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Die Flamme

(Musik: Enter One, Sol Seppy)

Er schreibt an dem Report. Er kann es gut. Ein weiterer Bericht, genaue Analysen und eine klare Struktur. Das ist seine Rolle. Deswegen ist er hier. Die Feder in die Tinte steckend, mit präzisen Handgriffen. Die Feder streicht über das Pergament. Das leise Kratzen zwischen den Materialien, die schwarze Tinte, die sich mit dem Papier vermengt. Er atmet ruhig, aber oberflächlich. Er wirkt leicht gestresst. Aber er dient dem Herzog gut. Er wird zufrieden sein. Wie so oft. Er möchte ihn nicht enttäuschen. Er möchte sich selbst nicht enttäuschen. Es ist richtig, was er macht. So war es ausgemacht. Die Kerze neben ihm brennt. Dafür ist sie da. Eine Kerze ist da, um Licht zu erzeugen. Sie flackert leise durch die Nacht und erhellt den Raum in gelblichem Licht. Sie ermöglicht den Augen, alles wahrzunehmen. Dafür ist sie da. So war es ausgemacht. Während Bruchstücke dieser Gedanken durch seinen Kopf geistern, beginnt er, sie anzusehen. Das Flackern der Flamme spiegelt sich in seinen Augen wider. Es ist ihre Aufgabe, zu brennen. So wie es seine Aufgabe ist, den Report zu schreiben. Kollegiale Gefühle steigen in ihm auf. Die Kerze ist sein Verbündeter, sie wissen wofür sie da sind. Er lächelt. „Ja, dafür bin ich da. Ja, dafür bin ich da.“

Mit jedem Satz hofft er, mehr Gewissheit zu erlangen. Dafür ist er da. „Und dafür bist du da”, sagt er plötzlich etwas lauter zur Kerze. „Dafür bist du da". Seine Miene hat sich jedoch bereits veändert. Das Lächeln ist verschwunden. Es hängt nur noch wie eine blasse Erinnerung in seinem Gesicht. „Dafür bist du doch da“, wiederholt er zur Flamme. Hoffend, dass sie ihm ein Zeichen gibt. Ein Nicken der Flamme würde ihm genügen. Ein Tintentropfen löst sich von der Feder über dem Pergament. Er fällt schwerelos auf das Pergament, explodiert in einer Vielzahl kleiner weiterer Tropfen. Nach einem kurzen Flug krachen sie auf das Schreibpapier, das die Farbe gierig aufsaugt. „Dafür bist du doch da!”, schreit er die Flamme an. „Das ist deine verdammte Aufgabe!" Die Flamme, die vom Wind der Stimme weggedrückt wurde, findet wieder ihre Balance. Die Schallwellen pulsieren durch den Raum, bis sie von ihm in der dunklen Stille verschluckt werden.

Eine Träne löst sich aus seinen wutentbrannten Augen. Sie rinnt langsam und würdevoll über seine Wange, bis sie sich schließlich von seinem Körper löst. Durch die Stille fällt sie auf das Pergament und lässt sich von ihm einsaugen. „Dafür bist du doch da! Nur dafür bist du da!“, schreit er immer frustrierter die Flamme weiter an, die in ihrer Ruhe weiterbrennt. Wissend. Zulassend.

Tränen rinnen aus seinen Augen und fließen auf das Pergament. Sie vermengen sich mit der eingetrockneten Tinte. Das Pergament lässt sie wieder los und entspannt die starre Schrift. „Wofür bist du sonst da?”, hört er sich selbst, schon viel leiser, fragen. Den Kopf senkend, bitterlich weinend. „Wofür bin ich sonst da?” bricht endlich die eigentliche Frage aus seinem Mund heraus.

