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Der Weg des Sisyphos

„Wie oft denn noch?!“, schrie er hinauf zu den Göttern. Vor ihm stand der riesige Stein. Es war nur ein kurzer Augenblick. Wie lange hatte er ihn schon hinaufgeschoben? Er war kräftig, begeisterungsfähig, willensstark und ehrgeizig. Er fokussierte sich auf sein Ziel und tat alles, um es zu erreichen. Wie viele Ziele er schon erreicht hatte. Schon früh hatte er begonnen. Er hörte damals vom Marathon. Von dem endlos langen Lauf. Er war so lang, dass man am Ende in Ruhe sterben konnte. Eine schöne Legende. Ausreichend, um die inneren Säfte zu aktivieren, mehr Kohle in die Eisenbahnlok zu schaufeln, ein lautes Pfeifen durch die weite Landschaft ertönen zu lassen und den schweren Eisendrachen auf die Schienen zu bringen. Eisenbahnen kannten nur einen Weg. Nach vorne. Mit voller Kraft voraus, ohne sich jemals stoppen zu lassen. Die Lok blickte immer nach vorne, während man nur von den Waggons aus nach rechts und links blicken konnte, um die umliegende Landschaft wahrzunehmen. Das Feuer im Kessel wurde heiß gemacht, um das nächste Ziel zu erreichen. Und vielleicht war das Ziel auch das Ende. Der Marathonläufer, der in Athen noch einmal „Wir haben gesiegt!” schrie, bevor er zu Boden fiel und verstarb. Das war der Antrieb. Das Ziel war wichtiger als das Leben selbst. Das Ziel war das Leben, seine Erreichung war alles.

Mit diesem Eifer rollte er den Stein immer weiter. Sein Körper hatte schon längst aufgegeben. Er konnte nicht mehr. Es war nicht möglich. Zu weit, zu steil, zu schwer. „Mich interessieren keine Ausreden”, hörte er seine innere Stimme sagen. "Mir ist egal, wie oft du es nicht schaffst. Mich interessiert nur das eine Mal, wenn du es geschafft hast.“ Das weite Licht wurde zum Laserpointer. Fokussiert auf den einen Punkt in der Zukunft. Danach kann die Sintflut kommen. Es gab keine Frage nach dem Sinn. Das Ziel war der Sinn. Den Stein auf diesen verdammten Berg zu rollen, war der Sinn. „Ich mache etwas Sinnvolles, wenn ich mich nicht mehr frage, ob es sinnvoll ist”, hörte er sie wieder sprechen. Sein Geist sah nichts anderes mehr als das stetig rollende Ungetüm vor ihm. Irgendwann wird er oben sein. Irgendwann wird er es geschafft haben, und die Götter werden ihm zujubeln. Oben, am Gipfel der Welt, am nächsten Punkt zum Himmel. Er sah sich gottgleich. Mit einem unbarmherzigen Stein, der sich kaum bewegen ließ, auf der obersten Spitze des Berges. Er erhob seine starken Hände. Völlig erschöpft, aber unbeugsam. „Hier ist er!”, rief er den Göttern zu. „Hier ist er!" Er fühlte die Vereinigung zwischen Himmel und Erde, das ewige Himmelreich mit der endlichen Erde. Er wurde zur zeitlosen Legende. Noch ewig werden die Schriften auf der endlichen Erde von ihm erzählen. Der Mann, der den Kampf gegen die Endlichkeit besiegte. Der Gottgleiche. Der Mensch, der zum Himmel emporstieg. Es werden Bilder von ihm gemalt werden. Der kraftvolle Sisyphos, mit seinen erhobenen Händen, einen riesigen Stein haltend.

