Der tiefe Wunsch
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 8 Min. Lesezeit
(Musik: Wandering Mind, Calmly)
„Willst du nicht aufessen?“, fragte er seinen Sohn, obwohl er bereits wusste, dass dieser nicht antworten würde. Es vergingen einige Sekunden. Nur das Ticken der Küchenuhr war zu hören. Wenigstens irgendetwas bewegte sich. „Warum heißt es eigentlich Tick-Tack? Das Geräusch ist doch immer dasselbe, also Tick-Tick oder Tack-Tack“, hörte er sich denken, während er auf die Reaktion seines Sohnes wartete. „Na gut“, sagte der Vater nach einer gefühlten Ewigkeit der Stille und nahm resigniert den Teller in die Hand. Er aß wieder einmal selbst das belegte Butterbrot mit fein geschnittener Extrawurst und bedacht platzierten Essiggurken. „Eigentlich war das Brot für dich gedacht“, sagte er mit vollem Mund, aber ohne Vorwurf, und ging zum Geschirrspüler, um den Teller einzuräumen. „Sag mir einfach, wenn du Hunger hast, dann kann ich dir noch etwas machen. Wenn du willst, kann ich dir auch etwas anderes geben. Sag einfach, was du brauchst.“ Er räumte den restlichen Tisch auf und trank auch den Himbeersaft aus, nachdem er seinen Sohn fragend angesehen und abgeklärt hatte, ob er den Saft trinken wolle. „Ich hoffe, du hast alle Hausaufgaben fertiggemacht. Morgen ist Montag. Ich möchte nicht, dass du ohne erledigte Hausaufgaben in die Schule gehst.“
Er holte sich ein kühles Bier aus dem Kühlschrank und ging hinaus auf seine Terrasse. Es war ein lauer Sommerabend, und er spürte die Wärme der kommenden Jahreszeit sowie den leichten Wind, der über seine Arme strich. Er genoss es, dass zumindest der Wind zärtlich zu ihm war. Er blickte verträumt auf sein Bier. Es hatte einen dieser neuen Verschlüsse, die sich selbst mit der Hand aufdrehen ließen. Eine richtig gute Erfindung! Er sah vor seinem inneren Auge, wie der Chef einer Brauerei eine Bierflasche in die Mitte eines Tisches stellte und zu seinen Mitarbeitern sagte, sie müssten eine bessere Möglichkeit finden, eine Bierflasche zu öffnen. Vielleicht gab es zu viele Unfälle, weil manche Menschen ein Bier trinken wollten, aber keinen Bieröffner dabei hatten. Welche Ideen hatten sie wohl, um die Flasche zu öffnen? Wenn man richtig durstig ist, tut man alles, um seinen Wunsch zu erfüllen und das Bier zu trinken. Durstige Menschen finden Möglichkeiten, ihren Wunsch zu befriedigen. Einige werden versucht haben, den Verschluss aufzudrehen und sich dabei verletzt zu haben. Andere haben ein Feuerzeug benutzt, um den Kronkorken von der Flasche zu entfernen. Vielleicht kam es dabei sogar schon einmal zu einer Explosion? Wieder andere nutzten ihre Zähne, um endlich etwas trinken zu können. Haben sie sich dabei einen Zahn ausgebrochen? Andere haben den Flaschenhals aufgebrochen und sich dabei mit den Glasscherben vielleicht die Lippen oder sogar den Hals aufgeschlitzt. Fürchterliche Gedanken. Aber wenn Menschen den starken Wunsch hatten, Bier zu trinken, dann machten sie wohl alles, um ihn zu erfüllen. „Und das müssen wir ändern”, sagte der Chef in seiner Vorstellung. Einer der Techniker hatte die brillante Idee eines Schraubverschlusses. Sie stellten die gesamte Produktion um, sodass es seitdem Bierflaschen gab, die sich ohne Hilfsmittel öffnen ließen. Eine geniale Erfindung.
