Der Traum des Vaters
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 9 Min. Lesezeit
Er befand sich auf hoher See. Vor ihm spielten die Wellen einen dramatischen Tanz, angeheizt vom aufkommenden Sturm. Am Horizont waren dunkle Wolken zu sehen, die bedrohlich näherkamen. Der Wind fegte durch seinen gekräuselten Vollbart und zwang ihn, die Augen zu schmalen Schlitzen zu verengen. Er war hochkonzentriert, während die Gischt auf sein Schiff schlug und sich der Sprühregen über sein Gesicht verteilte. Die nächsten Stunden würden hart werden, aber er war bereit für das Abenteuer. Wie viele Jahre war er wohl schon mit seinem Schiff über die Meere gefahren? Er kannte es gut. Es war zu einer Erweiterung seines Körpers geworden. Er konnte jede kleine Bewegung spüren und lenkte das Schiff immer rechtzeitig in die passende Richtung. Es waren automatisierte Handlungen, die tief in seinem Körper verankert waren, wenn er kurzfristig auf eine Böe reagieren, das Segel einholen oder über die nächste Welle fahren musste. Mitten im Meer befand er sich, allein, aber verbunden mit dem Schiff, dem Wind und dem Wasser. Die Narben an seinen Händen und seine eingegerbte Haut erzählten seine Seemannsgeschichten.
Irgendwann kam er wieder in einem Hafen an, vertäute sein Schiff und wankte in die Stadt hinein. In den ersten Stunden fühlte es sich für ihn immer so an, als würde der Boden schwanken. Er war es gewohnt, die unruhige See zu spüren und nicht einen festen Boden unter den Füßen zu haben. Die transportierte Ware verkaufte er auf dem Markt. Der Verdienst reichte zumeist für ein Nachtlager, ein warmes Essen und eine Flasche Rum. Viel brauchte er nicht, aber diesmal benötigte er für einige Zeit etwas mehr Geld, um sein Schiff nach dem letzten Sturm reparieren zu können. Er nahm den erstbesten Job an, den er fand – in einem Schiffsmuseum. Die Wände waren aus altem Holz, und dicke Taue verkleideten den Innenraum. Es fühlte sich an wie auf einem Schiff und auch der Geruch erinnerte ihn an die vielen Jahre auf See. Anstatt den Boden zu schrubben, reinigte er die ausgestellten Exponate und verkaufte Tickets an die täglichen Besucher. Am Eingang befand sich ein großer Schiffsanker, alte Fässer säumten den Weg hinein und mächtige Gemälde stellten das Leben auf See dar. In diesem Raum fühlte er sich tatsächlich wie auf See.
Wie jeden Tag blickte er durch die Vitrine in der Mitte des Raumes auf das Miniaturschiff, das ihn so sehr an sein eigenes erinnerte. Es war wunderschön und schaukelte auf der gemalten Meeresoberfläche. Er hatte das Gefühl, selbst wieder an Deck des Schiffes zu stehen. Gekonnt balancierte er sein Gewicht so, dass er trotz des Schaukelns geradeaus gehen konnte. Er spürte den Wind durch seine Barthaare wehen und die Sonne seine Haut verbrennen.
Während er noch an die See sinnierte, erblickte er plötzlich zwei Kinderaugen auf der anderen Seite der Vitrine. „Was ist das?“, fragte das Kind, ohne den Blick vom Schiff abzuwenden. „Das Gefühl von Freiheit“, antwortete er, wieder in Gedanken versunken. „Es gibt nichts Schöneres, als durch die Weltmeere zu fahren.“ Es verging eine Weile, als ob die Worte erst verdaut werden mussten. „Und warum sind Sie dann hier?“, fragte das Kind unschuldig weiter. Der Kapitän lachte kurz auf. „Ich muss nur noch etwas Geld verdienen, um mein Schiff zu reparieren.“ Er richtete sich auf. Wie lange arbeitete er eigentlich schon im Museum? Es fühlte sich so vertraut an. Alles erinnerte ihn an sein Schiff. Die Wände aus dunklem Holz, die Fässer am Boden, der Geruch des salzigen Meeres. Doch es war nur eine Erinnerung daran, nicht seine Realität. Das Schiff in der Vitrine war nur eine Abbildung der hohen See, die er schon so lange nicht mehr erlebt hatte. Wie oft hatte er davon erzählt und sich gefühlt, als wäre er gerade dort gewesen, obwohl er in Wirklichkeit bereits selbst zu einem Exponat des Museums geworden war. Ein weiteres Ausstellungsstück. Der schrullige Mann, der seine Geschichten von der hohen See erzählte. Wie viel davon wahr war und wie viel Seemannsgarn, spielte für die Besucher kaum eine Rolle. Doch es war auch für ihn nur noch eine Vorstellung, die er lebte, ein Relikt früherer Zeiten. Er blickte auf den Boden. Nichts bewegte sich, alles war starr geworden. „Und wann werden Sie wieder in See stechen?“, fragte der Junge weiter. Der Mann blickte dem Kind direkt in die Augen, gewann seine Selbstsicherheit zurück und verabschiedete sich mit dem Wort „Jetzt”.
