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Der Himmel

(Musik: Pachelbel's Canon in D - Solo Piano, Brian Crain)

„Willkommen im Himmel!” Er blickte um sich. Es war einfach wunderschön. Wie in seinen Träumen. Eine Wolkenlandschaft. Alles war so weich und sanft. Seine Füße standen auf einer weißen Wolkendecke. Sie trug ihn, ohne dass er Kraft aufwenden musste. Feiner Nebel strich ihm freundlich über die nackten Füße. „Es gibt wirklich einen Himmel”, lachte er und schüttelte den Kopf, als hätte er gerade den echten Osterhasen gesehen, von dem er früher seinen Kindern erzählt hatte. All die Geschichten über den Himmel, die er gehört hatte, schienen tatsächlich teilweise zu stimmen.

Die schöne Frau in den weißen Kleidern, die ihn begrüßt hatte, strahlte ihn herzlich an. Es fühlte sich an, als wäre er gerade vor dem luxuriösesten Wellness-Hotel angekommen. Um ihn herum waren dichte und feste Wolken, die ihn einluden, auf ihnen zu gehen oder sich einfach fallen zu lassen. Eine angenehme Brise kühlte seine Haut. Um ihn herum war nur blauer Himmel. Und überall klang wunderschöne Musik. Doch erst jetzt bemerkte er, dass er die Musik nicht einfach hörte, sondern spürte. Wie Basstöne, die im Bauch vibrieren, bewegten ihn die leisen Klänge der himmlischen Natur. Und jetzt stellte er auch fest, dass sein Körper keine Schmerzen mehr hatte. Endlich waren sie überwunden. Wie lange er gelitten hatte.

Doch selbst diese Erinnerung war wie in Watte gepackt, sanft umrundet, vergeben und abgeschlossen. Er hatte keinen Körper mehr. Er spürte und nahm wahr, aber er hatte keinen materiellen Körper mehr. Er fühlte und sah alles wie zuvor, hatte aber keine physische Repräsentation mehr. „Reines Bewusstsein", ging ihm durch den Kopf. Er sah keine Sonne, spürte aber ihre Wärme auf seiner Haut – oder das, was er sich unter Haut noch vorstellte.

„Ich hätte so viele Fragen an dich gehabt“, begann er, sich nun an die Frau richtend. „Aber irgendwie ist alles, was ich mir damals gedacht habe, nicht mehr relevant." Er blickte in ihre unendlich gütigen Augen und verspürte keinen Drang, seine Wissenslücken zu füllen. Ohne dass sie etwas sagte, spürte er, dass er in seinem eigenen Traum angekommen war, den er selbst gestalten konnte.

Er legte sich auf die Wolkendecke, blickte zum Himmel und genoss das helle Blau. Ihm wurde bewusst, dass Zeit nicht mehr existierte. Lag er einige Minuten oder Jahre auf der Wolke? Er stand auf und spürte seine Freunde um sich. Wie eine lichte Erinnerung sah er sie um ihren Stammtisch sitzen. Einer klatschte gerade in die Hände und lachte herzlich, weil er eine seiner Lieblingsanekdoten erzählte. Damals, als sie aus Versehen in das falsche Hotelzimmer gingen und die verdutzten Gesichter der eigentlichen Gäste sahen. Er saß plötzlich wieder neben ihnen. Es war nicht genau dieser Tisch, an dem er mit ihnen saß. Aber es fühlte sich so an. Es war die vertraute Umgebung, die wohlwollende Nähe. Sie hatten jedoch keine zeitliche Begrenzung. Es gab weder einen Beginn noch ein Ende. Es gab keine Sperrstunde und auch kein schlechtes Gewissen, das zum Bett riet, um am nächsten Morgen wieder fit zu sein. Sie begannen zu reden, zu blödeln, zu lachen, zu tratschen und zu diskutieren. Nicht so wie im Leben, aber mit derselben Wirkung. Es war lustvoller Spaß, intellektuelle Neugierde und freundschaftliche Verbundenheit.