Sein Körper vibriert und schüttelt sich, während sich die Tränen weiter mit der Tinte vermischen und zu tanzen beginnen. „Schreibe mit Tränen und Blut!”, schießt es ihm durch den Kopf. Seine Finger ziehen die verflüssigte Farbe über das Pergament. Wie in Trance lässt er es zu. Der Bericht ist nicht mehr relevant. Dafür ist er nicht da. Leise gleiten seine Finger liebevoll über das Pergament. Sie lassen die eingetrocknete Farbe wieder frei. Seine Tränen haben die starre Vorstellung gelöst. Die Schrift verflüssigt sich und lässt sich malen und träumen. Während er Kreise und Formen entstehen lässt, sieht er verschwommen durch seine feuchten Augen, wie seine Finger ein Bild malen. Über die exakte und schöne Schrift hinweg. Vermengt durch Tränen lässt er die oberflächlichen Worte verschwimmen. Sie schwimmen über den See der Tränen in eine neue Realität. In eine dahinterliegende Welt, in die Tiefe der Gefühle und der Liebe. Leise zitternd, als würde er einem neugeborenen Baby sanft über die Wangen streichen, beobachtet er sich selbst. Die Berührung mit dem Pergament ist liebevoll, zärtlich und wohlwollend. Er malt seine Gefühle auf das Pergament. Jede Bewegung ist richtig. Er fühlt sich verbunden. Mit sich selbst und mit jeder seiner Handlungen.

Und da beginnt sein Herz langsam wieder zu schlagen. Sein Atem wird fast unmerklich tiefsinniger. In ihm beginnt eine kleine Flamme zu brennen. Zunächst ist sie kaum spürbar, vorsichtig und fragil. Doch mit jedem Atemzug beginnt sie in seinem Herzen etwas kraftvoller zu brennen. Die ersten Lichtstrahlen entstehen. Sie erleuchten den dunklen Raum in seinem Herzen. Ein tiefer Atemzug lässt sie noch weiter erleuchten. Die Flamme in seiner Brust beginnt, Wärme zu erzeugen, und er spürt, wie sein vereistes Herz langsam auftaut. Das Licht und die Wärme bewegen sich tanzend durch seinen Hals hinauf zu seinem Kopf. Ein Muskelzucken um seinen Mund herum verrät ihr Ankommen. Und er spürt, wie das wärmende Licht ein Lächeln auf sein Gesicht zaubert. Es ist zärtlich und ruhig, aber echt und kraftvoll. Es ist nicht mehr aufgesetzt, nicht mehr gewollt, sondern erlösend.

Er versucht nicht zu lächeln, sondern versucht nur es nicht zu verhindern. Er lässt es zu, und seine Augen beginnen zu strahlen. Neue Tränen bilden sich. Es sind warme Tränen des Glücks, genährt von der tiefen Flamme in seinem Herzen. Sie rinnen über sein Gesicht hinunter, den Hals entlang, vorsichtig, aber wissend, über seinen Arm bis hin zu seiner Hand. Die Feder, das Werkzeug für andere, liegt schon längst auf der Seite, noch etwas missmutig, weil sie nicht mehr für ihren geplanten Zweck dienlich ist. Doch dann erinnert sie sich an ihren eigentlichen Sinn. War sie nicht Teil eines wunderschönen Vogels gewesen? Plötzlich erinnert sie sich wieder an das Fliegen, umgeben von all den anderen Federn. Wie sie auf kräftigen Flügeln über das Land gleitet und den Wind der Freiheit spürt. Sie vergisst die Tinte in sich und fühlt sich wieder verbunden mit dem echten Leben, tief verwurzelt im eigenen Körper. Die Tränen des Mannes fließen weiter über die Finger, vermengen sich mit dem Pergament und tanzen ein neues Bild. Anstelle der schwarzen Tinte von außen flammt das innere Herz auf und lässt liebende Tränen das Bild des Lebens entstehen.