Nach einer Ewigkeit spürte er, wie der Felsen leichter wurde. Es ging nicht mehr nur hinauf. Er war tatsächlich angekommen. In unendlichen Gedankenspielen sah er sich dort oben. Er sah sich aus der Perspektive der Menschen, die zu ihm emporblickten. Er sah sich vor den Göttern, die nicht mehr auf ihn hinabblicken konnten. Er lachte laut und kraftvoll auf. In diesem Moment erhob er seinen Arm, um seine letzten Worte in die Ewigkeit zu verkünden. Doch gerade in diesem Augenblick spürte er, wie der Fels noch leichter wurde. Er drückte ihn kaum noch. Als er ihn den ganzen Weg hinaufschob, spürte er den ewigen Gegendruck, nun löste er sich von seinen Händen. Es war nur ein kurzer Moment der Freude, dann spürte er den Schrecken in seinen Adern. Der Stein rollte weiter. Nicht durch seine Kraft, sondern durch die Schwerkraft. „Nein, nein, nicht!”, schrie er ihm noch nach. Er krallte sich an ihn, wollte ihn zurückziehen, ihn bei sich behalten. Doch die Eisenbahnlok raste mit voller Geschwindigkeit durch den Bahnsteig hindurch. Anstatt den Jubel der Bahnhofsbesucher zu ernten, wurden diese von dem mitgetragenen Wind auf die Seite geschleudert. Mit voller Wucht raste er hindurch, immer den Schienen entlang. Der schmerzvolle Weg geht durch das Ziel hindurch. „Nein!”, schrie der Lokomotivführer, als er sah, wie die unbarmherzige Maschine an seinem Ziel vorbeirasen würde. „Bleib stehen!“, schrie er ohnmächtig den glühenden Kessel an, der jedoch nur noch mehr Feuerskraft nutzte, um seinen Weg unaufhaltsam fortzusetzen. Was interessiert das Universum schon ein Ego? Die tiefen Wege sind vorgezeichnet. Verlust und Schmerz sind nur Begleiterscheinungen des tiefen und unbegreifbaren Sinns.

Nachdem er seinen Satz in die Menge gerufen hatte, brach der Läufer zusammen. Er hatte sein Ziel erreicht. Der ewige Schmerz lag hinter ihm, die ewige Legende lag vor ihm. Es war dieser kurze Moment, der ihn glücklich machte. Es war ein sehr kurzer Moment. Er spürte, wie seine Lebensgeister langsam schwanden. Er spürte das Gefühl, alles gegeben und alles bekommen zu haben. Die tiefe Zufriedenheit, einen echten Sinn im Leben gefunden zu haben. Sein Ego jauchzte und strahlte vor Freude. Er war ein gottesgleicher Mensch. Ein Ego, das sich über das Universum gestellt hatte. Und in diesem Moment des Höhepunkts, als seine Lebensgeister seinen Körper langsam verließen, sah er sie alle wie im Schock. Es waren nicht die Menschen aus Athen. Er war noch immer in Marathon. Er war genau dort, wo er losgelaufen war. Anstatt den Sieg zu verkünden und den Jubel der Menschen zu ernten, blickte er in verständnislose Gesichter. Sie alle wussten längst von ihrem Sieg. Hatte er etwa nur die eigene Stadt umkreist und war nie am Ziel angekommen? Warum hatte er sich denn so bemüht, fragten die Blicke der Menschen um ihn herum. „Nein“, stöhnte er noch ein letztes Mal, mit der Gewissheit tiefer Sinnlosigkeit. Er hatte sein Leben geopfert, um schlussendlich nichts erreicht zu haben.

Und so sah er, wie der Felsbrocken erneut den Berg hinabrollte. Den ganzen Weg. Die Schmerzen. Die Qualen. Die Motivation. Der aktuelle Sinn, die Götter selbst herauszufordern, rollte den Berg hinab. „Wie oft denn noch?!“, schrie er hinauf zu den Göttern. Erst jetzt spürte er seine tiefe Ohnmacht. Erst jetzt erinnerte er sich wieder an all seine vorherigen Versuche. Wie von Geisterhand waren sie bis jetzt aus seinen Erinnerungen verschwunden. Im Moment des Aufstiegs sah er nur das Ziel vor sich. Er vergaß die endlosen Versuche, die ihn schon genau in dieselbe Situation gebracht hatten. Sie waren wie ein dunkler Schatten, der ständig hinter ihm herging. Er sah ihn nicht, sondern nur den riesigen Felsen, den er mit all seiner Kraft anschieben konnte. Erst als der Felsen hinabrollte, spürte er, wie der Schatten ihn wieder einholte. Einem Schatten kann man nicht davonlaufen. Ein Schatten lässt sich nicht von illusionierter Sinnhaftigkeit verführen. Am Ende des Tages kehrt er zurück und verschlingt die hoffnungslosen Versuche, ihm zu entkommen.