In den ersten Tagen fühlte es sich herrlich an, endlich wieder auf einem echten Schiff zu leben. Er sah das Wellenspiel vor sich, spürte den Wind in den Haaren und den Sprühregen, der ihm sanft über das Gesicht strich. Wie lange war es her, dass sich der Boden unter ihm bewegt hatte. Es fühlte sich richtig an, wieder auf See zu sein. Er strahlte, aber irgendwie war auch alles anders geworden. Er konnte dieses Gefühl noch nicht einordnen. Die Tage vergingen und er transportierte die Waren wie früher von einem Hafen zum nächsten. Aber irgendetwas war anders geworden. Er fühlte sich, als spiele er eine Theaterszene. Eines Tages blickte er sich wieder um. Es war, als wollte er kontrollieren, ob er sich noch in dem Museum befand. Doch es war wirklich sein echtes Schiff und keine Vorstellung. Das Schaukeln war echt, wie damals. Die salzige Luft und der Duft nach Freiheit waren wie früher. Und doch war etwas anders. Er hatte das Gefühl, sich auf dem Schiff in der Vitrine zu befinden und zum ersten Mal durch die Glasscheibe hindurchblicken zu wollen. War er nur eine Figur in einer Szenerie?
Irgendwann kamen die Fragen, die er sich selbst nie stellen wollte. Wie war er eigentlich auf die Idee gekommen, Kapitän zu werden? Eine Gedankenwelle nach der anderen schlug auf sein Schiff ein, sprühte weitere Fragen in seinen Kopf und ließ Erinnerungen an seine Kindheit wach werden. Er wuchs in einem Leuchtturm auf. Wie oft war er mit seinem Vater hinaufgestiegen, hatte die Lampen angedreht und gemeinsam mit ihm auf das Meer geblickt. Sie strahlten Licht in die See, um Schiffen das Festland anzuzeigen und zu verhindern, dass sie an den Klippen zerschellten. Wie oft hatte er seinem Vater dabei zugesehen, wie dieser hinaus auf die See blickte?
Sein Vater war Kapitän gewesen, ein guter Kapitän. Manche seiner Freunde meinten sogar, er sei der beste überhaupt gewesen. Doch während eines Landgangs änderte sich sein Leben. Die Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte, wurde schwanger. Seine erste Reaktion war die Flucht. Er war für die See geboren und wollte nicht als Landratte zugrunde gehen. Doch auf See zog es ihn zurück zum Hafen, zu seinem kommenden Kind. Der Sog zum Land wurde stärker, und er konnte seinen Sohn in der Neuen Welt begrüßen. Die Mutter verstarb am nächsten Tag und er musste sich ein neues Leben mit seinem Neugeborenen aufbauen. Er entschloss sich, Leuchtturmwärter zu werden, um zumindest weiterhin die See beobachten zu können. Dort, nahe an der See aber doch am Land, zog er seinen Sohn auf.