Einige Minuten oder Jahre später drehte er sich um und befand sich in seiner Familienwolke. Noch tiefere Verbundenheit und Vertrautheit, gepaart mit anderen familiären Dynamiken. In seinem Leben fühlte er sich oft in eine Rolle gedrängt, die er nur teilweise ausfüllen konnte und wollte. Doch diese Erfahrung war nur noch als letzter Erinnerungshauch zu spüren und machte Platz für ein tiefes Urvertrauen. Er spürte seine Eltern und Großeltern. Wie deutlich er ihre Präsenz wahrnehmen konnte. Während er damals, als sein Großvater noch am Leben war, das gutmütige Lächeln von ihm spürte, war es jetzt nur noch ein Gefühl, das sein Herz erwärmte, ohne dass er tatsächlich anwesend war. Dieses herzerwärmende, familiäre Gefühl entstand auch, als er seine Kinder und Enkel spürte. Ihre junge Kraft und ihr verspieltes Wesen brachten sein Herz zum Tanzen. Und jetzt spürte er seine Frau hinter sich. Er war wieder mit ihr vereint. Sie ergänzten sich gegenseitig. Er lächelte freudig und spürte den Tanz mit ihrer Präsenz. Die Wolkendecke trug sie sanft über den Himmel und tanzte mit ihnen, während ihre Drehbewegungen den leichten Nebel um ihre Füße kreisen ließen. Sie tanzten und lachten für eine Ewigkeit.

Irgendwann lagen sie nackt und rein auf dem Wolkenboden. Er strich über ihre sanfte Haut und bemerkte, dass es nicht seine Frau war. Es war auch keine andere Frau. Er spürte, dass seine Frau lediglich eine verkörperte Form weiblicher Energie war. Er spürte seine männliche Energie, die über ihre zarte Hüfte strich. Er spürte vollkommene visuelle Ästhetik und das Öffnen sexueller Energie, die durch ihn hindurchströmte. Die feinen Schultern, die er zärtlich liebkoste, ihre blonden langen Haare, die über sein Gesicht streichten. Waren es ihre Lippen, die sich küssten? Die tanzende Bewegung in ihrer körperlichen Vereinigung. Es war nicht mehr seine Frau, es waren alle Frauen, alle Reize und Verbundenheiten, die er jemals gespürt hatte. Er drehte sich mit ihnen, spürte die Sinnlichkeit von allen Seiten, den himmlischen Genuss, von allen Seiten berührt zu werden. Er war ein freudevoller Wirbelwind, der sich mit sich selbst vereinte. Irgendwann löste sich die Dualität zwischen Mann und Frau auf. Er fühlte die weibliche Energie in sich, genauso wie die männliche. Es gab keine Unterscheidungen mehr. Die Frauen, die ihn berührten, waren er selbst. Und er selbst war nicht mehr nur ein Mann, sondern eine Verkörperung von Männlichkeit. Und selbst das löste sich weiter auf. Er war nicht ein Individuum, sondern Teil von allem. Mann und Frau in sich vereint, ein gemeinsamer Tanz mit sich selbst. In diese Winde kamen seine Familien und Freunde hinzu. Es waren manifestierte Energien in Körpern, die nicht mehr benötigt wurden.

Es waren nur noch Energien. Er war nicht mehr ein bestimmter Mensch. Er interagierte nicht mehr mit anderen. Es gab ihn nicht mehr. Die anderen gab es nicht mehr. Wie ein Luftballon ohne Ballon. Der Ballon hält die Luft in sich. Aber er ist nur eine Hülle, die nicht mehr benötigt wird. Die Hülle des Luftballons vergeht und die innere Luft wird eins mit der äußeren Luft. Sein Bewusstsein wurde Teil von allem. Und alles war Teil von ihm. Der Wassertropfen im Ozean, der in sich der Ozean ist. Er ist nicht mehr Teil von etwas Größerem. Es ist alles eins.