Ein leises Ploppen ertönte, als er das Bier mit dem Flaschenöffner vom aufdrehbaren Kronkorken befreite. „Die Welt mag sich ändern“, sagte er leise zu sich selbst, „bestimmte Gewohnheiten von mir aber nicht.“ Er mochte das Geräusch und das anschließende Zischen der Kohlensäure, wenn er den Verschluss öffnete. Warum sollte er das Bier aufdrehen, nur weil ein paar Idioten keinen Flaschenöffner hatten, fragte er sich kopfschüttelnd. Er interessierte sich nicht für die Welt da draußen. Er wollte einfach nur sein Leben leben, auf die Art und Weise, die für ihn passend war. Wenn er sein Bier aufpoppen lassen wollte, dann tat er es eben. Er nahm genüsslich einen Schluck nach dem anderen und spürte, wie die kühle Flüssigkeit prickelnd seinen Hals hinunterfloss. Er atmete tief ein und aus.
„Komm doch raus zu mir! Es ist endlich wieder warm geworden“, rief er seinem Sohn zu. Er erwartete keine Reaktion. Langsam stand er auf, ging hinein, nahm seinen Sohn bei der Hand und brachte ihn hinaus. „Na, komm schon, setz dich zu deinem alten Vater und leiste ihm Gesellschaft.“ Da saßen die beiden. In der hereinbrechenden Nacht. Je dunkler es wurde, desto weniger konnte er sehen. Das genoss er. Die farbenfrohe Realität widerstrebte ihm, denn sie war nie ganz so, wie er sie sich wünschte. Im Dunkeln der Nacht konnte er seine eigenen Bilder entstehen lassen und seine eigenen Farben kreieren. Er genoss die Zweisamkeit. Als er noch allein lebte, fühlte er sich immer einsam. Irgendetwas fehlte ihm, doch sich selbst hatte er noch nie bewusst entdeckt. Er brauchte das Außen, um sich selbst fühlen zu können. Während die Bierflasche seine Hand kühlte, strich ihm der Wind wieder wärmend über den Arm.
„Als ich so alt war wie du, bin ich gerade in das Waisenhaus gekommen“, erzählte er in die Nacht hinein. „Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben alleine in einem fremden Bett einschlafen musste. Ohne einen Gutenachtkuss meiner Mutter. Und ohne meinen Vater in der Küche zu hören, wie er das Geschirr gerade weggeräumt hat. Ich machte kein Auge zu. Es war vollkommen dunkel und ich war ganz allein. Ich habe auf die Decke hinaufgeschaut. Die Straßenlampe war nur leicht von außen zu sehen. Ich habe damals geweint. Eine Träne nach der anderen ist mir über die Wange hinuntergeronnen", er seufzte leise in die Nacht hinein. "Später hat man mir erzählt, dass ich in einem Schockzustand war. Ein Trauma. Aber die Tränen haben sich gut angefühlt. Sie waren so warm an meiner Wange. Irgendwie, wie die Hand meiner Mama. Es hat sich angefühlt, als ob sie mir mit ihren warmen Fingern zärtlich über die Wangen gestrichen hat. Diese Nähe habe ich sehr vermisst. Und jede Träne war dann wieder eine weitere Berührung. Ich konnte sie wieder fühlen." Er strich sich unbewusst mit seinem eigenen Finger über die Wange. "Weißt du, im Dunkeln konnte ich mir das richtig gut vorstellen. Ich habe nicht ihr genaues Gesicht gesehen, aber ich habe sie irgendwie gefühlt. Deine Oma. Wie sie an meinem Bett gesessen ist und liebevoll mit mir geredet hat. Ich habe ihre Worte nicht verstanden, die sie mir zugeflüstert hat. Aber ich habe sie gespürt. Im dunklen Zimmer habe ich mir dann vorgestellt, wie sie ausgesehen hat. Ich habe mir die Welt vorgestellt, die ich mir als Kind so sehr gewünscht hatte. Und dann war sie wirklich wieder da. Sie ist neben mir gesessen. Und ich habe sie gespürt. Ihre zärtlichen Finger, die warmen Tränen. Ich habe mir vorgestellt, wie ich das Geschirr aus der Küche gehört habe, das mein Papa weggeräumt hat. Dein Opa. Es war eine schöne Nacht."
