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Die Frage nach dem Sinn des Lebens

Plötzlich lachte er laut auf. Er konnte nicht anders. Es überkam ihn völlig spontan. Zunächst spürte er ein leichtes Kribbeln tief in seinem Bauch. Innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde strömte es durch seinen ganzen Körper. Er war sich nicht einmal bewusst darüber, was in diesem Moment geschah. Es war eine Explosion, die nicht mehr zu stoppen war. Ein Lachen überschlug das nächste wie riesige Wellen im Ozean. Es war ein Tsunami, der durch eine Explosion tief in der Erde ausgelöst wurde. Der Planet bebte, die Erde brach auseinander und die Wellen der Befreiung überschlugen sich. Es war diese völlig überraschende und alles verändernde Erkenntnis.

Wie lange hatte er wohl schon über den Sinn des Lebens nachgedacht? War es ein Jahr? Waren es zehn? Wie lange hatte er schon nach etwas gesucht, das wirklich sinnvoll war? Wie viele Versuche hatte er bereits unternommen? Er hatte so viele unterschiedliche Studiengänge absolviert, so viele Beziehungen geführt und so viele Reisen unternommen. Und immer ist ihm die Frage wie sein Schatten gefolgt, ob das denn wohl alles sinnvoll sei. War es sinnvoll, zu studieren? War es sinnvoll, diese Beziehung zu führen? War es sinnvoll, in dieses Land zu reisen? Doch plötzlich kam ihm die Erkenntnis, dass es nicht sinnvoll war, über den Sinn nachzudenken. Er prustete los, als ihm dieser Gedanke wieder in den Sinn kam. Sein Bauch schmerzte bereits vor Lachen. Wie so oft saß er auf seiner Couch, das Notizbuch auf den Oberschenkeln, eine Tasse Schwarztee mit Milch neben sich. Er erstellte Skizzen und schrieb Fragen und Ideen auf. Doch jetzt lag er quer über seinem Notizbuch. Er hielt sich den Bauch, während er sich zerkugelte.

Es war diese herrliche Paradoxie. Wie blind er war, über den Sinn nachzudenken, ohne sich zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll war, über den Sinn selbst nachzudenken. Es erlöste ihn. Er ging in die Küche und kochte sich einen weiteren Tee. Doch diesmal tat er es, ohne darüber nachzudenken, ob es sinnvoll war, einen Tee zu trinken. Denn Tee zu machen und ihn zu trinken fühlte sich so viel sinnvoller an, als darüber nachzudenken, ob es denn jetzt sinnvoll sei. Diese Erkenntnis überschwemmte ihn, als wäre ein Tsunami an Land aufgeschlagen. Er fühlte sich wie ein Delfin, der sein Leben lang gemütlich am Strand gelegen hatte und sich nicht ganz wohl in seiner Haut gefühlt hatte. Es fühlte sich alles so trocken an. Plötzlich wurde er vom Tsunami weggespült und er spürte, wie schön es war, im Wasser zu leben. „Warum war ich eigentlich die ganze Zeit am Land?“, fragte er sich, während er mit der Strömung wieder ins Meer zurückgeschwemmt wurde. Wie schön es war, im Meer zu schwimmen, statt nur sehnsüchtig darauf zu blicken. Er war die ganze Zeit so nahe am Meer gewesen, aber eben nie im Meer. Wie unangenehm heiß die Sonne ständig auf seine Schuppen schien. Er roch das Meer, er aß Fisch, aber er saß wie ein gestrandeter Seelöwe im Sand und war unglücklich. „Wie ist es wohl dort im Meer?“, fragte er sich so oft, ohne auf die Idee zu kommen, sich einfach in die Fluten zu stürzen. Manchmal braucht es einen Tsunami, um Meerestiere ins Meer zu holen.

In diesem Moment änderte sich alles. Es war vollkommen egal, was er machen wollte. Bei jedem gedanklichen Vergleich gewann die Handlung, wenn er sie dem Sinn gegenüberstellte. War es sinnvoller, Tee zu kochen oder darüber nachzudenken, ob es sinnvoll ist, Tee zu kochen? War es sinnvoller, ein Buch zu lesen, oder darüber nachzudenken, ob es sinnvoll ist, ein Buch zu lesen? Plötzlich war alles sinnvoller, als darüber nachzudenken. Die Philosophie, die Liebe zum Denken, wurde auf einen Schlag so uninteressant wie das Bild eines frischen Apfels in seiner Küche. „Du bist nur ein Bild von einem Apfel. Aber du bist kein echter Apfel“, lachte er und biss in einen echten, roten Apfel hinein, der vor Freude zerplatzte. Ist Lachen sinnvoll? Ist Freude sinnvoll? Im Vergleich zum Grübeln auf jeden Fall. Sein Gehirn jonglierte mit all diesen Vergleichen und ständig drangen satte und kräftige „Ja“ an die Oberfläche. Er strahlte, als er seinen frischen Tee zur Couch mitnahm.