Es war der Beginn des Erwachens, erinnert er sich noch Jahre später, als er seine eigenen Bilder malte. Mit den Farben seines Herzens. Er steht vor einem riesigen Bild. Sanft malt er einen Strich nach dem anderen. Jeder Strich drückt seine Liebe aus. Jede Bewegung entsteht aus seinem Herzen, vorsichtig und ruhig, wie eine kleine Flamme, die mutig Licht und Wärme durch seinen Körper pulsieren lässt. Seine Hände folgen dem inneren Licht, das sich in seinen Bildern ausdrückt. Sein ganzer Körper vibriert, denn jeder Strich entstammt seinem liebenden Herzen. Es fließt durch ihn hindurch in die Welt. Als er sich zu seinen Farbpaletten dreht, treffen seine strahlenden Augen die Flamme seiner alten Kerze. Sie lächeln sich an. Die innere und äußere Flamme begegnen sich. Sie tanzen liebevoll miteinander. „Dafür sind wir da”, hört er sich sagen, dreht sich zurück zum Bild und malt einen weiteren Strich. „Es wird wunderschön“, hört er hinter sich von seiner Kerze flüstern.

 

Perspektive

Die Geschichte beginnt in einer sterilen Welt funktionaler Existenz. Ein Mann schreibt Berichte für den Herzog. Er ist gefangen in der Illusion von Pflicht und äußerem Zweck. Sein flacher Atem und die obsessive Wiederholung „Dafür bin ich da” entlarven die existenzielle Leere eines Lebens ohne inneren Kontakt. Er ist zum Funktionär seiner eigenen Lebendigkeit geworden, zur Feder in fremder Hand. Die Kerze fungiert als Spiegel dieser Entfremdung und seine verzweifelte Suche nach Bestätigung durch die Flamme offenbart die ursprüngliche Verletzung. Die Trennung vom innersten Wesen ist eine Schutzstrategie vor dem eigenen ungelebten Sein. Doch die Flamme antwortet nicht mit einem Nicken, sondern mit ihrer schlichten, unerschütterlichen Gegenwart. Diese zwingt ihn, der eigenen inneren Leere zu begegnen.

Der Wendepunkt kommt durch eine existenzielle Erschütterung. Die Frage „Wofür bin ich sonst da?” löst den notwendigen Zusammenbruch aus und die Wut auf die Kerze entlarvt sich als Wut auf das eigene, verdrängte Selbst. Wenn Tränen das Pergament erreichen und die starre Tinte verflüssigen, geschieht alchemistische Transformation, bei der emotionale Reinigung intellektuelle Erstarrung auflöst und mechanisches Überleben in vitale, herzbasierte Kreativität umwandelt. Seine Finger beginnen zu malen, nicht mehr dienend, sondern aus innerer Notwendigkeit, und die Berührung des Pergaments wird liebevoll und zärtlich. Das Zulassen dieser Bewegung markiert den Übergang von Kontrolle zu Hingabe und von aufgesetzter Funktion zu authentischem Ausdruck.

Die kleine Flamme im Herzen symbolisiert das wiedererwachende Seelenlicht. Das aufgetaute Herz pulsiert Wärme durch den erstarrten Körper, bis ein authentisches Lächeln entsteht – nicht gewollt, sondern erlösend –, während die Feder sich ihrer wahren Natur als Teil des fliegenden Vogels erinnert. Der Epilog zeigt Ganzheit. Er malt mit den Farben seines Herzens und das abschließende Gespräch mit der Kerze symbolisiert die Transformation von funktionaler Abhängigkeit zu partnerschaftlicher Mitschöpfung. Dies ist die zeitlose Geschichte der spirituellen Befreiung: der mutige Übergang vom konditionierten Ich zur authentischen Seele. Wahre Lebendigkeit beginnt nicht im Tun, sondern im Zulassen. Das innere Feuer brennt dort, wo wir nicht mehr funktionieren, sondern fühlen. Die Frage bleibt für jeden, ob wir den Mut haben, diese Flamme zu entzünden.

 
 
 

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