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Die Lebensentscheidung

Aktualisiert: 9. Dez.

(Musik: Honour the Water, Ayla Schafer)

Der Wecker läutet um 6:30 Uhr. Er steht auf und geht duschen. Währenddessen überlegt er, was er heute tun wird. Er duscht fünf Minuten länger, dafür ist er aber schon vorbereitet für den nächsten Schritt – eine gut investierte Zeit. Er hat die Kleidung bereits mit ins Badezimmer genommen, trocknet sich effizient ab und zieht sich danach an. Seine Katze begrüßt ihn freundlich. Er streichelt sie kurz über den Kopf und wünscht ihr einen schönen guten Morgen. Während die Kaffeemaschine aufgeheizt wird, schneidet er zwei Brote ab. Er schaut kurz in den Garten, „schön ist es hier”, denkt er nebenbei und folgt dann seinen routinierten Abläufen. Er füttert seine Katzen. Er holt sich Butter, Schinken und Marmelade sowie zwei Vitamintabletten. Während er frühstückt, beantwortet er am Handy eine erste wichtige E-Mail und trinkt den nunmehr angenehm lauwarmen Kaffee mit dem zweiten gestrichenen Marmeladebrot. Er trinkt noch ein Glas Wasser, dann sitzt er um 7 Uhr vor dem Computer und schreibt seine To-do-Liste, die er bereits in der Dusche geplant hat. "Klare Prioritäten setzen, eine gut abgestimmte Liste von Handlungen, um nicht den Fokus zu verlieren", hört er sich denken. Erstes Meeting. Währenddessen blickt er kurz aus dem Fenster, „schön ist es hier“, geht ihm unbewusst durch den Kopf. Und weiter im Takt. Um 12 Uhr isst er ein Müsli mit Milch. Gesund und effizient. Er trinkt einen zweiten Kaffee, isst ein Stück Schokolade und legt sich dann ins Bett. Wie immer schläft er genau zwanzig Minuten und wacht mit dem Einsetzen der Koffeinwirkung wieder fit auf. Um 12:30 Uhr ist das nächste Meeting angesetzt, danach schreibt er das Protokoll fertig. Entspannt und fokussiert arbeitet er, ohne seine Ziele aus den Augen zu verlieren. Im Hintergrund spürt er leicht das Gefühl der Überforderung, das er als Eustress interpretiert. Um 16 Uhr macht er eine kurze Pause, geht durch das Wohnzimmer und wirft einen Blick in den Garten. „Schön ist es hier”, denkt er sich wieder. Die letzten zwei Stunden des Tages nutzt er für die Arbeit. Er holt die Kinder ab, fragt sie, wie es ihnen geht, lächelt freundlich, macht Abendessen und lässt sie spielen. Er putzt ihnen die Zähne, legt sich kurz mit ihnen ins Bett und entspannt sich anschließend beim Fernsehen. Und der nächste Tag beginnt.

Der Wecker ertönt, doch dieses Mal steht er nicht auf. Verwirrt blickt er auf das Gerät. Wie freundlich er ihn anlächelt und ihn mit ruhiger Musik aus dem Schlaf holt. Die Melodie erinnert ihn daran, dass er irgendwann wieder Klavier spielen möchte. Er dreht das Wasser in der Dusche auf und blickt verwundert auf seine Regendusche. Wie in Zeitlupe beginnen sich Tropfen zu bilden. Sie strahlen ihn mit angenehmer Temperatur an, bevor sie sanft auf sein Gesicht fallen. Er atmet tief ein und spürt zum ersten Mal jeden einzelnen Wassertropfen auf seiner Haut, die sich sanft ihren Weg über seinen Körper in die Badewanne bahnen. Er erlebt ein liebevolles Streicheln, ein behütetes, wohliges Gefühl, als würde das Wasser ihn umarmen und mit ihm kuscheln wollen. Er beginnt, das Wasser und damit sich selbst zu umarmen. Es fühlt sich gut an, sich zu spüren. Wie lange duscht er schon? Er verabschiedet sich von den Tropfen, während ihn sein weiches Handtuch begrüßt. Frisch gewaschen und voller Vorfreude, das Wasser von seinem Körper aufzusaugen, streicht er es behutsam über seinen Körper, während sich seine Katze an seine Füße schmiegt. Er beugt sich hinunter und streichelt sie am Kopf. Seine Gedanken wollen weiterziehen, doch sein Körper setzt sich hin, lehnt sich an die Wand und beginnt, dieses schöne Tier zu streicheln. Sie beginnt sanft zu schnurren. Es gibt nichts zu tun, außer seine Katze zu streicheln. Sie hält ihm genussvoll ihr Köpfchen hin und lässt ihren Körper fallen, um auch am Bauch liebkost zu werden. Seine Hände bewegen sich wie von selbst über den warmen Katzenkörper und beginnen mit ihm zu schnurren. Zwei sich liebende Körper, die füreinander da sind. Wie viel Zeit vergangen ist, weiß er nicht, während er sanft nach seiner Kleidung sucht. Plötzlich sitzt er in seinem Garten und riecht die Morgensonne, die ihm langsam näherkommt. Er atmet tief ein und spürt beim Ausatmen, wie sein Körper vibriert, als würde er schnurren. All diese Blätter tanzen im Wind, ohne Intention, ohne etwas zu wollen. Sie sind einfach nur da. Er empfindet eine tiefe Dankbarkeit, sie betrachten zu dürfen. Offensichtlich genießen sie es sich ästhetisch durch den Wind zu bewegen. Seine Finger streichen liebevoll über das Vollkornbrot und er ist fasziniert von den weichen, eingestreuten Kernen. Er nimmt einen davon in die Hand, führt ihn zum Mund und betastet ihn neugierig mit der Zunge. Wie weich die äußere Hülle zu sein scheint, wie angenehm es ist, sie zu zerbeißen. Seine Finger bleiben an seinen Lippen hängen und streichen darüber, als wollten sie geküsst werden. Im nächsten Moment blickt er einer Kollegin mitten ins Gesicht, die ihn entspannt vom Monitor aus anlächelt. Sie spricht mit ihm und fasst Budgetzahlen zusammen. Er geht durch die Tabellen, ordnet die Zahlen und genießt es, sie zu interpretieren. Er atmet ein und wieder aus. Plötzlich lächelt er seine Kollegin an, die sein Lächeln erwidert. Zwei lächelnde Gesichter, die sich über ihre Monitore hinweg begegnen. Plötzlich fühlt er die Umarmung seiner Tochter, die er gerade abgeholt hat. Diesen kleinen, zarten Körper, der voller Kraft ihren Papa umarmt, damit er nie wieder geht. Er spürt, wie sanft ihre Stimme ist und wie ihre Augen bei ihren Geschichten glänzen. Er fühlt mehr, als er versteht. So viele sich überschlagende Kindergefühle purzeln durch den Raum, drehen sich, lachen, weinen, verstecken sich und wollen gesehen werden. Mitten im Gang sitzen die beiden, überschwemmt von tiefer Kinderliebe, während die anderen Eltern, teils erstaunt, teils entzückt, an den beiden vorbeigehen. „Schau, dieser Papa sitzt mit seiner Tochter am Boden“, hört er ein Kind im Hintergrund sagen, während er mit ihr tief verbunden an ihrem Leben teilhaben darf. Sein Sohn erschreckt die beiden, und alle lachen aufgeregt. Und dann liegen sie alle drei am Abend zusammen. Er liest sanft ein Buch vor. Die beiden kleinen, atmenden und warmen Körper liegen jeweils auf einer Seite seines ruhigen, sprechenden Körpers. Sie umarmen sich gegenseitig. Ein tiefes Gefühl von Heimat und Verbundenheit stellt sich ein, selbst als sie eingeschlafen sind. Er beobachtet die tiefen Atemzüge dieser beiden liebevollen Wesen, streichelt ihre Rücken und lächelt sie an. Seine Hand bewegt sich auf ihren Rücken wie ein Boot auf einem ruhigen Meer, jeder Atemzug eine tiefe Welle bewegten Lebens.

