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Die Realität der Vorstellung

(Musik: Uninvited, Red Sun Rising)

"Das Gericht spricht Sie schuldig im Sinne der Anklage". Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal. Die Augen weiteten sich, es wurde aus- und schockiert wieder eingeatmet, der Kopf fassungslos geschüttelt, zustimmend genickt, die Hände vor das Gesicht gehalten und geschluchzt. Er nahm den Saal und die Menschen aber nicht wahr. Er spürte nur die Erleichterung und die tiefe, lang ersehnte Entspannung nach einem Jahr voller Ungewissheit.

Wie anders sein Leben noch vor einem Jahr war. Es war kein Traumleben, aber er konnte durchaus stolz sein, wie er es gestaltet hatte. Ein schönes Apartment mit Blick über die Stadt, eine gute Position in einer etablierten Anwaltskanzlei, eine attraktive Verlobte. Ja, attraktiv war sie, das wusste er schon, als er sie an der Bar während einer After-Work-Party ansprach. Ein langes, schwarzes Kleid, dunkelbraune Haare, rote Fingernägel. Es war fast schon ein Klischee für eine schöne Frau. Aber sie hatte das gewisse Etwas, das ihn anzog. Die dunkelbraunen Augen, die etwas sahen, das die anderen nicht sahen. Es gibt viele schöne Häuser. Doch manche machen neugierig darauf, was sich hinter der Tür offenbaren wird. Die meisten sehen von außen genauso aus wie von innen. Modern, altmodisch, skurril, wie ein Knusperhäuschen, ein Palast oder ein Familienhaus. Doch manche lassen bereits von außen erahnen, dass es noch mehr zu entdecken gibt. Und genau das zog ihn an.

Die Anziehung für das Versteckte war auch der Grund, warum er Anwalt geworden war. Von außen sahen die meisten Menschen unschuldig aus. Impression Management, die Kunst, sich selbst so darzustellen, wie man wahrgenommen werden möchte. In den Spiegel blicken, die Haare richten, Make-up auftragen, die Lippen färben, die Brille in die richtige Position bringen, die Krawatte geraderichten, die Ohrringe passend zur Handtasche wählen, die schwarz polierten Schuhe – oder auch nur die ausgewaschenen Jeans mit dem Baumwollhemd, die beiden geflochtenen Zöpfe, die ausgetragenen Converse. Eine Expression, was wir nach außen zeigen. Eine Impression, der Eindruck, den wir bei anderen hinterlassen. Es gibt wohl kaum Menschen, die schuldig aussehen wollen. Gerade, wenn sie selbst tatsächlich schuldig sind. Ein Anwaltsjob wäre einfach, wenn man rein durch das Aussehen schuldige Menschen identifizieren könnte. Man müsste nur durch die Straßen gehen und die schuldig aussehenden Menschen in ein Gefängnis sperren – falls dies in dieser imaginierten Gesellschaft weiterhin als geeignetes Strafmaß angesehen würde. Nein, erst durch das evidenzbasierte Sammeln von Fakten, Aussagen und Zeugenberichten konnte Stück für Stück ein Narrativ erstellt werden, das nicht dem unschuldigen Impression Management des Angeklagten entsprach.

Nur die wenigsten gaben ihre Schuld zu. Wie lange sie an ihrem vorgestellten und dargestellten Bild festhielten. Selbst wenn die Beweise erdrückend waren, klammerten sie sich mit aller Kraft daran. Solange sie es nicht selbst zugaben, konnte es vielleicht doch ein Irrtum sein. Und diese Imagination, dieses Impression Management, das Kämmen der Haare vor dem Spiegel, auch wenn man nur noch eine Glatze hatte, war den Menschen unglaublich wichtig. Der dicke Mann mit dem Bierbauch, der zumindest vor dem Spiegel den Bauch einzieht, um sich schlanker zu sehen, als er ist. Die alte Frau mit den tiefen Falten, die ihre Haut im Gesicht nach hinten zieht, um in diesem Moment jünger zu wirken. Die überarbeiteten Fotos, die in der Wohnung aufgehängt werden, um die Bruchteile des Lebens in ihrem vollen Glanz darzustellen. Am liebsten würden sie sich vor ihr eigenes Porträt stellen, auf dem sie gewinnend strahlen. Nur, um ihre eigene Illusion weiterleben zu können.

