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Der Termin

(Musik: Give it 100, Saint Chaos)

„Fuck, fuck, fuck!“, fluchte er laut. „Fahr endlich weiter!“, schrie er das Auto vor ihm an. Und wieder blieb es stehen. Das rote Licht strahlte durch den verregneten Abend wie brennende Laserpointer in seine Augen. Wollte er, dass er erblindet? „Fahr endlich, du Arschloch!“ Er war tief in seiner Wut verloren. Von außen hätte man ihn in Zeitlupe beobachten können. Ein Mann in seinem schwarzen Auto. Sein Lenkrad war mit edlem Leder umspannt. Besonders fein und zart für die Hände. Eine Sitzheizung, um im Winter eine angenehme Temperatur einstellen zu können. Wohlige Wärme im Rücken. Der Sitz war verstellbar und konnte sich wie ein Yoga-Meister in unterschiedlichste Richtungen verdrehen. Etwas weiter nach hinten, etwas weiter nach vorne. Die Rückenlehne kann gerader gestellt oder nach hinten gelegt werden. Die Kopfstütze lässt sich in der Höhe verstellen und ist mit weichem Schaumstoff gepolstert. Ein ästhetisches Armaturenbrett, das wellenförmig durch das gesamte Auto designt war. Die Anzeigen leuchteten in beruhigendem Blau, das besonders schonend für die Augen war. Ein Automatikgetriebe, damit man nicht einmal mehr schalten muss. Ein adaptiver Tempomat, damit ein Fahrer auf langen Strecken nicht ständig das Gaspedal drücken muss. Eine Spurhalteassistenz, damit das Auto geradeaus weiterfährt, auch ohne zu lenken. Eine automatische Parkassistenz, die das Einparken übernimmt. Elektronische Schlüssel, die das Auf- und Zusperren des Autos hinfällig machen. Die Türen öffneten sich, wenn man sich dem Auto näherte. Der Kofferraum ging auf, wenn man die Füße unter das Auto hielt. Dieses Auto stand im Stau. Und der Fahrer saß mitten drin.

Seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad, als wollte er es erwürgen. Seine Hände waren weiß, da selbst das Blut durch den Druck keinen Platz mehr in den Adern hatte. Anstatt sich gemütlich auf der Rückenlehne zurückzulehnen, war sein Körper nach vorne gebeugt. Jeder Muskel war angespannt, als hätte er ein Fitness-Training mit kraftvollen Sit-ups begonnen. Sein Kopf war hochrot. Das Blut, das in den Händen keinen Platz mehr hatte, schoss in den Kopf, um die Blutgefäße zu unterstützen, die Hilfe brauchten. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu platzen, doch die Nervenfasern hielten sie mit aller Kraft zurück, genauso wie der Gurt seinen Oberkörper. Seine Nase war verzerrt wie bei einem knurrenden Wolf kurz vor dem Angriff, faltig, bereit zum Kampf. Sein Mund bewegte sich mit fletschenden Bewegungen auf und zu.

Langsam öffnete er sein Gebiss wieder und seine Zähne wurden sichtbar, die vom Zahnfleisch festgehalten wurden. Die Lunge presste die zuvor eingeatmete Luft zuerst durch den immer röter werdenden Hals und dann durch den Mund aus. Zusammen mit einem Sprühregen aus Speichel flog sie ästhetisch über die blau schimmernde Armatur und landete auf der Windschutzscheibe. Warum gab es eigentlich keine Scheibenwischer im Innenraum?