Der Lokführer schrie seine Lok an, endlich stehenzubleiben. Doch der Zug fuhr weiter und weiter und er riss erneut die Schaufel an sich. „Bleib endlich stehen!”, schrie er ihn an. „Los jetzt, bleib endlich stehen! Los jetzt, los!”, schrie er und sah plötzlich am Horizont die nächste Stadt. Vor lauter Angst und Aggression öffnete er den Kessel und legte nach. „Das ist das Ziel! Los jetzt!“ Mit Feuer in den Augen begann er weiterzuschaufeln. „Ich werde dir jetzt zeigen, wie man stehenbleibt!“ Er schaufelte immer mehr Kohle hinein. Ein lautes Pfeifen durchzog die weite Landschaft und brachte den schweren Eisendrachen wieder auf Schiene. Der Lokführer war wieder in seinen immer gleichen Handlungen gefangen. „Ich werde dir zeigen, wo die Bahnstation ist“, hörte die Lok und spürte noch mehr Feuer in ihrem Kessel.

Er wäre beinahe gestorben, als er zu Boden ging. Seine Lebensgeister verabschiedeten sich bereits und er fühlte, wie die Freiheit seinen geschundenen Körper verließ. „Wir sind noch nicht da“, hörten sie leise hinter sich. Verdutzt sahen sie sich an. Sie waren bereit, die Erde hinter sich zu lassen. Sie waren bereit, in ihren Ursprung zurückzukehren, als eine harte Hand sie wieder einfing. „Wir sind noch nicht am Ziel angelangt”, hörten sie ihren Körper sagen. Der Körper stand verschwitzt auf. Einen Schritt. Noch einen Schritt. Die verdutzte Menge um ihn herum öffnete ihren Kreis, um ihn durchzulassen. „Ich muss nach Athen“, hörten sie ihn sagen, bevor er wieder weiterlief. Sie sahen ihn laufen. Denselben Weg wie zuvor. Sie schüttelten die Köpfe und ließen ihn gewähren.

„Ihr werdet nicht gewinnen!”, hörten die Götter Sisyphos rufen. „Ich werde euch zeigen, wie ich diesen verdammten Felsen auf den Gipfel rollen kann! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!" Und hier war er wieder. Nach einem langen Weg hinunter ins Tal der Menschen stellte er sich kraftvoll hinter den Felsen. Ein lauter Kampfschrei, und schon bewegte sich der Fels wieder. Der Schatten hinter ihm, der Sinn vor ihm. „Diesmal schaffe ich es”, sagte seine innere Stimme.

Der kleine Junge betrachtete sein Spielzeug, das er von seinem Großvater bekommen hatte. Es waren wunderschön geschnitzte Landschaften und Figuren. Der Zug mit der roten Lokomotive fuhr einen Kreis durch die Prärie. Er konnte den Zug durch malerische Landschaften steuern. Wenn er den Trafo anschaltete, konnte der Zug ewig seine Runden fahren. Wenn er genau hinsah, erblickte er die kleine Figur des Lokführers, die sich immer gleich bewegte. Mit seiner kleinen Schaufel schien er Kohle in den Kessel nachzufüllen, damit der Zug nicht stehenblieb. Nach jeder Runde fuhr er durch den Bahnhof und setzte zur nächsten Runde an.

In der Mitte der Landschaft sah er einen Läufer mit einer Fackel, der im Kreis lief. Er lief langsamer als der Zug, aber ebenso kraftvoll. Bei jeder Runde lief er an anderen kleinen Menschen vorbei. Immer und immer wieder. Am hinteren Teil der Landschaft befand sich ein mächtiger Berg. Ein steiler Weg führte hinauf zu seiner Spitze. Darauf war ein kleiner, muskulöser Mann zu sehen, der einen großen Styropor-Felsen den Berg hinaufrollte. Als er oben ankam, hob er die Hände, als hätte er sein Ziel erreicht, und stieß den Felsen dabei wieder hinab. Dieser rollte um den Berg herum wieder hinunter zum Ausgangspunkt. Durch ein mechanisches System wanderte der Mann den Berg hinab und rollte den Felsen erneut hinauf. Immer und immer wieder, genauso ewig wie der Läufer und der Lokomotivführer.