Er bemerkte, dass er ständig an eine finale Bewertung dachte. Hatte er richtig gelebt? Wie so oft imaginierte er sich auf dem Sterbebett. Kurz vor seinem Tod waren seine Liebsten zu ihm gekommen. Sie wollten sich verabschieden. In seiner Vorstellung fragte ihn einer seiner Enkel, ob er ein sinnvolles Leben geführt habe. Er war bereits ein alter Greis geworden, dünnhäutig, mit Falten übersät und mit einem gutmütigen Blick. Er nahm die Hand seines Enkels und blickte ihn an. Alle im Raum erahnten, dass dies der eine Moment sein würde, an den sie sich alle noch ihr restliches Leben erinnern würden. Die Vorstellung, am Ende des Lebens, kurz vor dem Übergang ins Jenseits, noch einen Gedanken oder ein Gefühl an die Nachwelt zu hinterlassen. Die Zeit schien stillzustehen, als er langsam sprach. „Weißt du, Jonathan, ich habe mein Leben lang darüber nachgedacht, was sinnvoll ist.“ Am Anfang war Stille. Niemand wusste genau, welche Reaktion angemessen war. Jonathan blickte kurz zu seinem Vater und fragte sich, was er darauf sagen sollte.  Als er sich wieder zu seinem Opa umblickte, lächelte der Enkel ihn verschmitzt an. Und dann begann einer nach dem anderen in der Runde zu lächeln. Zu grinsen. Sie hielten sich die Hände vor den Mund. Bis schließlich jemand begann, herzhaft zu lachen. Es löste eine Explosion aus. Einer nach dem anderen zersprang vor Lachen. Sie prusteten und stützten sich gegenseitig, um nicht umzufallen. Jonathan kippte mit dem Kopf auf die dünne Hand seines Opas, während sein Körper vor Lachen bebte.

Anfangs war der alte Mann irritiert. Genau diesen Satz wollte er seinen Hinterbliebenen mit auf den Weg geben, wenn sein Leben zu Ende geht. Er hatte lange über den Sinn des Lebens nachgedacht. Er hatte sich diesen Moment tiefgreifend und intellektuell inspirierend vorgestellt. In seiner Vorstellung sollte sein Enkel sagen: „Ich habe meinen Opa als Philosophen kennengelernt. Selbst am Sterbebett hat er über den Sinn gesprochen.“ Doch sein Enkel reagierte anders als erwartet. „Du hast was gemacht?”, fragte ihn sein Enkel mit Tränen in den Augen vor lauter Lachen. „Du hast darüber nachgedacht, was sinnvoll ist?” Allein diese Frage brachte die ganze Gruppe wieder zum Auflachen. Sie fanden es unglaublich schön, lustig, naiv und zutiefst menschlich, sich tatsächlich so eine Frage zu stellen – ein ganzes Leben lang.

Da öffneten sich die Augen des irritierten Opas. Wie sinnlos es war, ständig über den Sinn nachzudenken, schoss ihm durch den Kopf. Seine Augen weiteten sich immer mehr, sein müder Mund öffnete sich und schließlich begann er selbst zu lachen. Erst leise, in sich hinein lächelnd, dann im Chor mit den anderen. Es war ein Tanz voller Gelächter. Ein befreiendes Lachen, das alles loslassen konnte. Es war wunderschön, in diesem Moment zu erkennen, wie sinnlos die Frage gewesen war. Als er langsam wieder zur Ruhe kam, schlief er ein. Das letzte Mal. Mit einem Lächeln im Gesicht. Er hatte endlich auch erkannt, dass es einfach nicht darum ging, ob er, andere oder eine abstrakte Instanz den Stempel des Sinns auf sein Leben drückten. Es war einfach nicht relevant, wenn das Leben selbst vor Leben strotzte. Was hätte er sich Schöneres erhoffen können, als mit seinen Liebsten am Sterbebett noch einmal herzhaft zu lachen und das Leben nicht allzu ernst zu nehmen?

