Der gemeinsame Weg
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 7 Min. Lesezeit
(Musik: With a little help from my friends, Joe Cocker)
„Na, komm schon!”, rief sie ihm zu, während sie über den Waldweg gingen. Sie trug ihre neue Jogginghose und war froh, endlich wieder an der frischen Luft zu sein. Es roch herrlich im Wald und die Natur im Frühling spiegelte sich in ihrem Magen wider. Alles blühte auf, die Welt erblickte erneut das Leben, das überall sprießen wollte. Blumen, Bienen und die Vögel am Himmel, sie könnte gerade alle umarmen. Sie atmete tief ein und ließ einen Jauchzer von sich. Mit ausgebreiteten Armen drehte sie sich im Kreis und fühlte, wie das Leben durch ihren Körper strömte. „Hier bin ich!”, rief sie ihrem Freund zu. Er war nicht so schnell wie sie, das wusste sie schon. Und so lief sie immer einige hundert Meter voraus. Wenn sie ihn nicht mehr sah, lief sie wieder zurück. Sie fühlte sich wie ein junger Hund, der einem imaginären Ball hinterherjagt und, sobald er ihn geschnappt hat, wieder zu seinem Herrchen oder Frauchen zurückläuft. Sie lief zu ihm, berührte seine Nase mit ihrer, ließ die Schultern fallen und schaute, als wäre sie tatsächlich ein Hund. Mit halb bellender Stimme und den Kopf drehend flehte sie ihn ironisch an: „Wirf nochmal den Ball. Einmal noch. Los, wirf ihn!" Danach kniete sie sich vor ihm nieder, hechelte und wartete gespannt auf seine nächste Bewegung. Er verdrehte die Augen, spielte aber mit. "Na gut. Los, hol das Balli!" Er holte weit aus und schoss den nicht vorhandenen Ball wieder nach vorne. Sie bellte und rannte vergnügt los. Er lächelte und folgte ihr in seinem eigenen Tempo.
Sie wussten beide, dass er sich lieber auf geraden Straßen bewegte. Auch dort war er nicht so schnell wie sie. Sie lief einfach die doppelte Strecke, indem sie vor und zurück und manchmal einfach mitten in den Wald lief. So konnten sie ihre gemeinsamen Ausflüge zusammen unternehmen. Am Anfang ihrer Beziehung hatten sie oft Diskussionen. Warum er nicht einmal wandern gehen wollte. Warum er immer auf geraden Straßen gehen wollte. Warum er nicht auch einmal trainieren wollte. Und umgekehrt. Warum sie immer wandern gehen wollte. Warum sie unbedingt durch den Wald gehen wollte. Warum sie unbedingt trainieren musste. Irgendwann endeten sie damit, gemeinsam auf Straßen durch den Wald zu spazieren. Der kleinste gemeinsame Nenner, der entsteht, wenn man nicht über den Tellerrand blicken will. „Ausreichend zufrieden“, hat sie ihre Beziehung einmal mit ironischem Blick genannt.
Als sie das erste Restaurant erreichten, sprang sie die Stufen hinauf, blickte auf die Tafel vor der Tür und las die darauf beschriebenen Köstlichkeiten. „Hier gibt es sogar Germknödel mit Vanillesauce!”, rief sie ihm von oben zu. Sie wollte schon hineingehen, als sie bemerkte, dass er zögerte. Wieder einmal. Der lustige junge Hund verlor augenblicklich seine Energie und begann zu winseln. „Ach, komm schon, gehen wir doch hier hinein.” Aber sie wusste eigentlich schon, dass er nicht wollte. Irgendetwas schien ihm an diesem Restaurant nicht zu gefallen. Wieder einmal konnte sie nicht das tun, was sie eigentlich wollte. Etwas enttäuscht ging sie die Stufen zu ihm hinunter. Ihren Gefühlen ausweichend zeigte er auf das Restaurant daneben. Na gut, meinte sie, ihre Zufriedenheit wieder suchend, und lief zum andere Restaurant. „Aber Germknödel haben die hier nicht”, rief sie ihm schon von weitem zu. Immerhin ließ er sich darauf ein. Um einer Diskussion vorzubeugen, setzte sie sich auf die Bank, da sie schon wusste, dass er sich niemals auf eine Bank setzen würde. „Dafür möchte ich als Nachtisch eine Crème brûlée“, verkündete sie enthusiastisch. Kurz darauf genoss sie jeden einzelnen Löffel und unterstrich ihren Genuss mit geschlossenen Augen und zufriedenen Seufzern.
