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Die Stille der Einsamkeit

Sie sitzt im leeren Haus. Es ist dunkel geworden. Nicht von der Tageszeit, sondern von der Stimmung. Einst war es hier voller Leben gewesen. Sie kann sich noch gut daran erinnern. Die Kinder liefen um den Tisch herum, um sich gegenseitig zu fangen. Claudia war meistens schneller als Jonas. Um das Spiel spannender zu gestalten, lief die ältere Schwester manchmal etwas langsamer, um ihm einen Vorsprung zu ermöglichen. „Ich komme gleich. Gleich habe ich dich“, drohte sie ihm spielerisch in einem gefährlichen Ton. Jonas' Bauch kribbelte vor Anspannung und Vorfreude. Er schrie und quiekte, während sie ihm Schritt für Schritt näherkam. „Hab' dich!”, rief sie, packte ihn an den Schultern und drehte sich geschwind um, während er noch etwas unbeholfen hinter ihr herjagte und sie zu imitieren versuchte.

Eine schöne Erinnerung. Doch wenn sie genauer hinsah, war es meistens sie, die am Tisch saß und den Kindern Einhalt gebot. „Vorsicht auf die Stühle! Schaut auf die Vitrine! Jonas, ein bisschen leiser bitte. Ich muss noch etwas fertig schreiben. Claudia, kannst du wenigstens vorher deine Schuhe ausziehen? Ich habe gerade gesaugt!“ Sie ließ die andere Seite der Münze los und ergab sich der nostalgischen Stimmung früherer Erinnerungen. Sie räumte den Tisch ab, nahm ihren Teller, ihre Gabel und ihr Messer und brachte sie zum Geschirrspüler. Sie räumte jedes Teil fein säuberlich in die Maschine und schaltete sie ein. Ein beruhigendes Brummen durchströmte das Zimmer, und sie setzte sich auf die Couch.

Wie oft die Kinder hier herumgeturnt sind, eröffnete sich ihr wieder der Gedankenraum. „Schau, Mama, schau, Mama, ich mache eine Rolle!” Und schon turnte Claudia über das stoffbezogene Möbelstück, um ihrer Mutter stolz ihre akrobatischen Leistungen zu präsentieren. Jonas applaudierte seiner großen Schwester lautstark. Der Orangensaftfleck, der noch immer deutlich zu sehen war, hatte sie damals in einen Wutanfall gebracht. Sie hörte noch die Schreie und Schimpftiraden, die das Haus erschütterten. Wie klein sich die Kinder damals gemacht hatten und sich unter dem Tisch und in ihrem Zimmer versteckt hatten, ging ihr durch den Kopf, schob den Gedanken aber wieder beiseite.

Sie nahm das Buch aus ihrem Bücherregal. „Die Stille der Einsamkeit". Es war ein einfühlsames Buch, das als Ratgeber für Eltern geschrieben wurde, die ihre Kinder verloren hatten. Sie betrachtete den Einband, ein dunkles und mattes Blau. Vorsichtig strich sie mit ihrem Zeigefinger darüber, wie ein Blinder der Blindenschrift liest. Sie spürte die Tiefe, die in dem Buch verborgen lag. Ein schlichter Einband, eine stilisierte untergehende Sonne, der zwei Kinder entgegengingen. Sie hielten sich an den Händen und blickten nicht zurück. Es erzeugte in ihr das Gefühl, dass sie diesen Horizont nie erreichen könnten, obwohl er immer sichtbar bleibt. Die Rückseite war in einem dunklen Grün gehalten und zeigte einen stilisierten Sonnenaufgang, jedoch ohne die Kinder. Der Horizont blieb, die Sonne kam und ging, doch die Kinder waren nicht mehr zu sehen. „Ein Buch, um sich zu verabschieden“, las sie am Klappentext. Auch hier strich sie wieder behutsam über das matte Papier.

Sie hatte das Buch schon oft in der Hand gehalten, es aber noch nie geöffnet – wie ein wohlwollendes Geschenk an sich selbst. Sie spürte ihre Angst, es zu öffnen und die beiden Bilder auf dem Buchdeckel als Geschichte zu verbinden. Sie war noch nicht bereit dafür. Ein Teil von ihr sehnte sich nach dem Prozess, doch viel stärker war der taube Widerstand, der sie zurückhielt. Es war, als ginge ein Wanderer durch einen Sumpf und sänke mit jedem Schritt tiefer ein.