Der Sohn verbrachte eine schöne Kindheit, doch er spürte die Sehnsucht seines Vaters nach der See. Jeder seiner Blicke verriet seine tiefe Liebe zu den unendlichen Wellen und zur Bewegung auf den Weltmeeren. Als junger Erwachsener heuerte der Sohn auf einem Schiff an und wurde im Laufe der Jahre selbst Kapitän. Und hier stand er nun, der Kapitän, auf seinem Schiff. Er dachte, dass dies schon immer sein Traum gewesen sei. Doch nun spürte er es. Es war nicht sein Traum, sondern der seines Vaters. Er spürte den sehnsüchtigen Blick seines Vaters vom Leuchtturm und den Drang, auf die hohe See zu fahren – den Traum seines Vaters, den er zu erfüllen suchte. Wie lange hatte er seinen Vater schon nicht mehr gesehen? Es mussten Jahre gewesen sein. „Wann werde ich ihn wohl wieder sehen?“, hörte er sich noch denken, doch sein Geist antwortete bereits: „Jetzt.“
Er klopfte an die alte Tür des Leuchtturms. Sie hatte sich über die Jahre kaum verändert und er fühlte sich wieder wie ein Kind. Als sein Vater die Tür öffnete, sah er dessen strahlenden Blick. Er war alt geworden. Tiefe Falten verzierten sein Gesicht, seine letzten Haare waren weiß geworden und sein krummer Rücken ließ ihn nur noch langsam und gebückt gehen. „Komm doch herein“, hörte er ihn herzlich sagen.
Sie führten lange Gespräche. Es gab viel zu erzählen, und jedes Mal, wenn der Sohn von seinen Abenteuern auf See berichtete, leuchteten die Augen seines Vaters. Irgendwann blickte der Sohn seinem Vater in die Augen. „Es tut mir unglaublich leid, dass du nur wegen mir nicht mehr auf See fahren konntest.“ Sein Vater blickte ihn überrascht, wohlwollend und gerührt an. „Ach weißt du, ich hatte eine wunderschöne Zeit auf See“, antwortete dieser ihm. „Aber das Leben hatte etwas anderes mit mir vor.“
„Es war meine Entscheidung. Es hat sich alles geändert, als ich dich das erste Mal in den Armen gehalten habe. Ich habe mich zum ersten Mal richtig zu Hause gefühlt. Es war wunderschön, dich aufwachsen zu sehen. Ich wollte an keinem anderen Ort der Welt sein. Das hätte ich selbst nicht erwartet. Immerhin war ich ja immer der Kapitän gewesen. Aber das hat sich geändert. Und so war es.“ Sie schwiegen einige Zeit, bis er wieder fortfuhr. „Du hast recht, dass ich oft auf die See geschaut habe. Aber ich hatte keine Sehnsucht, wegzufahren. Ich habe einfach die schönen Erinnerungen von damals genossen. Aber meine Heimat war mit dir am Leuchtturm. Ich war glücklich und bin geblieben, auch nachdem du gegangen bist.“ An diesem Abend umarmten sie sich so herzlich wie noch nie zuvor. Mit der Zeit wurde der Vater immer schwächer. Sein Zustand verschlechterte sich, als ob er nur darauf gewartet hätte, seinen Sohn noch einmal sehen zu dürfen. „Ich wünsche dir ein weiteres schönes Leben. Dein Leben“, waren die letzten Worte, die der Sohn hören durfte. Bei der Beerdigung waren alle Dorfbewohner anwesend, die den alten Leuchtturmwärter liebgewonnen hatten. Es wurden nur gute Worte über ihn verloren. „Wie stolz er auf dich war“, hörte der Sohn noch vom Pfarrer.
Er verkaufte sein Schiff und zog in den Leuchtturm. Es war nicht mehr seine Bestimmung, hinaus auf die See zu fahren. Wie lange hatte er geglaubt, den Traum seines Vaters erfüllen zu müssen? Wie sehr hatte er sich schuldig gefühlt, dass sein Vater nicht mehr Kapitän sein konnte? Und das nur wegen ihm. Er wollte sich dafür entschuldigen, dass er seinem Vater seinen Traum gestohlen hatte. Er wollte Kapitän werden, um den Traum seines Vaters weiterzuführen. Doch nun spürte er, dass dieser Traum vorbei war. Es war nicht sein eigener Traum. Es war nicht sein eigenes Leben.
Er ging hinauf auf den Leuchtturm, so wie früher als Kind, und blickte hinunter zur See. Er sah sich selbst dort oben stehen, so wie sein Vater damals. Er konnte sich bereits vorstellen, wie er den Rest seines Lebens im Leuchtturm verbringen würde – genau wie sein Vater. „Genau so hätte er es gewollt“, hörte er sich sagen. Und da wachte er zum dritten Mal auf. Wie zuvor im Museum und auf dem Schiff. Er lachte laut auf. „Nein, so hätte er es für sich selbst gewollt.“ Er schüttelte den Kopf. Fast hätte er den nächsten Traum seines Vaters gelebt.
