schlief mit nur wenigen Unterbrechungen über 24 Stunden lang.
Müde wachte er auf. Er hatte scheinbar lange geschlafen. Er ging die Zeitungsartikel der letzten Woche durch und merkte sich das vergangene Wetter. Ein weiteres Kreuz auf den Kalender, es war Montag. Bei der Busstation sprach er mit seiner Nachbarin über das schöne Wetter, das sie auch über das Wochenende genießen konnten. In seiner Praxis schaute ihn seine Klientin etwas enttäuscht in die Augen. Schade, dass sie ihren Account gelöscht haben. Ich habe ihn sehr gemocht. Er wusste nicht genau, was sie meinte. Aber er stellte eine geschickte Frage, damit sie wieder über sich sprach. Und sie erwähnte ihre Trauer über ihren Sohn, der nicht mehr bei ihr wohnte.
Er wachte müde auf. Offenbar hatte er lange geschlafen. Er las die Zeitungsartikel der letzten Woche und merkte sich das Wetter der vergangenen Tage. Ein weiteres Kreuz im Kalender – es war Montag. An der Bushaltestelle sprach er mit seiner Nachbarin über das schöne Wetter, das sie am Wochenende genießen konnten. In seiner Praxis schaute ihn seine Klientin etwas enttäuscht an. „Schade, dass Sie Ihren Account gelöscht haben. Ich habe ihn sehr gemocht.“ Er wusste nicht, wovon sie sprach. Doch er stellte eine geschickte Frage, damit sie wieder über sich sprach. Und sie erwähnte ihre Trauer über ihren Sohn, der nicht mehr bei ihr wohnte.
Er genoss sein Leben. Er war oft belustigt über die Menschen, die durch Meditation und Achtsamkeit versuchten in dem Moment zu leben, statt in ihrer Vergangenheit zu verharren. Wie sehr litten seine Klienten doch daran, sich jeden Tag wieder an ihre längst vergangenen Themen zu erinnern.
Perspektive
Die Geschichte handelt von einem Mann, der sein Leben im reinen Jetzt lebt, da er sich nur an die letzten 24 Stunden erinnern kann. Er hat ein ausgeklügeltes System entwickelt, um seine Andersartigkeit zu verbergen. Ausgerechnet er wird Therapeut für Menschen, die in ihrer Vergangenheit gefangen sind. Was zunächst wie eine Befreiung erscheint, entpuppt sich jedoch als existenzielle Leere. Als eine Klientin von der Freude spricht, sich täglich an ihren Sohn zu erinnern, bricht etwas in ihm auf. Das Foto aus Tarifa wird zum Symbol seiner Verlorenheit. Er war dort, aber er kann nicht mehr dorthin zurückkehren. Ohne Erinnerung gibt es keine Geschichte, keine Identität, kein Selbst.
Seine Reaktion auf diese Erkenntnis ist verzweifelt und radikal. Er beginnt, alles zu dokumentieren, erst in Notizbüchern, dann digital und schließlich in Livestreams. Doch mit dem Versuch, dem Nichts zu entkommen, erschafft er genau das, was er bei seinen Klienten immer kritisiert hat. Er wird zu jemandem, der nur noch in der Vergangenheit lebt, nur besteht seine Vergangenheit nicht aus Traumata und zerbrochenen Beziehungen, sondern aus Videos von Frühstückstischen und Busfahrten. Die Dokumentation verschlingt sein Leben. An einem Abend bemerkt er, dass er den ganzen Tag damit verbracht hat, sich Videos davon anzusehen, wie er sich Videos ansieht. Er hat nichts mehr erlebt. Die Angst, etwas zu vergessen, hat ihn so sehr beherrscht, dass er vergessen hat, zu leben.
Am Ende löscht er alles und schläft über sein Erinnerungsfenster hinaus. Als er aufwacht, ist er wieder am Anfang. Die Klientin erwähnt den gelöschten Account, doch auch diese Information wird morgen verschwunden sein. Er genießt sein Leben wieder und lacht über Menschen, die durch Meditation im Moment leben wollen. Die Geschichte endet dort, wo sie begann. Eine endlose Schleife. Vielleicht ist das die eigentliche Erkenntnis. Weder das totale Vergessen noch das totale Erinnern macht uns menschlich. Wir brauchen beides: das Festhalten und das Loslassen, die Erinnerung und das Vergessen. Der Text ist letztlich eine Meditation über die conditio humana in der digitalen Ära: Wir alle versuchen, dem Nichts zu entkommen, indem wir festhalten. Doch je mehr wir festhalten, desto weniger leben wir wirklich.

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