„Fahr endlich weiter, verdammt nochmal!“, donnerte es wieder aus dem Auto. Die Hupe ertönte erbost, um die starren Blechtrottel vor sich anzuschieben. „Jetzt reicht's. Jetzt reicht's wirklich“, fluchte der Fahrer, blickte gestresst um und hinter sich. „Ich kann auch anders.“ Mit diesem Satz drehte er das Lenkrad brutal zur Seite und fuhr auf den Gehsteig. Ein lautes Gehupe hinter ihm verfluchte ihn. „Fickt euch doch!”, schrie er der anonymen Menge zu. Er fuhr an den stehenden Autos vorbei. Gierig, voller Wut. Er drückte auf das Gaspedal. Der Motor heulte auf, und er fuhr los. Endlich. Es fühlte sich so frei an. „Los, los, los“, spornte er sich selbst an und warf einen gestressten Blick auf die Uhr. Er wischte sich über die verschwitzte Stirn. Er konnte nur kurz nichts sehen, weil sein eigener Arm seine Augen verdeckte. Es war ein kurzer Schatten, der plötzlich vor ihm stand. Dann ein dumpfer Knall. Irgendetwas flog über die linke Seite seiner Windschutzscheibe hinweg. „Fuck, fuck!”, schrie er und drückte auf die Bremse.

Er hörte sein Herz schlagen. Es pochte so laut wie nie zuvor. Was war geschehen? Er sah in den linken Seitenspiegel. Eine schwarze Masse lag hinter seinem Auto. Bewegungslos. „Scheiße, scheiße!“, hörte er sich leise fluchen. Dann warf er einen Blick in den rechten Seitenspiegel. Es war dunkel. Neblig. Er konnte nicht viel erkennen. Menschen stiegen aus ihren Autos. Sie liefen zu der schwarzen Masse. Er konnte sie kaum sehen. Wenn er sie nicht sehen konnte, dann konnten sie ihn auch nicht sehen, schoss ihm durch den Kopf. Ein kurzer Blick auf die Uhr. „Scheiß drauf“, dachte er und stieg wieder auf das Gaspedal. Der Motor heulte auf, und das Auto schoss mit über 200 Pferdestärken nach vorne. Die Tachometernadel raste um die Kurve hinauf zu den dreistelligen Zahlen. Weiter, weiter, weiter. Keine Zeit verschwenden. Vorbei an den stehenden Autos. Die kalten Schweißtropfen zischten und verdunsteten in Sekundenschnelle auf seiner erhitzten Stirn, wie die Nebeltropfen auf seiner Motorhaube.

Sein Blick war nach vorne gerichtet, seine verkrampften Hände klammerten sich fest ans Steuer. Er sah kaum, wohin er fuhr, und drückte noch fester auf das Gaspedal. Endlich, dort vorne war das Ende des Staus. Ein Autounfall. Am steckengebliebenen Auto vorbei schoss er wieder auf die Fahrspur. Empörte und schockierte Hupen beschimpften sein Manöver. Es war ihm egal. „Los, weiter“, ertönte es in seinem Kopf. Das Getriebe schaltete einen Gang nach dem anderen nach oben. In der nächsten Kurve riss er das Lenkrad herum, die Reifen quietschten, weiter geradeaus, weitere Biegungen, Kurven. Endlich, da vorne, war sein Ziel. Mit einem letzten Kraftakt ließ er die tonnenschwere Maschine noch einmal aufheulen, um kurz danach eine Vollbremsung hinzulegen. Die Reifen quietschten und rauchten, sein Körper wurde nach vorne geschleudert, nur der Gurt hielt ihn wieder fest. Und dann plötzliche Stille. Der Motor vibrierte noch vor Anstrengung. Er schnaufte erschöpft, als wäre er gelaufen. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Ja, er war pünktlich. Genau rechtzeitig, wie geplant. Er schaltete den Motor ab. Es war dunkel. Er blickte in den Rückspiegel. Niemand hatte ihn verfolgt. Er war allein. Pünktlich am Ziel. Genau dort, wo sein Navigationssystem ihn hingeführt hatte. Er hatte 100 Prozent gegeben. „Koste es, was es wolle”, hörte er noch in seinen Gedanken nachhallen.

