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Die Erde

(Musik: Lights off, Parov Stelar)

Er lässt los. Es ist Zeit, loszulassen. Seine Vorstellungen schmelzen. Sein Herz schmilzt in seinen Händen. Es zerfließt. Ängstlicher, kalter Schauer, der sich den Rücken hinunterzieht. Aber er spürt ein wohlig warmes Gefühl in den Händen. Es ist richtig. Die warmen Tränen fallen auf das zerfließende Herz. Sie vermischen sich zu Feuer und Wasser. Und fließen. So gerne würde er sie aufhalten, festhalten, nie wieder loslassen. Und doch ist es richtig. Brennende Wassertropfen. In Zeitlupe formen sie sich zu wunderschönen Kugeln. Sie fallen. Zeitlos und unbarmherzig. Ohne Zeit und ohne Raum. Am Boden angekommen, explodieren sie wie Natrium im Wasser. Ohrenbetäubend still. Der Schall trifft sein Herz, das weiter zerfließt. Fassungslos starrt er auf seine Hände. Das Herz schmilzt mit seinen Tränen weiter. Er hält es nicht auf. Es ist Zeit, es gehen zu lassen. Er lässt es nicht einmal gehen. Es geht. Es entscheidet. Er lässt es zu. Es lässt ihn zu. Seine Hände brennen vor Hitze. Sie beginnen zu schmelzen. Und in ihm entsteht Ruhe. Die tiefe Ruhe entsteht in ihm. Er macht nichts mehr. Sie nimmt ihn mit.

Er heult auf vor Schmerz, sterben zu müssen. Ein kurzer, stummer Schrei in den Himmel, während sich seine Hände weiter auflösen. Er fühlt keine Finger mehr. Hatte er jemals welche? Wie heißes Plastik schmelzen seine Arme. Entsetzen und völlige Gewissheit vermischen sich in seinem sich auflösenden Körper. Es fühlt sich frei an, keine Hände mehr zu haben. Alles schmilzt. War es das? Stirbt er? Die Antwort ist längst gegeben. Er sinkt zu Boden.  Sein Ich zerfließt bereits. Sein Körper sinkt zu Boden. Er wird zu Boden gezogen. Alles ist so weich. Es gibt nichts, woran er sich festhalten könnte. Nichts ist mehr fest. Sein Ich vermengt sich mit seinem zerflossenen Herzen. Irgendwo nimmt er noch wahr. Aber es ist nicht mehr er. Da ist nur noch Wahrnehmung. Wahrheit nimmt und ist. Sein Körper wurde zu einer geschmolzenen Masse.

Aber es ist nicht nur ein Sterbensprozess. Es entsteht ein Gefühl mit der Erde. Es dringt in sie ein. Er ist verleitet zu denken, dass er die Erde fühlt. Doch er denkt es nicht mehr. Auch sein Kopf beginnt sich zu zersetzen. Die Erde denkt ihn. Er und die Erde verschmelzen. Er ist Erde. Die Erde ist er. Sein Herz ist gestorben und gleichzeitig überall. Seine Tränen sind gefallen und gleichzeitig in der Erde eingetaucht. Alles zischt, Feuer und Wasser vermischen sich in Erde und Luft. Alles explodiert. Seine Augen sind noch weich miteinander verbunden. Tränen und Erschrecken spiegeln sich darin wider. Die Angst zu sterben. Der letzte Versuch dem Tod zu entrinnen. Und in diesem Moment öffnen sich die Augen. Heiße Luft strömt aus ihnen heraus. Ein letztes Ausatmen. Die Gewissheit, dass alles gut wird. Das letzte Loslassen. Sie verabschieden sich von ihrer Form. Die Wahrnehmung eines Ichs verabschiedet sich. Alles schmilzt.