Sein Großvater legte behutsam den Arm um die Schulter seines Enkels. „Es wird langsam Zeit, schlafen zu gehen“, sagte er ihm mit beruhigender Stimme. Eine letzte Runde ließ der Junge die Kreisläufe ausführen. Noch ein letztes Mal fuhr der Zug seine Runde durch die Bahnstation. Noch ein letztes Mal lief der Marathonläufer seine immer wiederkehrende Runde. Noch ein letztes Mal rollte Sisyphos den Fels den Berg hinauf und sah ihm nach, als dieser wieder hinunterrollte. „Ich könnte ewig weiterspielen”, sagte sein Enkel, noch im Bann des Spiels. „Ich weiß“, lächelte sein Großvater ihn milde an. „Aber jedes Spiel hat auch einmal ein Ende. Und morgen ist ein neuer Tag.“ Der Enkel gähnte herzhaft und löste sich vom Spiel. Sie gingen aus der Tür hinaus. Der Großvater schaltete das Licht aus. Er lächelte wohlwollend zu den Figuren. Im Dunkeln der Nacht waren sie mit ihren Schatten vereint. Ruhig. Kein inneres Kind spielte mehr mit ihnen. Jedes Spiel hat auch einmal ein Ende. „Und morgen ist ein neuer Tag“, flüsterte er sanft in den Raum hinein.

 

Perspektive

Diese Geschichte erzählt vom Erwachen aus der tyrannischen Herrschaft des zielfixierten Egos, das sich selbst zur Lokomotive gemacht hat und nicht anders kann, als vorwärtszurasen. Sisyphos, der Marathonläufer und der Lokführer sind drei Gesichter desselben inneren Mechanismus: ein Bewusstsein, das sich völlig mit dem Erreichen identifiziert hat, für das das Ziel nicht Mittel zum Leben ist, sondern das Leben selbst. Die Tragik liegt nicht im Scheitern, sondern in der zwanghaften Wiederholung nach jedem Scheitern. Der Schatten, den der Aufsteigende hinter sich lässt und nicht sehen kann, trägt die Erinnerung an alle gescheiterten Versuche, trägt das Wissen um die Sinnlosigkeit, die das fokussierte Ego verdrängen muss, um weitermachen zu können. Erst im Moment des Verlusts, wenn der Stein wieder hinabrollt, wenn der Zug nicht anhält, wenn der Läufer erkennt, dass er nie angekommen ist, holt der Schatten ihn ein und konfrontiert ihn mit der Wahrheit seiner endlosen Gefangenschaft. Doch anstatt zu kapitulieren, entfacht das Ego neue Wut, neuen Ehrgeiz, neues Feuer im Kessel, um seiner eigenen Ohnmacht zu entkommen.

Die zentrale Wendung geschieht nicht in den wiederholten Kämpfen der Figuren, sondern in der Perspektive des Kindes, das von außen auf das mechanische Spiel blickt. Was für die Figuren existenzielle Not ist, ewiger Kampf und vermeintlicher Sinn, erscheint aus der Distanz als bloßes Räderwerk, als Automatismus, der nur dann läuft, wenn jemand den Trafo einschaltet. Das innere Kind, das mit diesen Figuren spielt, ist das identifizierte Ego selbst, das sich in seinen Rollen verliert und vergisst, dass es nur ein Spiel ist. Der Großvater repräsentiert eine reifere Bewusstseinsebene, die das Spiel durchschaut, es liebevoll betrachtet, aber nicht mehr darin gefangen ist. Seine Worte sind sanft, nicht verurteilend, denn er weiß: das Spiel hatte seine Zeit, seine Berechtigung, seine Faszination. Aber wenn das Licht ausgeht, wenn das identifizierte Bewusstsein ruht, vereinen sich die Figuren mit ihren Schatten. Im Dunkeln gibt es keine Trennung mehr zwischen dem, der kämpft, und dem, was verdrängt wurde.

Das Erwachen geschieht nicht durch einen finalen Sieg über den Stein, nicht durch das Erreichen Athens, nicht durch das Anhalten des Zuges. Es geschieht in dem Moment, in dem das Bewusstsein aufhört, sich mit dem Spieler zu identifizieren, in dem es erkennt, dass die ganze dramatische Inszenierung von Kampf und Ziel ein mechanisches Programm war, das nur lief, weil niemand den Trafo ausschaltete. Die tiefste Freiheit liegt nicht im Gewinnen des Spiels, sondern im Erkennen, dass man nie die Spielfigur war, sondern das Bewusstsein, das zuschaut und das auch die Wahl hat, das Spiel zu beenden. Jedes Spiel hat auch einmal ein Ende, und erst in dieser Stille, wenn das zwanghafte Vorwärts verstummt, kann ein wirklich neuer Tag beginnen.

 
 
 

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