Ein Spiegel zeigt, wie man tatsächlich aussieht. Doch das ist nicht das, was Menschen sehen wollen. Sie wollen ihr geschöntes Bild sehen. Sie wollen einen geschminkten Spiegel haben. Einen verzerrten Spiegel, der einen selbst dünner, jünger, stärker, strahlender, mutiger, größer, kleiner, dunkler, heller oder attraktiver darstellt. Es sind schön polierte Häuser, die ihren dreckigen Keller nicht herzeigen möchten. Die Anwaltsarbeit geht jedoch in den Keller der Häuser. In die versteckten Seiten der Menschen, in den Untergrund, in das Unbegreifliche, das Unvorstellbare. Wie sich die Angeklagten immer winden. Wie sehr sie die Schmerzen des Aufdeckens fühlen. Bei jeder Stufe, die tiefer in den Keller führt, erschaudern sie. Sie haben Angst, dass jemand ihre dunklen Geheimnisse, ihre versteckten Schatten entdecken und öffentlich machen könnte. Wie schnell würde dann das schön polierte Haus in sich selbst einstürzen. Es wären nicht mehr nur kleine Risse in der Fassade, sondern der sofortige Zusammenbruch, als wäre das Tor zur Hölle aufgegangen. Das ängstigt schuldige Menschen am meisten.

Es war ihr Blick, der ihn reizte. Er sagte einfach nur „Hallo”. Ungeschönt und direkt. Er lächelte nur mit seinen Augen, sein restliches Gesicht blieb ernst, ruhig, professionell. Und das gefiel ihr. Ein selbstbewusster Mann, der sich nicht wie die anderen Dating-Clowns anstellte. Davon hatte sie schon genug gesehen. Mit all ihren Sprüchen und den zu offensichtlichen Geschenken, mit denen sie ihre eigenen Unsicherheiten verdecken wollten, wenn sie eine attraktive Frau ansprachen. Bereits der erste Blick war lang. Ihre Augen lernten sich kennen, nicht ihre Worte. Die Augen sind die Fenster der Seele. Es war eine sofortige Verbindung vorhanden. Und sie wussten beide, dass es eine gefährliche Verbindung war. Es waren ihre Keller, die sich gegenseitig anzogen. Sie spürten, dass sie beide einen tiefen, dunklen Keller besaßen. Die äußeren Fassaden konnten sie beide nicht davon ablenken. Sie standen auf der Klippe und spürten, wie der Abgrund sie hinunterzog. Sie sprangen nicht. Aber sie spürten die Anziehungskraft des tödlichen Abgrunds. Wie lange würden sie wohl fliegen, bis sie am Boden zerschmettern würden? Wenn sie gesprungen wären, würden sie nicht schreien. Sie würden nicht das Gesicht verziehen. Es wäre ein bewusster Sprung, in dem Wissen, dass es nicht anders kommen könnte. Wenn man seiner Bestimmung folgt, bleibt man völlig ruhig. Es ist diese tiefe Gewissheit, die sich nicht ändern lässt. Und mit dem Blick in die Augen wurde ihnen klar, dass die Spirale in den Abgrund begann.

Die erste Zeit war schön, leidenschaftlich und erfolgversprechend. Wie vor jedem Fall musste zuvor der Höhepunkt erreicht werden. Es war die ständige Reibung, die zu Beginn so berauschend war. Manche Objekte besitzen dieselbe Eigenresonanz. Wenn ein Objekt schwingt, dann schwingt das andere mit. Sie besaßen eine ähnliche Eigenresonanz. Sie lachten und stritten gemeinsam. Doch mit der Zeit wurde das Lachen immer weniger und das Streiten immer mehr. Zu viel Reibung führt auch zur Abreibung, in ihrem Fall zu Feuer. Ihre Keller begannen, miteinander zu tanzen. Sie besaßen ein ähnliches Muster der sich verstärkenden Abwertung, das sich nur in der Art und Weise unterschied.