Nur die letzte Idee einer Form hält sich noch. In einem kurzen Augenblick. Es herrscht völlige Stille, dann plötzlich eine Explosion. Eine Explosion, die nicht mehr gehört wird. Ein Feuerblitz, der nicht mehr gesehen wird. Ein letztes Aufbegehren, ein Schreien der Angst, die nicht mehr gefühlt wird. Ein Loslassen, das nichts mehr fassen kann. Und Ruhe. Alles wird in die Erde gezogen. Alles wird Erde. Alles bewegt sich. Alles fühlt sich. Alles ist mit allem verbunden. Alles ist eins. Alles ist richtig. Genauso, wie es ist. Es war nie anders. Gab es jemals eine Trennung zwischen Erde und Körper? Gab es jemals Körper? Es ist Wahrnehmung. Es ist einfach da. Alles ist gleichzeitig. Alles war schon immer da. Das Leben fühlt sich durch die Erde. Es ist Leben. In der zeitlosen Tiefe und Unendlichkeit. Nie war es anders. Nie wird es anders sein. Alles fühlt sich gleichzeitig. Es fühlt sich. Alles ist da. Alles ist.

 

Perspektive

„Die Erde“ entfaltet eine radikale Wahrheit: Echte Spiritualität bedeutet keinen sanften Aufstieg, sondern einen brutalen Tod. Der Text stellt die Auflösung aller Sicherheiten, körperlich, emotional und mental, bewusst als mystische Transformation zwischen Individuum und Kosmos dar.

Das schmelzende Herz symbolisiert sowohl das Ende der emotionalen Identifikation als auch den Kollaps der Identität selbst – nicht als poetische Metapher, sondern als konkrete Erfahrung spiritueller Krise. Die brennenden Tränen verkörpern den paradoxen Schmerz der Erlösung: Feuer und Wasser, Zerstörung und Reinigung, aber auch den Terror der Wahrheit. Das, was wir als „Erwachen“ bezeichnen, fühlt sich wie Sterben an.

Der Wendepunkt liegt im Moment des totalen Kontrollverlusts: „Es entscheidet. Er lässt es zu.“ Grundsätzlich geht es um die Urangst vor der eigenen Auflösung. Jede spirituelle Suche führt zu diesem Punkt der Konfrontation mit der Nichtexistenz des Suchenden. Das „Ich“ klammert sich verzweifelt an seine Form, während es erkennt, dass Trennung eine Illusion war.

Die Geschichte offenbart die verstörende Erkenntnis spiritueller Praxis: Das Ego stirbt nicht friedlich, sondern schmilzt unter qualvollen Schmerzen. „Die Erde“ ist letztendlich eine Warnung und Verheißung zugleich. Wahre Erleuchtung ist kein Gewinn, sondern ein totaler Verlust. Was bleibt, „Wahrnehmung ohne Wahrnehmer“, ist nicht tröstlich, sondern radikal fremd. Die Einheit mit allem bedeutet das Ende von allem, was wir für „uns“ hielten. Es ist die ultimative spirituelle Erfahrung: zu sterben, während man noch lebt.

Der Text ringt um Worte für etwas, das sich der Sprache entzieht. Er dokumentiert keine spirituelle Erfahrung von außen, sondern vollzieht sie in seiner Form mit. Die zerfließende Syntax, die sich wiederholenden Wendungen und die aufgelösten Satzgrenzen sind keine stilistischen Mittel, sondern Spuren eines Bewusstseins, das sich selbst verliert und dabei findet. Was hier stirbt, ist die Angst vor dem Tod. Gleichzeitig wird das Wissen geboren, dass es nichts zu bewahren gab, da alles immer schon Bewegung, Fluss und Verwandlung war. Die wiederholte Aussage „Alles ist” am Ende ist keine sprachliche Schlamperei, sondern Ausdruck eines Bewusstseinszustands, in dem die Unterscheidungen zwischen Dingen, Zuständen und Bewertungen zusammenbrechen. Was bleibt, ist reines Sein – ohne Attribute, ohne Narrative, ohne den, der bewertet.

 
 
 

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