Am nächsten Tag verkaufte er auch den Leuchtturm. Das Schiff war verkauft, der Leuchtturm war verkauft. Er hatte sich von seinem Vater, dessen Träumen und dessen Leben verabschiedet. Langsam schloss er die alte Holztür des Leuchtturms. Er atmete tief ein, drehte sich um und ging los. Er wusste nicht, wohin er ging. Aber es war das erste Mal, dass er sich richtig frei fühlte. Es war an der Zeit, sein eigenes Leben zu beginnen.
Perspektive
Diese Erzählung handelt von der Geburt des eigenen Selbst aus verstrickten Identifikationen mit dem Vater. Der Protagonist lebt zunächst vollständig in einer Identität, die nicht die seine ist. Die „automatisierten Bewegungen, tief im Körper eingespeichert”, deuten auf die körperliche Inkarnation eines fremden Musters hin. Das Museum wird zur verdichteten Metapher. Er lebt in einem Mausoleum seiner selbst, umgeben von Repliken und Erinnerungen, die nie seine eigenen waren. Die Vitrine trennt ihn von der Wahrheit. Er schaut auf ein Miniaturschiff und glaubt, sich selbst zu sehen, doch tatsächlich betrachtet er lediglich das Konstrukt einer übernommenen Existenz. Das Kind fungiert als Katalysator des ersten Erwachens. Seine unschuldige Frage „Warum sind Sie dann hier?” durchbricht die Trance. Doch selbst die Rückkehr aufs Schiff entpuppt sich als weitere Inszenierung – er hat lediglich die äußere Form gewechselt, nicht aber die innere Struktur.
Die Begegnung mit dem Vater enthüllt die generationsübergreifende Verstrickung. Der Sohn interpretiert die sehnsüchtigen Blicke des Vaters als unerfüllten Wunsch und macht es sich zur Aufgabe, diesen stellvertretend zu leben. Dies ist das klassische Muster einer parentifizierten Schuld. Dabei übernimmt das Kind die Verantwortung für das vermeintliche Opfer des Elternteils und versucht, durch das eigene Leben die väterliche Wunde zu heilen. Der Vater offenbart jedoch, dass seine Blicke keine Sehnsucht, sondern Erinnerung waren. Er hatte durch seine bewusste Wahl seinen Frieden gefunden. Die Worte „Dein Leben” sind der Schlüssel. Der Vater gibt dem Sohn die Erlaubnis, nicht mehr sein Erbe tragen zu müssen. Doch selbst nach dem Tod des Vaters übernimmt der Sohn den Leuchtturm und wiederholt damit exakt die Struktur des Vaters. Er glaubt, dass es dem Vater so recht gewesen wäre. Das finale Erwachen ist radikal. Er erkennt den Unterschied zwischen „so hätte er es gewollt” und „so hätte er es für sich selbst gewollt”. Diese Unterscheidung ist alles. Der Vater wollte sein eigenes Leben leben, nicht, dass sein Sohn sein Leben nachspielt. Die Liebe des Vaters bestand nicht in der Forderung nach Fortsetzung, sondern in der Erlaubnis zur Eigenständigkeit.
Die Geschichte erzählt von der Notwendigkeit, mehrfach zu sterben, bevor man wirklich geboren wird – vom Tod falscher Identitäten, von der Ablösung projektiver Verpflichtungen und von der Befreiung aus generationsübergreifenden Loyalitätskonflikten. Der Verkauf von Schiff und Leuchtturm bedeutet eine doppelte Befreiung – von der falschen Erfüllung und von der falschen Ehrung. Das Nicht-Wissen des Endes („Er wusste nicht, wohin.“) ist keine Schwäche, sondern der erste Moment authentischer Existenz. Er zeigt, dass wir oft das Leben anderer leben, ohne es zu bemerken. Wahre Freiheit beginnt erst dort, wo wir den Mut haben, alle Rollen abzulegen und ins Unbekannte zu gehen. Die Freiheit, die er spürt, ist nicht die der offenen See oder des festen Lands, sondern die innere Weite, in der Träume nicht mehr geerbt, sondern geboren werden.

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