Der gefallene Engel
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 7 Min. Lesezeit
(Musik: Henry come on, Lana del Rey)
Henry legte sein Gesicht in seine Hände und weinte zum ersten Mal. Die Tränen flossen aus seinen Augen und durch seine Finger hindurch. Ein Tropfen nach dem anderen bildete sich auf seiner Hose. Sie zerbarsten wie die Bomben, die draußen zu hören waren. Anfangs kamen sie noch langsam, doch dann öffnete es sich wie ein Staudamm. Der starke, durchtrainierte Mann saß auf seiner Militärpritsche und weinte. Sein Körper schüttelte sich. Er begann zu schluchzen. Seine Hände waren bereits nass. Der ganze Schmerz, den er so lange hinuntergedrückt hatte, kam nun von tief innen aus ihm heraus.
Das Bild seiner Frau und seines kleinen Sohnes schoss ihm in den Kopf. Sie hatte an diesem Morgen roten Lippenstift aufgetragen und ihre langen braunen Haare wellig geformt. Sie hatte ein Kleid mit Rüschen angezogen. Es war ein besonderer Tag. Sie war stolz auf ihn. Er ist einer derjenigen, die ihr Land beschützen.
So wie er sie damals beschützt hatte. Als ihr Vater auf sie einschlug. Sie konnte sich nur noch schemenhaft daran erinnern. Sie fühlte den Schmerz in ihrem Gesicht. Im Hintergrund hörte sie die Schreie ihrer Mutter. Doch vergeblich. Ihr Vater war stark. Immer wenn er getrunken hatte, war er nicht mehr zurechnungsfähig. Wie oft hatte sie sich mit ihrer Mutter im Kinderzimmer versteckt, wenn er wieder nach Hause kam. Wie oft er dann gegen die Tür hämmerte und sie sich zusammenkauerten und beteten, dass die Tür halten würde. Wie oft die Tür sie beschützt hatte. Doch diesmal zerbarst sie unter seiner rohen Gewalt. „Ihr habt mein Leben ruiniert!”, schrie er wieder und kämpfte gegen die Windmühlen seiner eigenen kindlichen Erinnerung. Ein Alkoholiker ohne Arbeit, mit tief in Hass getränkten Erinnerungen, für die er ein Ventil suchte. Zunächst kanalisierte er seine Wut auf seine Frau. Als seine Tochter ihn davon abhalten wollte, ging er auch auf sie los. Es war so laut, ihr Körper wurde so wild durch den Raum geschleudert. Ihre Hände versuchten, sich zu wehren und den Körper zu beschützen, aber die väterliche Gewalt rollte wie ein Panzer über die Barrikaden. Doch an diesem Abend kam plötzlich kein weiterer Schlag mehr. Sie hörte eine dumpfe Erschütterung auf dem Holzboden. Und dann einen Knall nach dem anderen. Ihr Vater lag am Boden, ein junger Mann kniete auf ihm. Sie sah nur den starken, durchtrainierten Rücken, der die Arme nach hinten zog und sie wieder und wieder nach unten schlug. Wie ein Engel, ging ihr durch den Kopf. Ein Engel, der das Böse zerstört. Ihr zerschundener Körper wurde behutsam aufgehoben. Neben ihr das aufgelöste Weinen ihrer Mutter. Sie blickte zurück in das Zimmer, in dem ihr Vater zerstört auf dem Boden kauerte. Mit jedem Schritt, den ihr Engel die Treppe hinunterging, verschwand der brutale Aggressor aus ihrem Blickfeld..
Als sie ihm bei der Hochzeit das Ja-Wort schenkte, strahlte sie ihn an. Es war der Himmel auf Erden. Sie war frei, sicher und beschützt. Niemand würde ihr je wieder etwas antun. Er hob sie hoch in die Luft und ließ sie langsam zu sich hinunter, um sie zu küssen. Danach ging alles sehr schnell: Sie zogen zusammen, und plötzlich lag ihr gemeinsamer Sohn auf ihrer Brust. Ihr Mann lag neben ihr, der Fels in der Brandung. Es war ihr klar, dass er irgendwann in den Einsatz musste. Und sie war stolz auf ihn. So, wie er ihr half, sollte er auch anderen helfen. Das ist das Leben von Soldatenfrauen.
