Der Ozean
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 5 Min. Lesezeit
Er springt von der Klippe. Er weiß nicht einmal, warum. Mit voller Kraft ist er weggesprungen. Offensichtlich hat er richtig Anlauf genommen, denn sonst hätte er nicht so weit springen können. Während er in der Luft mit den Armen rudert, spürt er die Felsklippe hinter sich und gleichzeitig die Gischt unter sich, die in Sprühregen zerfällt. Mitten im Nichts, im freien Fall über dem Ozean. Vor ihm erstreckt sich der ewige Horizont, unter ihm liegen die Tiefen des Ozeans. Wie in Zeitlupe spürt er die Erdanziehung, die ihn hinunterzieht. Es war kein Akt der Vernunft. Es war ein Akt der Wahrheit. Er musste springen. Wenn es eine Wahrheit gab, dann diese. Kein Hass, keine Liebe, sondern reines Bewusstsein und die Klarheit, dass es sein musste. Als ob es schon immer so geschrieben stand. Es war keine Frage. Es war die eine richtige Antwort. Das Ego hatte keine Chance zu rebellieren. Es wusste selbst, dass es keinen anderen Weg gab, auch wenn es sich aufbäumen wollte.
All das geschah in Bruchteilen von Sekunden, als sein Körper plötzlich ins Wasser gezogen wurde. Es war kein harter Aufprall. Es gab keinen Knall. Und er wurde unter Wasser auch nicht langsamer. Im Gegenteil, die Geschwindigkeit seines Körpers erhöhte sich sogar noch weiter. Es war, als ob das Wasser keinen Widerstand leisten wollte, sondern ihn nur noch tiefer und tiefer in den Ozean zog. Es gab keinen Auftrieb. Er fiel immer tiefer in die Unendlichkeit des Wassers. Erst jetzt bemerkte er, dass er unter Wasser nicht mehr atmen konnte. Er hielt die Luft an und blickte hinauf. Die Wasseroberfläche war in weiter Ferne. Er versuchte, nicht noch tiefer zu sinken. Wie sollte er jemals wieder an die Oberfläche gelangen?
Tief im Ozean begann er sich langsam wieder zu bewegen. Endlich konnte er mit den ersten Schwimmzügen Stück für Stück hinaufschwimmen. Doch er war bereits zu tief im Ozean. Viel zu tief. Er werde es nicht mehr an die Wasseroberfläche schaffen, hörte er sein Ego. Panik, Angst und Verzweiflung machten sich in seinem Körper breit. Er ist zu tief im Wasser. Er schafft es nicht mehr hinauf. Das Glitzern der Sonne auf der Wasseroberfläche wirkte wie aus einer anderen Welt. Waren dort oben Wellen? Die Gischt? Der Wind? Er hörte nichts mehr. Er sah nichts mehr.
Seine Lungen begannen zu brennen. Mit geschlossenem Mund begann sein Körper, Atembewegungen auszuführen. Seine Lungen versuchten, sich zu öffnen und zu schließen, doch er hielt den Mund mit aller Kraft zu. Er war unter Wasser. Er konnte nicht atmen. Er durfte den Mund nicht öffnen, sonst würde er sterben. Er versuchte, sich mit kräftigeren Schwimmbewegungen nach oben zu kämpfen. Doch er war einfach zu tief im Ozean.
Durch die Anstrengung verlangte sein Körper nach noch mehr Luft. Er brauchte endlich Luft. Seine Tränen der Verzweiflung vermischten sich mit dem Ozean und wurden weggespült. Würde er sterben oder überleben? Sein Geist wollte aufgeben. „Ich schaffe es nicht mehr!“, schrie er mit letzter Kraft. Er wird sterben! Das ist das Ende!
In diesem Moment, als er erkannte, dass er sterben würde, entstand tief in ihm eine klare Erkenntnis. Er konnte atmen. Alles in ihm weigerte sich, doch darunter, in einer tiefen Weisheit, spürte er eine allumfassende Wahrheit. Die gleiche Wahrheit, die ihn hatte springen lassen, kam plötzlich wieder. Er schrie innerlich, kämpfte gegen sie an, sein Ego zersprang vor Wut und Angst. Warum ist er gesprungen? Warum ist er so tief in den Ozean eingetaucht? Verdammte Scheiße, er will nicht sterben! Er will nicht sterben!