"Irgendwann hatte ich keine Tränen mehr in mir. Die letzten Tropfen sind auf das Bett gefallen und sind getrocknet. Irgendwann habe ich gesehen, dass die Sonne wieder aufging. Sie hat meine wunderschöne Vorstellung verdrängt. Jede Minute ist es heller geworden. Jede Minute konnte ich mir weniger deutlich meine Mama vorstellen. Ich habe nur noch die salzigen Reste von den eingetrockneten Tränen auf meinen Wangen gespürt. Die Geräusche des Geschirrs sind auch leiser geworden. Es war wie ein Abschied. Das Straßengeräusch und das Vogelgezwitscher von draußen haben mir auch die Gedanken an den Papa weggenommen. Danach habe ich den ganzen Tag geschlafen. Ich bin erst wieder aufgewacht, als es wieder Nacht geworden war."
Er schwieg. Er ließ seine Worte verklingen und trank in Ruhe einen Schluck von seinem kühlen Bier. Er hätte sich gewünscht, dass wieder eine Träne entstehen würde, so wie früher. Doch seit jener Nacht kamen keine mehr. Er war ausgetrocknet, genauso leer wie die Bierflasche vor ihm, die ihn etwas wehmütig ansah. „Hier drehen“ stand auf dem Verschluss, den er nicht gedreht hatte. Er seufzte betrübt und strich über die schwarzen Haare seines Sohnes, der ihn gewähren ließ. „Weißt du“, sinnierte er weiter, „ich habe mir immer einen Sohn gewünscht. Anfangs konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sein würde, ein Vater zu sein, vor allem ein alleinerziehender. Es war immer ein tiefer Wunsch in mir. Vielleicht auch deswegen, weil ich mir selbst immer einen Vater gewünscht hatte. Einen Vater, der mich sieht, wenn ich größer werde. Einen Vater, der für mich da ist. Der mich von der Schule abholt. Der mir Essen macht, wenn ich hungrig bin. Der mit mir redet und mir die Welt erklärt. Der mir von seiner Kindheit erzählt. Ein Vater, der mich umarmt, wenn ich eine gute Schulnote bekomme. Ein Vater, der mir zujubelt, wenn ich bei einem Fußballspiel ein Tor schieße. Einfach ein Mensch, der mich wirklich liebt."
Der Wind strich ihm wieder behutsam über die Arme. In der Dunkelheit konnte er das Gefühl von Nähe wieder umarmen. „So ein Vater möchte ich für dich sein“, schloss er seinen Monolog. Er genoss die Stille. So wie früher, als er sich seinen Vater und seine Mutter vorstellen konnte und sich weniger allein fühlte. Die Dunkelheit der Nacht ließ seine Träume wahr werden. Je weniger die Realität von außen in ihn einströmte, desto genauer konnte er seinen Wunsch erleben. In der Dunkelheit wurde sein Wunsch nach einem Sohn Wirklichkeit. Die schwarzen Kunsthaare bewegten sich im Wind. Die fein geschnitzte Holznase wirkte echt. Der Glanz in den Glasaugen erinnerte ihn an echte Tränen. Der neu gekaufte Pullover passte ihm wie angegossen. „Jetzt wird es aber Zeit, schlafen zu gehen“, flüsterte er ihm leise ins Ohr. Er nahm seinen Sohn bei der Hand und trug ihn in sein Kinderzimmer. Das Licht drehte er dabei nicht an. Er zog ihm den Pullover aus und den Pyjama an. „Wenn du älter bist, wirst du dich selbst umziehen können“, lächelte er ihm zärtlich zu. Er legte ihn ins Bett und deckte ihn mit einer weichen Decke zu. An der Bettkante sitzend, strich er ihm wohlwollend über die Wangen. Er hörte selbst nicht mehr, welche Worte er fand, damit er einschlafen konnte. So wie damals mit seiner Mutter. Worte der Nähe und Geborgenheit. Ganz leise hörte er noch die letzten Geräusche aus der Küche nachklingen, das Geschirr, das weggeräumt wurde. „Schlaf gut, mein Sohn.“ Er küsste ihn auf die Stirn und schloss leise die Tür des Kinderzimmers. Er war glücklich, nicht allein sein zu müssen.