Sie spürte ihren archetypischen Wanderer in sich. Sie stellte sich vor, einen schlichten, robusten Lederrucksack zu tragen, in dem sich eine mit Wasser gefüllte Metallflasche und ein Schnitzmesser befanden. Natürlich durfte auch ein Stück Schokolade für das Süße im Leben nicht fehlen. Sie versetzte sich in diesen Archetypus hinein und spürte den Tatendrang, voranzuschreiten. Aus ihrem Haus gehend und in den Wald hinein. Doch kaum hatte sie ihr Abenteuer begonnen, bemerkte sie den weichen Untergrund am Waldrand. Sollte sie umdrehen oder weitergehen? Als sie stehenblieb, versank sie bereits tiefer im Sumpf und ging erschrocken die nächsten Schritte. „Weitergehen, sonst versinkst du noch“, hörte sie sich sagen. Der von außen abenteuerliche Wald, in den die Sonne schien, schenkte ihr weniger angenehme Gefühle, als sie erhofft hatte. Unter den Bäumen spürte sie die plötzliche eisige Kälte, den nassen Wind, der durch die Blätter pfiff, und das unwegsame Gelände. Sie ging und ging. Mit jedem Schritt versank ihre beginnende Abenteuerlust tiefer im Sumpf ihrer Gedanken. Warum war sie in den Wald gegangen? Warum hatte sie sich eingebildet, dazu in der Lage zu sein? Sie stoppte wieder und blickte zurück. Sie sah nicht mehr den Weg, der hinter ihr lag. Das Haus war verschwunden. Nicht einmal die zuvor angenehmen Sonnenstrahlen waren mehr zu erkennen. „In dem Wald sieht man keinen Horizont“, flüsterte sie leise zu sich selbst, während ihre Schuhe langsam im Boden versanken.

Erschrocken blickte sie auf den Sumpf unter sich und nahm die Beine in die Hand. Doch sie wusste nicht mehr, in welche Richtung sie gehen sollte. Bevor sie den Wald betrat, hatte sie sich vorgestellt, direkt durch ihn hindurchzugehen. Aber jetzt war sie mitten im Wald, der kein Anfang und kein Ende zu haben schien. „Hallo?!“, rief sie instinktiv. Die Stille, die ihr nicht antwortete, beunruhigte sie noch mehr. Sie ging hastigen Schrittes weiter. „Hallo?!“, schrie sie ein weiteres Mal, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Wollte sie hier überhaupt jemandem begegnen? Wer außer ihr sollte sich in so eine Lage begeben?

Der Boden wurde immer weicher. Mit jedem Schritt musste sie ihre Wanderschuhe aus noch tieferer, brauner Erde ziehen. Sie brach einen Ast von einem morschen Baum ab, um sich zu stützen. „Hallo?!“, rief sie schon panisch und erschrak über ihre eigene Angst, die ihr wie ein kalter Schauer über den Rücken lief.

Der Ast brach beim nächsten Schritt und sie sank noch tiefer in den Sumpf ein. Mit aller Kraft versuchte sie, ihr Bein zu befreien, doch vergebens. Je mehr sie sich wehrte, desto tiefer sank sie in den unbarmherzigen Sumpf ihrer eigenen Gefühle. Sie schrie, um ihre Angst in Wut zu verwandeln, und schlug mit den Fäusten auf die nasse Erde. „Lass mich endlich raus!”, schrie sie voller Verzweiflung. Doch die Stille ihrer Einsamkeit fesselte sie erneut. Sie brach in Tränen aus. Ihr Körper schüttelte sich und sie spürte, wie sie langsam immer tiefer sank.

Sie saß wieder auf ihrer Couch, doch eine unbarmherzige Ungewissheit beschlich sie. Angsterfüllt blickte sie auf den Buchdeckel. Ihre Hände zitterten. Plötzlich atmete sie schneller. Eine fürchterliche Ahnung überkam sie. Wie in einer Schockstarre eingefroren, blickte sie wieder auf das Buch. Ihre Augen rasten von einem Detail zum nächsten. Es kam ihr so bekannt vor. Ein Déjà-vu aus der Vergangenheit. Mit fürchterlicher Vorahnung öffnete sie es hastig. Sie wollte nicht wahrhaben, was sie tief innen schon längst wusste. Sie wollte sich von dem überzeugen, dem sie selbst keinen Glauben schenken wollte. Und dann las sie es. Die Widmung auf der ersten Seite. „Für Claudia und Jonas. Möget ihr immer in meiner Erinnerung bleiben.“

Wieder und wieder murmelte sie es leise. Dann blätterte sie die Seiten durch. In rasender Geschwindigkeit, eine nach der anderen. Jedes Kapitel. Sie kannte sie alle – es war ihr selbst geschriebenes Buch. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie blickte um sich und erwachte plötzlich wieder in ihrem Alptraum. „Claudia? Jonas?!” Sie schrie in das leere Haus. Mit völlig überwältigter Angst sprang sie auf, blickte unter den Tisch und rannte von einem Zimmer in das nächste. „Jonas?!” Weiter und weiter. „Claudia?!” Sie schrie hysterisch und spürte, wie ihre Beine weich wurden. „Wo seid ihr, Kinder?!“ Noch einmal rannte sie ins Wohnzimmer und blickte unter den Tisch. Dann wieder in die Zimmer. Ihre Beine gaben nach, sie spürte den Sumpf unter sich. „Kinder?“ Je langsamer ihre Schritte wurden, desto tiefer versank sie im Sumpf ihrer Gefühle.