Zurück beim Auto setzte sie sich auf den Fahrersitz und wartete, bis er sich hineinsetzte, was immer etwas länger dauerte. Er selbst hatte nie den Führerschein gemacht. Dann fuhren sie in ihre schöne Wohnung zurück. Sie hatten fast ein Jahr gesucht, bis sie endlich das Richtige gefunden hatten. Er wollte immer im Erdgeschoss leben, sie hingegen immer in einem oberen Stockwerk. Sie einigten sich darauf, eine Dachgeschosswohnung zu nehmen, aber er bestand auf einen Aufzug, den sie nicht benötigt hätte. Auch bei der Innenarchitektur konnten sie immer Kompromisse finden. So wollte er beispielsweise keinen Teppichboden, sondern Parkett haben. Das konnte sie akzeptieren, solange sie das Holz aussuchen durfte. Auch ein niedrigerer Tisch war ihm wichtig. Es sei für ihn angenehmer, hatte er damals gesagt. Sie vermutete, dass ihm der japanische Stil gefiel. Immerhin sah er sich gerne Mangas an und in Japan sitzt man oft direkt auf dem Boden. Aber das wäre ihr dann doch zu viel gewesen. Dafür durfte sie sich die Stühle aussuchen; die waren für ihn wiederum nicht wichtig.
„Ich geh kurz duschen“, sagte sie und fragte ihn nicht einmal, ob er mitkommen wolle. Auch das war eine seiner Eigenheiten. Er ging eigentlich immer nur in die Badewanne. Frisch geduscht und noch mit nassen Haaren setzte sie sich an den Tisch, auf dem hunderte Fotos verstreut lagen. In zwei Wochen war ihr fünfjähriges Paar-Jubiläum, für das sie endlich einmal ein Album erstellen wollte. Während sie im Hintergrund gemütliche Musik hörte, ging sie konzentriert die ausgedruckten Fotos durch. Sie hatten schon einige Reisen gemeinsam unternommen und sie wollte die schönsten Bilder ganz klassisch in ein Fotoalbum kleben. Auf den Fotos wirkte sie immer so groß und schlank, was ihr gefiel. Doch irgendetwas war eigenartig. Als sie die Paarfotos durchging, fiel ihr auf, dass ihr Freund oft nicht vollständig abgebildet war. Anfangs vermutete sie, dass die Personen, die die Fotos gemacht hatten, die Kamera nie richtig gehalten hatten. Aber alle Fotos wirkten eigenartig. „Schatz”, fragte sie ihn. „Willst du eigentlich nie mit mir auf Fotos abgebildet sein?” Er kam zu ihr und gemeinsam schauten sie sich die Fotos an. Er sah, was sie meinte. Bei den meisten Fotos war er nicht vollständig zu sehen. „Dann müssen wir neue Paarfotos machen“, meinte er ruhig. Und schon war ihr Grübeln verflogen – es war eine großartige Idee.
In der Woche darauf fanden sie sich in einem Fotostudio wieder. Der Fotograf setzte sie mit einem Berg als Hintergrund in Szene. „Das finde ich großartig“, schmachtete sie, während sie in die Hände klatschte und ergänzte "Er möchte nämlich nie wandern gehen." Der Fotograf wirkte verblüfft. „Wandern?" „Ja, wissen Sie, ich möchte immer wandern gehen, aber er ist eher der Typ für Straßen.“ "Das kann ich nachvollziehen", meinte der Fotograf mitfühlend und schoss die nächsten Fotos. Als die beiden die Porträts betrachteten, wirkten sie enttäuscht. „Er ist schon wieder so weit unten im Foto abgebildet und ich wirke so groß. Wir würden uns gerne beide auf Augenhöhe treffen.“ "Wenn Ihnen das wichtig ist, setzen Sie sich einfach neben ihn“, meinte der Fotograf zu der jungen Frau. Er war sich nicht sicher, ob sie ein Spiel mit ihm spielen wollten. „Ja, das kann ich machen”, rief die Frau und schnappte sich den nächsten Stuhl. Und siehe da, auf diesen Fotos waren sie tatsächlich wie gewünscht abgebildet. „Wir könnten auch einmal in die Luft springen und beide eine Fünf mit den Händen zeigen, weil wir seit fünf Jahren zusammen sind”, jauchzte sie inspiriert und machte die ersten Luftsprünge. Der Fotograf sah den Mann mitfühlend an und meinte: „Ich habe das Gefühl, dass Ihr Freund davon weniger begeistert ist.” Sie landete auf dem Boden der Realität und blickte ihn an. Natürlich wollte er nicht springen. Wieder einmal wollte er etwas nicht. „Schatz, nur einmal“, bettelte sie. "Du willst nie wandern gehen, nie Rad fahren, nie in die Sauna gehen. Kannst du nicht wenigstens einmal mit mir in die Luft springen? Zu unserem fünfjährigen Jubiläum?