Und dennoch. In seiner Verzweiflung spürte er eine unglaubliche Sicherheit. Irgendetwas hielt ihn. Irgendetwas war da. Plötzlich wusste er, dass er atmen konnte. Er wusste es tief in sich. Das ist ein Traum. Das ist ein Traum. Er kann atmen. „Wach auf, du kannst atmen!" Seine Lungen brannten und er konnte den Drang, nach Luft zu holen, nicht mehr zurückhalten. Es ist ein Traum. Er stellt sich das alles nur vor. Es ist seine Vorstellung. Der Ozean ist seine Vorstellung. Er kann atmen. Er wusste, dass sich jetzt entscheiden würde, ob er sterben oder leben würde. Irgendetwas in ihm gab ihm die Sicherheit, dass er überleben würde. Er öffnete den Mund und atmete ein, als hätte er noch nie zuvor geatmet. Mitten im Ozean, tief unter Wasser, sog er die Luft ein, die er so sehr brauchte.
Es fühlte sich an wie sein erster Atemzug. Tief, zitternd und mit Schmerzen in der Lunge atmete er das Leben ein. Er wachte in seinem Traum auf. Alles war so klar. Er atmete unter Wasser. Und er flog schwerelos. Er war ganz bei sich. Das alles war nur seine Vorstellung. Alles ist seine Vorstellung. Er atmete frei. Es ist sein Traum, aus dem oder in den er aufgewacht ist. Völlige Stille. Wo war die Felsklippe? War diese wilde Gischt auch nur seine Vorstellung? Konnte er selbst entscheiden, ob er sich im Ozean befand oder nicht? Es war schön. Alles war so schön. Ein Moment der völligen Klarheit. Alles war genauso, wie es sein musste. Alles bewegte sich, wie es sich bewegen sollte. Alles war richtig. Er war in sich angekommen. Er selbst war Teil seiner selbst und des Universums. Er atmete ruhiger. In tiefer Ruhe. Tief in sich.
Perspektive
„Der Ozean“ ist kein Sprung in die Freiheit, sondern ein Sturz in die Wahrheit. Der Text beschreibt nicht die Flucht vor dem Alltag, sondern das radikale Loslassen jeglicher Sicherheit. Der Sprung von der Klippe ist der irreversible Übergang ins Unbekannte, dorthin, wo Kontrolle, Logik und Identität versagen.
Anfangs klammert er sich noch an die alte Regel: Unter Wasser kann man nicht atmen. Diese Regel steht für alle Überzeugungen, die uns am Leben halten, solange wir an der Oberfläche bleiben. Doch in der Tiefe werden sie zur Todesursache. Was oben Schutz war, wird unten zum Gefängnis. Der eigentliche Wendepunkt liegt nicht im Aufprall, sondern im Moment tiefster Verzweiflung. Wenn das Atmen unmöglich scheint und es dennoch geschieht. Diese Umkehrung der Wirklichkeit, der Atem unter Wasser, ist kein Wunder, sondern das Ende aller Erklärungen. Das Ego schreit, kämpft, zerbricht und wird schließlich überflüssig. Was bleibt, ist Bewusstsein in seiner rohsten Form.
Die Geschichte stellt eine Initiation dar. Sie ist roh, bedingungslos und jenseits von Trost. Sie beschreibt nicht das Erkennen, sondern das Zerschmettertwerden durch das Erkennen. Der Text entfaltet die bittere Schönheit der mystischen Einsicht, dass die größte Sicherheit nur jenseits aller Sicherheiten liegt. Der tiefe Fall ist demnach nicht das Ende, sondern der Eintritt in eine Wirklichkeit, die sich nicht denken, sondern nur erleben lässt.
Was bleibt, ist keine triumphale Rückkehr. Es ist ein neues Atmen. Still und schwerelos. Ein In-sich-selbst-Ankommen jenseits aller Formen. „Der Ozean“ ist ein Text über den Tod des Egos und die Geburt eines Bewusstseins, das sich nicht mehr erklären muss. Ein Text, der nicht auf Erlösung, sondern auf Auflösung zielt. Was bleibt, ist keine Antwort, sondern ein Seinszustand: Klarheit. Tiefe. Wahrheit.

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