Als sie das Kinderzimmer betrat, wurde ihr Körper noch schwerer. Sie kniete sich auf den Boden und versank im weichen Kinderteppich. Sie blickte sich um. Es war noch alles genauso wie früher. Die Spieluhr mit dem kleinen Kuckuck. Die Briefmarkensammlung ihrer Tochter. Die kleine Plüschschnecke mit nur einem Auge. Die Kinderzeichnung von einem Haus, in dem vier Strichmännchen gemalt waren – Mama, Papa, Claudia und Jonas. Darüber stand in Kinderschrift: „Ahles Gute zum Muter-Tag!” Hinter dem Haus war schemenhaft ein dunkler Wald gezeichnet, der wie eine Vorahnung auf sie wartete. Sie riss an ihren Haaren, weinte bitterlich und versank immer tiefer in den Sumpf des Todes. Das helle Zimmer verdunkelte sich, während der Wald hinter dem Haus größer wurde. Immer tiefer versank sie in ihrem Alptraum des Lebens. Ihre Gedanken wurden immer dunkler, ihre Gefühle immer unbarmherziger, es zog sie hinunter in ihren eigenen Abgrund. Woher war sie gekommen? Wo wollte sie hin? Was war mit dem Abenteuer des Lebens geschehen? Der kleine Kinderrucksack mit der Trinkflasche und dem Schnitzmesser sank mit ihr nach unten. Das kleine Stück Schokolade, das süße Leben, das nie geöffnet wurde. Das Geschenk des Lebens, das nie ausgepackt werden konnte. Sie schrie noch einmal in die Leere des Raumes, in die Leere ihres Schattendaseins. Und dann wurde sie eingeschlossen. In die tiefe, dunkle Stille ihrer Einsamkeit.

 

Perspektive

Diese Geschichte erzählt vom Moment, in dem eine Mutter die Verdrängung nicht länger aufrechterhalten kann. Sie sitzt in einem Haus voller Erinnerungen und webt sich zunächst eine nostalgische Vergangenheit zurecht, in der ihre Kinder noch leben und spielen. Doch durch die Risse dieser Konstruktion dringen bereits die dunkleren Momente: die Wutausbrüche wegen verschütteten Orangensafts, das Schreien, vor dem sich die Kinder unter Tischen versteckten. Das Buch in ihren Händen trägt einen Titel wie eine Prophezeiung. Die stilisierten Kinder auf dem Cover gehen auf einen Horizont zu, den sie nie erreichen werden. Auf der Rückseite sind sie verschwunden. Sie hält dieses Buch wie ein Geschenk an sich selbst, doch sie wagt es nicht zu öffnen, denn sie ahnt bereits, was darin steht.

Die Waldmetapher entfaltet sich als innere Reise durch einen Sumpf, aus dem es kein Entkommen gibt. Je verzweifelter sie versucht, weiterzugehen, desto tiefer sinkt sie ein. Als sie das Buch schließlich öffnet und die Widmung liest, bricht die Realität über sie herein. Sie hat dieses Buch selbst geschrieben. Sie hat es für ihre toten Kinder geschrieben. Diese Erkenntnis ist so vernichtend, dass sie sofort in Panik verfällt, durch das Haus rennt, unter Tischen sucht und in Zimmer stürzt, als könnten die Kinder dort versteckt sein, so wie sie es damals taten, als sie sich vor ihren Wutausbrüchen verkrochen hatten.

Im Kinderzimmer vollzieht sich ihr endgültiger Zusammenbruch. Die Spieluhr, die einäugige Plüschschnecke und die Kinderzeichnung mit dem dunklen Wald im Hintergrund werden zu Zeugen ihres Versinkens. Die Schokolade, die nie ausgepackt wurde, das Abenteuer, das nie begonnen hat, das süße Leben, das nie gelebt werden konnte. Was diese Geschichte so erschütternd macht, ist die Authentizität der psychischen Mechanismen. Wir sehen keine konstruierte Trauer, sondern den rohen Prozess des Zusammenbruchs einer Persönlichkeitsstruktur, die nicht integrieren kann, was geschehen ist. Die Frau ist Autorin eines Trauerratgebers und gleichzeitig unfähig, ihre eigene Trauer zu bewältigen – eine grausame Ironie, die zeigt, dass intellektuelles Verstehen und emotionale Integration zwei grundverschiedene Dimensionen sind.

Die Geschichte ist letztlich eine Studie über die Unmöglichkeit, bestimmte Verluste zu bewältigen, über die Brüchigkeit des Selbst und darüber, wie die Psyche verzweifelt versucht, sich selbst zu schützen.

 
 
 

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