“ Ihr Freund blickte zu Boden. Er hätte ihr den Wunsch so gerne erfüllt, aber er wollte einfach nicht. Alles in ihm wehrte sich dagegen, auch wenn er ihr gerne eine Freude gemacht hätte. „Weißt du, ich mache einfach nicht so gerne Sport wie du“, meinte er verlegen. Sie verdrehte die Augen, setzte sich auf den Stuhl und begann leise zu weinen. „Nie willst du etwas mit mir machen”, weinte sie. "Ich weiß nicht einmal mehr, ob du mich wirklich liebst.“ Ihr Freund kam ihr näher und legte seine Hand auf ihre Schultern. „Ich liebe dich”, sagte er leise. "Ich möchte nur einfach nicht in die Luft springen.“
Der Fotograf ging einige Schritte zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Er setzte sich auf eines der weichen Sitzpolster und betrachtete das Paar. Im Licht der Scheinwerfer wirkten sie auf eine besondere Art harmonisch, gerade weil sie ihren gemeinsamen Schatten nicht sahen. Es war ein berührendes Bild. Der Mann streichelte zärtlich ihre Schulter, während sie ihr weinendes Gesicht in ihre Hände legte. Etwas später fanden sie einen Kompromiss und machten weitere Fotos. Und doch wirkten sie als Paar absurd. Es war, als wollten sie beide nicht wahrhaben, dass er im Rollstuhl saß.
Perspektive
Die Geschichte erzählt von zwei Menschen, die sich lieben und doch in zwei völlig unterschiedlichen Körperwirklichkeiten leben. Auf der Oberfläche wirkt alles unspektakulär. Erst am Ende, wenn der Rollstuhl sichtbar wird, kippt der Blick. Plötzlich lassen sich alle vorangegangenen Szenen neu lesen. Sein langsames Gehen auf geraden Wegen, seine Abneigung gegen Wandern, Radfahren, Springen, seine Vorliebe für niedrige Tische. Es sind leise Spuren einer Grenze, die beide kennen und doch gemeinsam umspielen. Sie geht von ihren Impulsen weg, er bleibt in seinen Grenzen, und beide nennen das wir. Die Fotos entlarven diese Konstruktion. Er fehlt halb, rutscht nach unten. Es ist das Bild einer Beziehung, in der einer körperlich tiefer sitzt und der andere unbewusst erwartet, er möge einfach mitkommen.
Das Fotostudio legt diese Dynamik unbarmherzig offen. Damit beide gleich groß erscheinen, muss sie sich hinsetzen. Nicht er steht auf, sondern sie kommt herunter. Ihr Vorschlag, gemeinsam zu springen, ist in der Tiefe der Wunsch, die Schwerkraft aufzuheben. Nicht nur die der Erde, auch die der Realität. Ein gemeinsamer Luftsprung wäre das Bild, das sie sich von ihrer Beziehung wünscht. Dass er dieses Bild nicht erfüllt, ist eine Grenzziehung. Sein Inneres will nicht länger so tun, als wäre das anders. Der Fotograf wird zum Zeugen. Er sieht ihren gemeinsamen Schatten, den die beiden selbst nicht wahrnehmen.
Die Geschichte ist eine sanfte, aber eindringliche Kritik an oberflächlicher Integration. Sie zeigt, wie beide versuchen, eine normale Beziehung zu leben, indem sie die Behinderung in einen unsichtbaren Schatten verschieben. Diese Art der Normalität braucht Ehrlichkeit, Kommunikation und die Bereitschaft, unangenehme Realitäten zu durchleuchten. Sie flüchtet nach vorne in Aktivität, er flüchtet in höfliche Neins. Der Rollstuhl steht für alles, was sie gemeinsam vermeiden. Die Trauer darüber, was nicht geht, die Angst, dass Liebe nicht reicht, wenn die Körper so verschieden sind. Die Tragik liegt darin, dass beide aus Liebe verleugnen. Doch indem sie die Realität ausblenden, blenden sie auch die Möglichkeit aus, eine echte Verbindung zu finden. Der imaginäre Ball ist das perfekte Bild für ihre Beziehung. Etwas, das nicht existiert, dem sie aber beide hinterherlaufen, als wäre es real.

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