Er war jemand, der für alle unterstützend wirkte. Er achtete auf die Stärken der anderen. Der tiefe Grund dafür war, dass er sich ihnen allen überlegen fühlte. Es war leicht, Kindern Komplimente zu machen, denn sie waren nie eine Konkurrenz für das eigene Ego. „Großartig, wie hoch du schon schaukeln kannst!” „Das ist eine wunderschöne Zeichnung, du bist ein echter Künstler!“ „Wie hübsch du dich heute gemacht hast!“ Er überhöhte sich durch paternalistische Großzügigkeit. Ihre versteckte Abwertung war eine andere. Von außen sah man die erfolgreiche Immobilienmaklerin. Selbstbewusst, klar und direkt. Und so erfuhr man, was ihrem professionellen Blick nicht entgangen war. Was noch fehlte, was nicht ausreichend war, was noch verbessert werden musste. Die ambitionierte Expertin wertete die Welt um sich herum ab, weil nichts gut genug war. Eine perfektionistische Abwertung.

Tief in ihrem Inneren genügten sie sich selbst nicht. Die Abwertung des Außen ermöglichte ihnen, sich selbst aufzuwerten. So manches Hochhaus benötigt einen tiefen Keller, um stabil zu bleiben. Ihre gegenseitige Leidenschaft verlagerte sich vom obersten Stockwerk ihrer Hochhäuser zu den versteckten Abgründen. Je mehr Komplimente er ihr machte, desto stärker wurde ihre subtile Kritik ihm gegenüber. Es waren dieselben Muster, die miteinander tanzten. Jedes seiner Komplimente brachte sie in die Position eines Kindes, das noch nicht gut genug war. Jede ihrer kritischen Verbesserungsvorschläge verdeutlichte ihm seine Imperfektion. Es war eine Spirale des Streits. Ein unerbittliches Feuer, das sich gegenseitig nährte. Liebe schlug in Hass um. Unbarmherzig. Die eigene Unzulänglichkeit wurde immer wieder deutlich. Sie stellte sich vor ihr Spiegelbild, das sie schminkte. Er blickte auf das perfekte Foto seiner Graduierungsfeier. Sie gefielen sich. Und dann blickten sie sich am Abend in die Augen und sahen ihren menschlichen Spiegel. Wie hässlich fühlte sie sich, wenn sie seinen Blick sah. Und wie lächerlich nahm er sich selbst wahr, wenn er spürte, was sie von ihm hielt.

„Ich könnte dich umbringen“, schrie er ihr ins Gesicht. Er sah nur noch eine Fratze in einem schönen Kleid. Wie oft hatte sie schon Salz in seine Wunden gestreut. Wieder und wieder. Es reichte ihm. „Du bist das Letzte“, schallte es von ihr durch das Apartment. Sie lachte ihn boshaft aus, spuckte auf den Boden und schleuderte das Glas mit dem restlichen Wein gegen die Wand. Vor lauter Wut schlug er mit der Faust auf den Glastisch, der unter dem Gewaltakt brach. Die Risse im Glas waren schon lange vorhanden. Es fehlte nur noch das letzte Momentum, um das zu zerbrechen, was brechen wollte. Eine Sollbruchstelle. So wie ihre Beziehung. „Das ist wohl alles, was du kannst”, verhöhnte sie ihn und wollte die Stiegen hinuntergehen. Doch in ihrer Rage stürzte sie. Es ging schnell. Er sah nur noch ihr wehendes braunes Haar und hörte noch einen letzten Schrei. Als er zu ihr eilte, war es bereits zu spät. Sie kam mit einem gebrochenen Schädel am Boden der Realität an.

Die Polizei sah, was sie sehen wollte. Zerbrochenes Glas, eine blutende Hand, Aussagen von Nachbarn, die Morddrohungen vernommen hatten, und eine Leiche. Wie oft er seine Aussage wiederholen musste. Er hatte sie nicht umgebracht. Ja, sie hatten gestritten, aber er hatte sie nicht berührt. Nein, er hat sie nicht die Stiegen hinuntergestoßen. Ja, er hatte sie angeschrien. Nein, er wurde nicht handgreiflich. Er hörte die Polizisten und Staatsanwälte. Wie gut er diese Prozesse kannte. Doch in der Position des Angeklagten war er noch nie gewesen. Die Gewissheit, die er als Anwalt hatte, wechselte mit seiner Ungewissheit als Beschuldigter. Was er als Anschuldigung hörte, klang tatsächlich plausibel. Jedes der Puzzlestücke konnte ein völlig anderes Bild als das seine ergeben. Es gab so viele Aussagen zu ihren Auseinandersetzungen. Es gab so viele Zeugenberichte, in denen sie ihn gedemütigt hatte. Einmal hatte sie ihm in einem Restaurant eine Ohrfeige verpasst, als er einige Minuten zu spät angekommen war. Er hatte sie nie öffentlich kritisiert. Im Gegenteil. So oft hatte er sie ermutigt und vor seinen Freunden erzählt, wie großartig sie sei. Doch die Staatsanwälte drehten im Gerichtssaal das Bild um. Er war nicht der Unterstützer, sondern ein Druckkochtopf. Wie oft hatte sie ihn heruntergemacht. Wie oft er ihre Demütigungen geschluckt hatte. Wie oft er sich von ihr herumkommandieren ließ. Und irgendwann, genauer gesagt an diesem Abend, explodierte der Druckkochtopf. Er drohte, sie umzubringen. Vor lauter Wut zerbrach er den Glastisch. Dann ging er auf sie zu. Sie versuchte, sich zu wehren, warf ihr Weinglas auf ihn. Sie verfehlte ihn knapp und er stieß sie die Stiegen hinunter.