Selbst die Wolken waren in diesem Eins vorhanden. Wie ein Bild von Wolken und Himmel. Das Bild beginnt langsam heller zu werden. Das Blau wird heller, die Wolken werden heller. Das Bild verändert sich. Der Kontrast reduziert sich. Die grauen Stellen der Wolken sind kaum noch zu erkennen. Das Blau wird immer weißer. Und irgendwann ist das gesamte Bild weiß. Es gibt keine Wolke hier und eine andere Wolke dort, keinen blauen Himmel hier und eine weiße Wolke dort. Die Unterscheidungen verschwimmen. Es gibt nicht einmal mehr das Bild hier und die Landschaft dort. Das Bild ist die Landschaft und umgekehrt. Die Unterschiede der Farben verschwinden. Irgendwann bleibt nur noch weißes Licht. Weißes Sonnenlicht, in dem alle Farben vereint sind. Weißes Licht entsteht jedoch nur, wenn es von Augen wahrgenommen wird. Licht im Universum ist unsichtbar. Es ist das Potenzial und Sein von allem.

Es wurde ruhig. Alles ist eins. Hätte er noch existiert, hätte er gelächelt. Er existierte noch und lächelte. Aber nicht als spezifische Farbe, nicht als Kontrast in einem Vergleich zu anderen, nicht als verkörpertes Objekt oder Subjekt. Das Lächeln war Teil von allem. Es ruhte in sich und war in seiner ganzen Potenzialität ewig vorhanden. „Die Idee eines Himmels“, lachte es. Eine schöne Idee. In allumfassendem, himmlischem Weiß. 

 

Perspektive

Diese Geschichte zeichnet eine tiefgreifende innere Reise nach, die weit über eine bloße Jenseitsvorstellung hinausgeht. Die anfängliche Freude über die Bestätigung alter Geschichten zeigt ein Ich, das noch an Vorstellungen festhält und Kategorien braucht. Doch mit der Zeit verlieren die einst so wichtigen Fragen ihre Dringlichkeit. Der Stammtisch ohne Sperrstunde löst die Angst vor der Endlichkeit und in den Begegnungen mit Familie und Freunden fallen die Rollen ab, die das Leben so kompliziert gemacht haben. Was bleibt, ist die reine Essenz von Verbundenheit, befreit von Zeit und der Last, jemand Bestimmtes sein zu müssen.

Die Begegnung mit der Frau transformiert sich vom Persönlichen zum Archetypischen. Dies ist keine sexuelle Fantasie, sondern die Erfahrung der Integration aller abgespaltenen Anteile. Die Dualität von männlich und weiblich, Symbol für alle Gegensatzpaare, löst sich auf. Der Ballon-Vergleich ist zentral, denn die Form ist nur eine temporäre Grenze, die eine künstliche Trennung zwischen Innen und Außen aufrechterhält. Wenn diese Grenze fällt, wird deutlich, dass es nie eine echte Trennung gab. Der Tropfen war immer schon Ozean. Das allmähliche Weißwerden des Bildes wird zu einer meditativen Reise in die Nichtdualität, in der alle Kontraste verschwimmen.

Mit dem Übergang ins weiße Licht endet jede Unterscheidung zwischen Himmel und Erde, Selbst und Anderem, Form und Formlosigkeit. Das weiße Licht, in dem alle Farben vereint sind, verweist auf das Paradoxon, dass Vollständigkeit alle Möglichkeiten enthält, ohne sich in ihnen zu verlieren. Die ironische Schlusspointe dekonstruiert sanft jede anthropomorphe Jenseitsvorstellung. Der Himmel war nie ein Ort, sondern immer schon der Zustand vollkommener Integration. Dies ist eine Geschichte über die Überwindung von Traumata, die Heilung aller Spaltungen und das Loslassen der Illusion von Getrenntheit. Es ist eine Reise nach Hause, nicht zu einem Ort, sondern zur ursprünglichen, ungeteilten Natur des Bewusstseins selbst.

 
 
 

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