Er nahm seinen kleinen Sohn zu sich hinauf und drückte ihn liebevoll. Er wollte nicht gehen, wusste aber, dass er es für sie tat. Für sie tat er alles, sogar in den Krieg ziehen. „Manchmal muss man gehen, um das zu beschützen, was einem am wichtigsten ist“, flüsterte er ihr leise ins Ohr. Sie unterdrückte ihre Tränen. Sie wollte es ihm nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon war. Er tat es für sie. „Ich liebe dich, für immer“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie atmeten beide tief ein und aus.
Er hätte sich nie vorstellen können, was ihn erwarten würde. Die Bombeneinschläge waren erschreckend laut. Die Erschütterungen gingen ihm durch Mark und Bein. Sein ganzer Körper wurde geschüttelt. Und dann das gleißende Licht. Heller als ein Blitz, der selbst durch geschlossene Augen fuhr. Es gab keine Kontrolle mehr, keinen Halt. Wie oft er sich wieder aufraffte und sein Gewehr gegen die Schulter drückte. Wie oft er wieder abdrückte, in den Rauch, in dem das Böse wartete. Taub, blind vor Wut, ohnmächtig in den unbarmherzigen Feldern der Zerstörung. Doch dafür hatte er trainiert. Dafür war er da. Das war seine Rolle. Der Beschützer. Der Kämpfer. Und wieder und wieder stand er auf. Er riskierte sein Leben für das der anderen. Und er war von Sinn erfüllt. Denn tief in seinem Herzen wärmte ihn seine tiefe Liebe. „Ich mache das für euch”, sagte er sich immer wieder. Jeden Morgen aufs Neue. Jeden Abend. Es war schon über ein Jahr her, dass er seine Familie das letzte Mal gesehen hatte. Und heute kam wieder die Post. Endlich.
„Es tut mir so leid“, begann er den Brief mit zittrigen Händen zu lesen. „Es tut mir so unendlich leid“, schrieb sie ihm. Den Rest des Briefes nahm er nicht mehr bewusst wahr. Die Worte zerflossen in tiefem Schmerz. Nur noch Fetzen von Wörtern klangen in ihm nach. Mein Vater... wieder geschlagen ... ich konnte nicht anders ... so lange her ... wusste nicht mehr ... lebst du überhaupt noch? ... so lange gewartet ... gehofft ... wusste nicht weiter ... unser Sohn ... tiefe Angst ... konnte nicht anders ... musste ihn schützen ... wieder da ... er hat mir geholfen ... wie du damals ... es tut mir so schrecklich leid ... konnte nicht anders ... werde dich immer lieben ... aber brauchte jemanden ... kein Engel war mehr da ... wieder geschlagen ... er hat uns beschützt ... wie du damals ... wir sind zu ihm gezogen ... er ist gut zu uns ... beschützt uns ... es tut mir so leid ... konnte nicht anders ... liebe dich noch immer ... aber du bist nicht da ... ich brauchte jemanden ... es tut mir leid ... aber jetzt ist unser Sohn wieder sicher ... das willst du doch auch ... danke für alles ... ich schicke dir Küsse ... bitte verzeihe mir ...
Der Soldat war stark und trainiert. Bomben explodierten neben ihm und er überlebte. Es wurde auf ihn geschossen und er überlebte. Seine Ohren wurden taub, seine Augen wurden blind, aber er ging weiter. Er stand jeden Tag wieder auf. So hart er nach außen hin war, so verwundbar war er im Inneren. Er hatte sie beschützt. Er hatte es mit der ganzen Welt aufgenommen. Doch nur mit der inneren Wärme, die ihm Halt gegeben hatte. Nichts hätte ihn von außen treffen können, aber im Inneren war er offen. Er hatte ein offenes Herz. Und genau das wurde mit einem gewaltigen Schlag getroffen. Der heiße Schmerz drang durch das Herz, formte sich zu Tränen und riss wie ein zerbrochener Staudamm alles mit. Der große, starke Mann, zerbrochen. Nicht durch eine Bombe, nicht durch eine Kugel. Durch ein Stück Papier mit feiner Schrift.