Er hörte diese umformulierte Geschichte an. Anfangs protestierte er. Es war die Unwahrheit. Doch tatsächlich konnten die Puzzlesteine auch so zusammengesetzt werden. Es ergab ein rundes Bild. Der Mann, der seine eigene Verlobte ermordet hatte. Er hatte sie auch nicht geheiratet. Warum eigentlich nicht? Er begann, sich zu erinnern. Wie oft er nachts davon träumte, sie von einer Klippe zu stoßen. Es waren Gewaltfantasien, die ihm zumindest gedankliche Freiheit von der ständigen Abwertung brachten. Wenn er nachts davon aufschreckte, schüttelte er diese Träume schnell ab und genoss wieder die schlafende Schönheit neben sich. Er blickte sie so sehnsüchtig an wie die Bilder in seiner Wohnung. Sie war wunderschön und passte in seine Träume. Seine Graduierungsfeier, seine Gipfelkreuze, seine Urkunden, seine Verlobte. Und er bemerkte nicht, dass sein Traum zu einem Alptraum geworden war. Als sie ihm das erste Mal eine Ohrfeige gab, spürte er in seiner eigenen Hand, wie er sie schlagen wollte. Er verkrampfte sich, unterdrückte seine Wut, lockerte dann aber wieder seine Faust und sah nur noch ihre Wut. Schlussendlich entschuldigte er sich dafür, dass er zu spät gekommen war. Vier Minuten Verspätung wurden mit einer öffentlichen Ohrfeige sanktioniert. Welchen Eindruck gewannen die umliegenden Gäste von ihm? Welchen Eindruck gewann er von sich selbst? Es sollte nicht die letzte Sanktion bleiben. Und es war nicht das letzte Mal, dass er tief in sich den Hass ihr gegenüber spürte.

„Sie haben Ihre Freundin die Stiegen hinuntergestoßen, weil Sie ihre Demütigungen nicht mehr ertragen konnten!“, hörte er den Staatsanwalt sagen. Bevor er verneinte, stellte er sich die Szene vor. Es war eine schöne Vorstellung. Die Vorstellung von Freiheit. Die Vorstellung, den ständigen sozialen Schmerz zu beenden. Er spürte, wie er kurz lächelte. Doch dann erinnerte er sich daran, dass er sich im Gerichtssaal befand, riss sich zusammen und dementierte vehement. Es war ein Jahr voller Ungewissheit, ob das Gericht ihn für schuldig oder unschuldig befinden würde. Je länger die Verhöre, Zeitungsberichte und Anschuldigungen andauerten, desto stärker verfestigte sich das Bild der Staatsanwaltschaft in seinem Kopf. Er sah sich selbst in den Spiegel. Doch diesmal verzerrte er nicht sein Spiegelbild, um besser auszusehen. Dieses Mal verzerrte der soziale Spiegel seine eigene Wahrnehmung. Er blickte in seine Augen im Spiegel und begann, seinen eigenen Abgrund zu entdecken, den er bisher nur bei den anderen erkennen konnte. So viele Keller der anderen hatte er schon entdeckt und aufgedeckt, so viele Fälle von Betrug, Missbrauch, Mord und anderen Straftaten. Er sah in den Augen der Angeklagten den tiefen Keller. Jede Stufe ging er hinab. Entgegen ihrem Willen, Fakt für Fakt, stieg er immer tiefer in ihre Abgründe hinab. Doch waren es tatsächlich ihre Handlungen gewesen oder nur ihre Vorstellungen? Waren sie alle tatsächlich schuldig aufgrund ihres Verhaltens oder sah er nur ihre Schuld aufgrund ihrer Imaginationen? Konnte er selbst Handlungen und Vorstellungen unterscheiden? Er blickte in seine eigenen Augen. Knapp vor dem Spiegel stehend, sah er zum ersten Mal in seine unendlichen Augen. Das Schwarz in seinen Pupillen war noch dunkler als sonst. Dann ging er eine Stufe nach der anderen hinunter.