Perspektive
Diese Geschichte entfaltet sich als erschütterndes Porträt einer Psyche, die versucht, ein zerbrochenes inneres Kind zu heilen, indem sie die Rollen vertauscht und dabei immer tiefer in die Abspaltung gerät. Der Vater erschafft sich einen Sohn aus Holz und Glas, um endlich der Vater zu sein, den er selbst nie hatte. Doch in dieser Umkehrung wird etwas Grundlegendes sichtbar. Er nährt nicht den Sohn, sondern sich selbst. Das Butterbrot, das er zubereitet und dann selbst isst, wird zur zentralen Metapher. Der Wunsch nach einem Kind ist nur die sichtbare Oberfläche. Darunter wirkt die viel ältere Sehnsucht, selbst einmal gesehen, gehalten und gefüttert zu werden. Mit der Puppe baut sich der Mann eine Bühne, auf der er endlich beide Rollen gleichzeitig spielen kann. Er spricht nach außen mit dem Sohn, doch in Wahrheit spricht er mit dem Kind in sich, das nie eine Antwort erhalten hat.
Die Dunkelheit wird zur einzigen Dimension, in der er existieren kann. Sie ist nicht nur Abwesenheit von Licht, sondern ein aktiver Raum der Verwandlung, in dem die äußere Realität aufgelöst und durch die innere ersetzt werden kann. In der Nacht des Waisenhauses waren es die Tränen, die die Mutter zurückbrachten. Jetzt ist es die Dunkelheit selbst, die den Holzsohn zum Leben erweckt. Die Puppe ist kein bloßes Symbol, sondern ein aktiver Schutzmechanismus. Sie erlaubt Nähe ohne Risiko und Zärtlichkeit ohne die Gefahr erneuter Verletzungen. Der Wind streichelt ihm über die Arme. Es ist die einzige Berührung von außen, die er zulassen kann, weil sie flüchtig ist und nichts von ihm verlangt. Die Uhr tickt und unterstreicht die Stagnation. Nicht Tick-Tack, sondern Tick-Tick, weil es immer dasselbe Geräusch ist, immer dieselbe Einsamkeit, die sich als Zweisamkeit verkleidet.
Am Ende legt er sein inneres Kind ins Bett und verlässt das Zimmer. Eine Wiederholung der Ur-Trennung, die er nun selbst ausführt. Er küsst die Holzstirn und schließt die Tür. Er ist glücklich, nicht allein sein zu müssen, obwohl er es ist. Der Text erzählt von einer so radikalen Einsamkeit, dass sie sich eine Familie aus Holz und Erinnerung erschaffen muss, und von der zähen Lebenskraft, die selbst in dieser Konstellation noch lieben will. Letztlich ist der tiefe Wunsch nicht der nach einem Kind, sondern nach einem Du, das wirklich bleibt. Die Erfüllung dieses Wunsches verhindert ihn zugleich. Indem er sich den Sohn erschafft, macht er echte Vaterschaft unmöglich. Indem er beide Rollen spielt, bleibt er in beiden allein.

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