Er weinte zum ersten Mal in seinem Leben. Sein Körper schüttelte sich. Die Bombe explodierte in seinem Herzen und zerfetzte es in tausend Stücke. Und plötzlich wurde alles still. Die Tränen kamen nicht mehr. Das Schluchzen war nicht mehr zu hören. Er nahm den Brief und steckte ihn in sein Hemd, auf der Seite seines Herzens, stand auf und ging hinaus.
Später wurde erzählt, dass er wie versteinert das Lager verließ. Er ging völlig leblos zurück in das Schlachtfeld. Seine Kameraden schrien ihm noch hinterher. Er solle stehenbleiben. Er solle nicht lebensmüde sein. Er hatte weder einen Helm auf dem Kopf noch ein Gewehr in der Hand. Er ging einfach in den Rauch hinein. Einige Tage später wurde sein zerfetzter Körper gefunden. Über ein Jahr lang hatte ihm keine Kugel etwas anhaben können. „Als ob er von innen explodiert sei”, sagte einer der Feldärzte. Ein gefallener Engel. Ein Engel, dessen Aufgabe es war, zu beschützen. Ein Engel, ein Retter in der Not. Ein Engel, der alles macht, um seine Familie zu beschützen. Doch welchen Sinn hat ein Engel, wenn er niemanden mehr beschützen kann? Das ist das Tragische an Engeln. Niemand beschützt sie. Nicht einmal sie selbst.
Perspektive
Diese Geschichte erzählt von einem Menschen, dessen gesamte Existenz auf einem einzigen Moment gründet. Als Henry damals den gewalttätigen Vater seiner späteren Frau niederschlägt, wird er zu ihrer mythischen Gestalt, zum Engel, der das Böse zerstört. In diesem Augenblick entsteht ein unsichtbares Versprechen. Sie findet in ihm den Fels, an dem sie sich festhalten kann. Er findet in ihrer Hilflosigkeit den Sinn seiner Stärke. Doch dieser Sinn ist gefährlich, denn er liegt nicht in ihm selbst, sondern in ihrer Bedürftigkeit. Als er in den Krieg zieht, können ihm die Bomben und Kugeln nichts anhaben, weil die äußere Härte ihm Halt gibt. Doch während er draußen kämpft, wiederholt sich in der Heimat das alte Muster. Ihre Bedrohung und Angst kehren zurück, und sie braucht einen Retter. Nur dass dieser Retter diesmal nicht Henry ist.
Der Brief ist die Auslöschung seines gesamten Lebensentwurfs. Die Tränen, die zum ersten Mal in seinem Leben fließen, kommen wie ein Staudamm, der jahrzehntelang gehalten hat und nun zerbricht. All die Jahre, in denen er seine eigene Verletzlichkeit hinunterschluckte, brechen aus ihm heraus. Die Bomben draußen zerbersten wie seine Tränen auf der Hose, doch die wahre Explosion geschieht in seinem Inneren. Der Soldat, der gegen Panzer und Feuer bestand, wird von einem Stück Papier mit feiner Schrift zerstört. Der Verlust seines Sinns, seiner inneren Wärme reißt ihn in Stücke. Er ist nicht länger der Engel, der beschützt, sondern nur noch ein Körper, der mechanisch weiterläuft, während sein Inneres bereits verschwunden ist.
Der Gang zurück ins Schlachtfeld ist die logische Konsequenz eines Lebens, das nie auf eigenem Fundament stand. Er verlässt das Lager ohne Helm, ohne Waffe, versteinert und leblos, weil die innere Festung bereits gefallen ist. Er geht einfach in den Rauch hinein, dorthin, wo die äußere Zerstörung die innere vollenden kann. Als sein Körper Tage später gefunden wird, sagt der Feldarzt, es sehe aus, als sei er von innen explodiert. Der Tod kam nicht von außen, sondern aus dem Zerbrechen einer Identität, die niemals lernte, sich selbst zu schützen. Ein Engel, dessen einziger Sinn darin bestand, andere zu retten, findet keinen Grund mehr zu existieren, wenn niemand mehr da ist, der gerettet werden muss. Die Tragik liegt darin, dass diejenigen, die ihr Leben damit verbringen, anderen Halt zu geben, oft die Zerbrechlichsten sind. Niemand beschützt die Beschützer, nicht einmal sie selbst.

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