Er hasste sie schon lange. Schon als er sie zum ersten Mal sah, spürte er dieses destruktive Verlangen in sich. Die wunderschöne Frau mit dem schwarzen Herzen. Er hatte schon damals ihren Abgrund gesehen, ihren Hass ihm gegenüber. Ihr Hass spiegelte sich in seinem eigenen wider. Er war anziehend. So anziehend wie ein Unfall, von dem man den Blick nicht abwenden kann. Eine Faszination, der man nicht nachgeben durfte. Wie die Chili-Schote auf der Pizza, die das gewisse Etwas versprach, obwohl sie auf der Zunge brannte. Er spürte wieder den Hass ihr gegenüber, als sie miteinander schliefen. Er fühlte sich leidenschaftlich, aber auch wutentbrannt. Und dann erinnerte er sich wieder an seine Fantasien. Wie oft hatte er sich gewünscht, dass sie scheitern würde. Die ständige Kritik an ihrer Umwelt sollte sie nur einmal an sich selbst spüren. Sie sollte die ständige Unzulänglichkeit, die sie anderen vor Augen führte, in ihrem eigenen Leben erfahren.

Eine Stufe nach der anderen ging er in seinen Keller hinunter. Anstatt sein eigenes Spiegelbild zu verschönern, wurde es immer hässlicher. Es war der gleiche Prozess des Impression Managements, nur diesmal in eine negative Richtung. Der sportliche Mann, der seinen Bauch herausstreckte und sich dicker sah, als er war. Die junge Frau, die ihre Gesichtshaut nach vorne schob und plötzlich Falten bemerkte, die zuvor noch nicht vorhanden gewesen waren. Die Bilder in der eigenen Wohnung, die nur noch die eigenen Abgründe zeigten. Sein eigenes Bild verzerrte sich. „Du hättest sie am liebsten umgebracht", hörte er sich selbst sagen. Sein Spiegelbild blickte ihn an. Jetzt sah er seinen ganzen Hass und seine Wut. „Sie hat dich gedemütigt”, sprach sein Spiegelbild weiter zu ihm. "Sie hat deine Grenzen überschritten. Sie hat dich lächerlich gemacht. Sie hat allen öffentlich gezeigt, was du für ein Arschloch bist. Und sie hat recht. Nur ein Arschloch lässt sich so von jemandem behandeln. Die anderen haben dich irgendwann auch so gesehen. Erinnere dich. Die liebevollen, respektvollen Blicke deiner Freunde haben sich geändert. Sie haben die verzerrten Geschichten deiner Verlobten geglaubt. Dass du immer zu spät bist. Dass du sie nicht schätzt. Dass du nie Zeit für sie hattest. Sie hat dein Bild verändert. Niemand hat dich mehr gesehen. Sie haben das verzerrte Bild von deiner Verlobten gesehen."

Er blickte immer tiefer in seine gespiegelten Augen. Jetzt sah er sich aus ihrer Perspektive. Es war kein schönes Bild. Es war verzerrt. Er sah seiner eigenen Fratze ins Gesicht. Im Hintergrund hörte er die Staatsanwälte. „Sie haben sie hinuntergestoßen. Sie haben sie gehasst. Sie hat sie ständig gedemütigt. Sie sind explodiert.". Und er sah, wie seine eigene Fratze begann, mit dem Kopf zu nicken. „Ich wollte sie stoßen”, hörte er sein Spiegelbild sagen. „Ich habe sie gehasst. Ich wollte nicht mehr gedemütigt werden. Sie hat es verdient. Ich habe sie gestoßen. Ich habe sie umgebracht.“ Stille. Eine lange Pause. Tief in seinen Abgrund blickend, sah er, was er in seiner Fantasie tun wollte. Er hat es nicht getan, aber er wollte es tun. Er fühlte seine Schuld, weil er eine Straftat begehen wollte. Wie sehr wollte er es tun. Wie oft hatte er sich unbewusst vorgestellt, sie zu töten, um diese Demütigungen endlich zu beenden."