Nachdem er gestorben war, kam er tatsächlich in einen Raum, in ein Nichts oder auch ein Alles. Dort angekommen, hörte er die Frage, die er sich sein Leben lang gestellt hatte. „War dein Leben sinnvoll?” Er wollte schon anfangen zu erzählen, was er getan, was er nicht getan hatte und was er noch gerne getan hätte. Doch in diesem Augenblick spürte er, dass es nur sein Spiegelbild war. Sein Spiegelbild fragte ihn, ob sein Leben sinnvoll gewesen war. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass hinter ihm ein weiteres Spiegelbild stand. Dieses fragte ihn wie ein Echo: „War dein Leben sinnvoll?“ Erst jetzt sah er, dass er von Spiegelbildern umgeben war. Unendlich viele Spiegelbilder blickten auf ihn und stellten ihm die Frage nach dem Sinn seines Lebens. War es sinnvoll? War es sinnvoll? War es sinnvoll?

Verstört und fast panisch schlug er die Hände vor sein Gesicht. Doch in diesem Augenblick wurde ihm die Paradoxie wieder bewusst und er erwachte. Er nahm die Hände vom Gesicht und blickte sich um. Einen kurzen Augenblick lang war er still. Sofort verstummten auch seine Spiegelbilder. Alle sahen sich gegenseitig an. Jeder wusste, dass jetzt der entscheidende Moment gekommen war. Eine Antwort? Resignation? Dann prustete er wieder los. Er lachte laut auf, als ihm klar wurde, dass er doch nur sich selbst, seinem eigenen Bewusstsein, gegenüberstand. Auch die Spiegelbilder konnten sich das Lachen nicht unterdrücken. Eines nach dem anderen hielt sich den Bauch, bis tief in die Unendlichkeit hinein.

Er war einfach nur im Sein. Die Frage, die er stellte, war irrelevant. Wenn er lachte, dann lachte er. Was er tat, das tat er. Die Unendlichkeit all seiner Handlungen befreite ihn von seiner eigenen inneren Bewertung. Selbst hier, am Ende, am Anfang oder in einem zeitlosen Sein, ging es nicht darum, was in seinem Leben war und wie es war, sondern einfach nur darum, was jetzt war. Und jetzt war es einfach nur befreiend, zu lachen – mit sich selbst und der Unendlichkeit. Es gab kein Danach, kein Davor, keine Bewertung und keine Rechtfertigung. Und er spürte, dass all das einfach nur sinnvoll war.

 

Perspektive

Diese Geschichte offenbart eine fundamentale Transformation, den Übergang von einem Leben im mentalen Gefängnis der Selbstbeobachtung zu einem unmittelbaren Erleben des Daseins. Der Mann hat sein Leben nicht gelebt, sondern es beobachtet, bewertet und hinterfragt. Jede Handlung wurde durch das Prisma der Sinnfrage gefiltert, wodurch sie ihre Lebendigkeit verlor. Der Protagonist hat jahrelang in einer Welt der Konzepte und Bewertungen, in einer Welt der Bilder gelebt. Das wirkliche Leben ist jedoch der Apfel, der vor Freude zerplatzt, wenn man hineinbeißt. Die Paradoxie, die ihn erlöst, zeigt ihm, dass der Verstand sich selbst gefangen hält. Es ist, als würde man versuchen, Wasser zu greifen. Je fester man zupackt, desto mehr rinnt es durch die Finger.

Das Bild des gestrandeten Delphins trifft den Kern seiner Existenz. Das Tier liegt am Strand und kann das Meer sehen, riechen und schmecken, ist aber nicht darin. Manchmal muss das Leben uns zwingen, loszulassen, wenn wir es nicht freiwillig können. In der Sterbeszene wird die tragikomische Absurdität vollends sichtbar. Ein ganzes Leben damit verbracht, zu grübeln, ob man richtig lebt, statt einfach zu leben. Das Lachen der Familie ist ein Akt der Vergebung für die zutiefst menschliche Tendenz, sich selbst im Weg zu stehen.

In der jenseitigen Spiegelkammer offenbart sich die ultimative Wahrheit. Die Frage nach dem Sinn kommt nur von einem selbst. Es gibt keine äußere Instanz, die ihn bewertet, sondern nur unendliche Reflexionen seines eigenen Geistes. Das finale Lachen ist Akzeptanz. Am Ende erkennt er, dass alles sinnvoll war, nicht weil es einem höheren Zweck diente, sondern weil es einfach war. Die Geschichte vollzieht eine Bewegung von der Spaltung zur Ganzheit, vom Denken über das Leben zum Leben selbst.

 
 
 

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