Und plötzlich läutet der Wecker. Die Welt steht still. Er liegt im Bett. Er bewegt sich nicht. Sein Atem ist vorsichtig und ruhig. Nichts bewegt sich. Alles ist angehalten. Seine Augen blicken nervös durch den Raum, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. Er spürt einen inneren Druck. Er weiß nicht, ob er Angst haben oder laut auflachen soll. Aber ihm ist bewusst, dass seine nächste Entscheidung alles ändern wird. Seine Gedanken drängen ihn aufzustehen, zu duschen, zu planen und zu handeln. Sein Körper möchte jedoch liegen bleiben, spüren, wahrnehmen und leben. Und er spürt, dass er jetzt sein Leben entscheidet. Jeden Tag wieder.

 

Perspektive

Diese Erzählung zeigt einen Mann an der Schwelle zwischen zwei Wirklichkeiten desselben Lebens. Der erste Morgen ist ein Uhrwerk aus Effizienz: Fünf Minuten Dusche als Investition, Katzenstreicheln als kurzer Gruß, E-Mails beim lauwarmen Kaffee. Das dreimal wiederkehrende „Schön ist es hier” erscheint wie ein leiser Notruf, der vom Takt der Routinen übertönt wird. Unter der Oberfläche pulsiert ein Druck, den er „Eustress” nennt – ein Etikett, das die Überforderung zähmt. Zeit wird zum Rohstoff, der Körper zum Werkzeug und Beziehungen werden korrekt bedient. Alles fließt, doch nichts berührt. Die Routine ist ein Panzer aus Kontrolle und Leistung geworden.

Am zweiten Morgen bricht die Schale auf: Wasser berührt und reinigt, die Katze wird zum schnurrenden Resonanzkörper, Garten und Brot werden zu Sinnesreisen. Selbst die Budgetzahlen im Meeting verwandeln sich in Begegnung und das Lächeln der Kollegin durchbricht den Monitor. Die Umarmung seiner Tochter überschwemmt ihn mit Kinderliebe. Er sitzt mit ihr am Boden und lässt sich von Gefühlen tragen, die sich in keinem Protokoll festhalten lassen. Abends liegen sie zu dritt, drei atmende Körper an einem ruhigen Meer. Außen bleibt vieles gleich, doch innen kippt die Haltung vollständig. Aufmerksamkeit übernimmt die Führung statt reiner Absicht. Nichts „Großes” passiert und doch wird alles anders, weil er nicht mehr funktioniert, sondern bewohnt.

Der dritte Morgen ist die Stille dazwischen. Der Wecker läutet, doch nichts geschieht. Die Gedanken schreien: Steh auf, plane, handle. Der Körper flüstert: Bleib, spüre, lebe. In diesem Stillstand verdichtet sich die eigentliche Lebensentscheidung. Sie ist kein einmaliger Paukenschlag, sondern ein wiederkehrender Vollzug. Es geht nicht darum, „welches Leben“ geführt wird, sondern „wie“ dasselbe Leben bewohnt wird. Der Wecker steht als Schwellenhüter da und eröffnet täglich zwei Pfade: Automatisierte Leistung oder erlebte Anwesenheit. Der Mann entscheidet nicht mit dem Kopf, sondern mit dem nächsten Atemzug. Leben ist kein Plan, sondern ein tägliches Ringen darum, ob man lebt oder nur noch abläuft.

 
 
 

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