Er sah die Richterin an, die den Schuldspruch verkündete. Das war die soziale Realität. Der Spiegel veränderte sich. Die Gesellschaft hatte entschieden, was die Wahrheit war. Es hatte keinen Sinn mehr, zu leugnen. Er hatte es nicht getan. Aber er wurde so behandelt, als ob er es getan hätte. Als Verurteilter machte es nie Sinn, zu sagen, dass man unschuldig ist. Das wusste er. Die Richterin sah ihn ernst an. Kurz blickte er zu Boden. Sein Gesicht veränderte sich. Sein Wesen begab sich in seinen Keller. Die Vorstellung, seine Verlobte ermordet zu haben, kam in seiner Fratze zum Vorschein. Er blickte wieder hinauf und sah die Richterin mit Mordlust an. Ein diabolisches Lächeln. Sie erschauderte und spürte, dass ihr Urteil rechtens war.

Er stand auf. Ruhig. Ab nun war er offiziell ein Mörder. Er akzeptierte es. Seine Fantasien wurden zu seiner neuen Realität. Es fühlte sich echt an. Er hatte es nicht getan. Aber alle sagten, dass er es getan hatte. Also hatte er es getan. Er wurde zum Täter. Seine Vorstellungen wurden zu seiner Realität. Er musste seinen Schatten nicht mehr verstecken. Und er fühlte sich frei.

 

Perspektive

Ein Anwalt, der beruflich die Keller anderer enttarnt, wird nach dem tödlichen Sturz seiner Partnerin selbst zum Objekt eines von außen konstruierten Narrativs. Die Beziehung war weniger Liebe als Resonanz zweier Abwehrmuster, sein überhöhtes Unterstützen und ihr perfektionistisches Abwerten tanzten miteinander bis aus Reibung Brand wurde. Aus Indizien wurden Geschichten, und aus Geschichten formte sich eine neue Identität. Im Jahr der Ungewissheit sickert die Fremderzählung in ihn ein. Er steigt Stufe für Stufe in seinen eigenen Keller hinab und findet dort nicht Heilung, sondern Verschmelzung. Seine Gewaltfantasien waren real, sein Hass war real, doch anstatt zu erkennen, dass beides nebeneinander bestehen darf, der Impuls und die Nicht-Tat, kollabiert diese Grenze. Das Urteil wird zur Initiation, er akzeptiert die zugeschriebene Rolle und findet darin eine perverse Erleichterung.

Die Geschichte erzählt vom Unterschied zwischen echter Schattenintegration und toxischer Identifikation. Echte Integration würde bedeuten: Ja, ich habe diese Impulse, und ich bin verantwortlich dafür, sie nicht auszuleben. Toxische Identifikation bedeutet: Ich habe diese Impulse, also bin ich ein Mörder. Echtes Ganzwerden läge im Aushalten der Schwelle, dort wo Blick, Impuls und Urteil nebeneinander bestehen dürfen. Doch der soziale Spiegel von Polizei, Medien und Gerichtssaal verzerrt nicht nur, er erschafft. Er hätte beides sein dürfen, jemand mit mörderischen Impulsen der nicht mordet, doch er gibt diese Ambiguität auf für die Klarheit einer eindeutigen Identität.

Der Mann verliert nicht seine Freiheit durch das Gefängnis, sondern gewinnt eine perverse Form von Freiheit durch den Verlust seiner eigenen Wahrheit. Die Vorstellung wird zur Realität, weil die Realität nichts anderes mehr zulässt. Das diabolische Lächeln am Ende ist der Moment der vollständigen Transformation. Er erfährt, dass es eine erschreckende Erleichterung sein kann, endlich aufzuhören gegen die Zuschreibung anzukämpfen und stattdessen in sie hineinzufallen wie in einen lange verdrängten Abgrund. Er gibt seine Menschlichkeit auf für die Klarheit, lieber Mörder sein als mit der Ambiguität leben. Er wird zu dem, was man in ihm sieht.

 
 
 

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