Er öffnete den Sicherheitsgurt und stieg aus dem Auto. Kühle Luft begrüßte ihn auf der dunklen Landstraße, umgeben von Feldern. Das alte Haus stand einsam an der Straße. Er ging die Treppen zur Eingangstür hinauf. Warum war kein Licht angeschaltet? Es war ein großes Holzhaus. Die Klingel war aus altem Messing gefertigt. Er läutete, aber es geschah nichts. Die Glocke war zu hören. Er läutete noch einmal. „Hallo?“, rief er in die dunklen Fenster. Keine Antwort. Irritiert nahm er sein Handy aus seiner Hosentasche. Eine neue Nachricht. Er öffnete sie: „Es geht sich bei mir heute nicht aus. Wir verschieben die Pokerrunde auf nächste Woche.“ Er las die Nachricht zweimal. Dann schaltete er das Handy aus. „Fuck!”, schrie er in die Nacht hinein. Heute wäre er endlich einmal pünktlich gewesen. „Scheißdreck“, fluchte er, als er zu seinem Auto zurückging. Er sah, dass sein linkes Vorderlicht zerbrochen war. Eine dunkle Flüssigkeit tropfte langsam hinunter. „So ein Scheiß“, fluchte er, trat gegen das Auto und setzte sich wieder auf den Fahrersitz. Langsam drehte er das Auto um und fuhr nach Hause. Er hatte sich völlig unnötig gestresst.

 

Perspektive

Diese Geschichte zeichnet das Porträt eines Menschen, der so stark auf ein äußeres Ziel fokussiert ist, dass er weder sich selbst noch seine Umgebung wahrnimmt. Er spürt eine tiefe innere Leere, der er nur entfliehen kann, indem er sich nach außen richtet. Würde er das Ziel nicht erreichen, müsste er sich mit seinem Inneren auseinandersetzen, und das möchte er um jeden Preis vermeiden. Der Stau wird zum unerträglichen Spiegel, denn er hätte die Chance, innezuhalten, Zeit für sich zu nehmen und nachzuspüren, was er gerade benötigt. Doch das jagt ihm Angst ein. Obwohl das Auto technisch alles bereitstellt, um Komfort zu bieten, ist sein Inneres von Angst und Leere geprägt. Die luxuriöse Hülle entlarvt, wie wenig äußere Perfektion hilft, wenn der innere Motor überhitzt.

Der Moment, in dem er auf den Gehweg ausbricht und dabei wahrscheinlich einen Menschen überfährt, ist ein Weckruf, innezuhalten. Doch sich einzugestehen, jemanden verletzt oder gar getötet zu haben, ist für ihn noch gefährlicher. Er folgt demselben Muster wie zuvor und steigt auf das Gas. Immer nur Gas geben, um nicht bei sich selbst ankommen zu müssen. Er hat sich so sehr dem Ankommen verschrieben, dass das Leben selbst nebensächlich wird. Die schwarze Masse bleibt anonym, wird nicht benannt – eine Verdrängung in Echtzeit. Der Weg zum Haus wird zu einer grotesken Pilgerfahrt, die in ihrer Sinnlosigkeit alles offenlegt, was zuvor im Verborgenen brannte.

Die Nachricht, dass der Termin abgesagt wurde, zeigt ihm, dass die irrsinnige Fahrt umsonst war. Er hätte seine eigenen Werte reflektieren können. Wie wichtig ist es mir tatsächlich, zu einem Pokerspiel zu gehen? Doch diese Reflexion findet nicht statt, da sie das Innere miteinbeziehen müsste. Stattdessen bleibt er im Auto, schimpft über andere, ohne sich selbst miteinzubeziehen. Das zerbrochene Vorderlicht, die dunkle Flüssigkeit und die Spuren dessen, was er überfahren hat, registriert er nur als Ärgernis. Er hatte sich völlig unnötig gestresst, denkt er und verdrängt damit die eigentliche Katastrophe vollständig. Die Geschichte zeigt einen Menschen, der sich selbst verloren hat. Anstatt aufzuwachen und sich selbst anzusehen, jagt er wie besessen dem Äußeren hinterher, denn aufgrund seiner inneren Leere ist es das Einzige, was er noch hat.

 
 
 

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