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Das Ziel

Konzentriert blickte er zu Boden. Er spürte die glühende Hitze auf seinem Rücken. Seine Hände ruhten auf dem Boden, neben ihm verliefen die Linien seiner Laufspur. Die kleinen roten Sandkügelchen lagen still und würden auch nach dem Start noch an derselben Stelle verharren. Aber rundherum toste es. Zehntausende Menschen waren gekommen, um den 400-Meter-Sprint der Olympischen Spiele zu erleben. In dem heißen Land stand die Menge auf den Beinen, jubelte, applaudierte und skandierte Parolen für ihre Läufer. Er atmete tief und gleichmäßig ein und aus. Seine Lungen waren trainiert, sein Herz jung und stark. Jede Muskelfaser wusste, was sie nach dem Startschuss zu tun hatte. Es würde sein letzter Lauf sein, der über alles entscheiden würde. All die Jahre des Trainings, all die Entbehrungen – er hatte all das nur auf sich genommen, um diesen einen Traum wahr werden zu lassen. „Ich muss es schaffen“, ging es ihm durch den Kopf, und er spürte all die Menschen, die ihn auf seinem harten Weg begleitet hatten. Sein alter Coach, der ihn immer wieder antrieb und schon seit seiner Jugend gespürt hatte, was in ihm steckte. Seine Eltern, die immer stolz auf ihren Jungen gewesen waren. Er, der schon als Kind in ihrem Dorf sportlich herausgestochen war. „Aus dir wird einmal etwas ganz Großes“, hörte er seinen Vater direkt hinter sich flüstern. Seine Frau, die er viel zu wenig sah, um sich voll auf das Laufen konzentrieren zu können. Und sein kleiner Sohn, der neben der Laufstrecke sitzen würde. Er trug ein viel zu großes T-Shirt, auf dem sein Vater mit der zukünftigen Goldmedaille abgebildet war.

Heute war der Tag, an dem alles entschieden werden würde. Heute. Jetzt. Da merkte er, wie die Welt um ihn herum verstummte und seine ganze Aufmerksamkeit sich auf diesen einen Moment richtete. Plötzlich ließ sein Körper wie von selbst all seine Energie frei, noch bevor er den Startschuss bewusst hören konnte. Seine Beine stießen sich kraftvoll von der Startrampe ab, seine Armmuskeln zogen seinen Körper in die Höhe und er flog regelrecht auf die Laufbahn. Sein Körper wusste, was zu tun war. Mit all seiner Kraft drückte er sich mit jedem Schritt explosiv vom Boden weg, landete weich wie eine Raubkatze und lenkte seine Energie gleich darauf wieder auf den nächsten Schritt. Er spürte, dass es sein schnellster Lauf werden würde. Wie eine nicht aufzuhaltende Lokomotive stieß er in einem schnellen Rhythmus die Luft aus und sog sie wieder ein. Seine Arme zogen ihn wie eine Pleuelstange immer weiter. Sein Blick war nach vorne gerichtet, während die Menge wie im Rausch jubelte, schrie und klatschte.

Und schon sah er das Ziel vor Augen. Durch die Schweißtropfen, die ihm in die Augen flossen, war es leicht verschwommen, aber so klar wie nie zuvor. Einige Zentimeter vor seinen Mitläufern pulsierte sein Körper voller Energie nach vorne. Kurz vor dem Ziel sah er seinen Sohn, der ihm die Daumen hielt und ihn anblickte. Doch plötzlich spürte er, wie etwas seinen Körper durchzuckte. In seinen Augenwinkeln bemerkte er etwas Brennendes neben seinem Sohn. Das Bild schoss in sein Gehirn, ohne dass er es begreifen konnte. Er verstand noch nicht, dass jemand aus dem Publikum einen Feuerwerkskörper in seine Richtung geschossen hatte. Er sah nur die brennende Lunte, die leise zischend in die rote Stange hineinkroch. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm, als würde man auf den Knall warten und sich darauf vorbereiten. Mit einer kurzen Augenbewegung blickte der Läufer zu seinem Sohn, der verwundert nach dem Knallkörper griff.

Der Athlet hörte sich selbst schreien. Sein „Nein“ durchdrang die tosende Menge und diente seinem Körper als neuer Startschuss. Mit panischen Laufschritten verließ er seine Bahn und rannte zu seinem Sohn. Nichts konnte ihn aufhalten. Die Bruchteile einer Sekunde schienen sich in qualvolle Ewigkeiten zu verlangsamen. Wie in Zeitlupe sprang er an den Kameramännern und Securities vorbei zu seinem Sohn und riss ihm den Feuerwerkskörper aus der Hand. Während sein Körper noch über den Boden rollte, spürte er die Detonation in seiner Hand, die ihm die Finger wegriss. Das pulsierende Blut strömte aus seinem Körper. Er hörte sich schreien, als er am Boden liegend wieder zu sich kam.

Das Publikum blickte entsetzt auf ihn, während die anderen Läufer das Ziel erreichten. Er richtete sich taumelnd auf, hörte einen lauten Ton in seinem Ohr, war verwirrt und suchte mit seinen Blicken seinen Sohn. Er stürmte an den Securities vorbei, die auf ihn zustürzten, und lief zu seinem Sohn. Endlich erreichte er ihn, nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest, während das Blut des Vaters langsam über den Rücken des Kindes lief. Zitternd und weinend umschloss er ihn. Das gesamte Stadion war wie erstarrt. Selbst die anderen Läufer blickten erschrocken auf das Geschehen. Nur die Sanitäter liefen herbei, um zu helfen. Die Securities versuchten, schaulustige Fotografen von dem Kind und dem Vater fernzuhalten. Er stand mit seinem Sohn im Arm auf. Langsam und tief atmend. Tränen, durchsetzt von Schweiß, flossen über sein Gesicht. Er bemerkte nicht, wie die Sanitäter begannen, seine Wunde zu verarzten. Er stand nur da, ganz ruhig, seinen Sohn haltend. Weit im Hintergrund hörte er die Menschenmenge, die den Vorfall schockiert beobachtet hatte. Nach einer Phase der Totenstille begann das Rauschen eines Applauses, das langsam immer lauter wurde. Es war ganz anders als zuvor. Er klang unterstützend, erleichternd und liebevoll. Schließlich applaudierten alle im Stadion dem Athleten. Sie jubelten dem Menschen zu, der sich für das richtige Ziel entschieden hatte.

 

Perspektive

„Das Ziel“ entfaltet eine existenzielle Wendung. Der wahre Triumph liegt nicht im Erreichen unserer Ziele, sondern im Moment, in dem wir sie für etwas Wichtigeres opfern. Der Text konstruiert bewusst eine Kollision zwischen äußerem Erfolg und innerer Wahrheit. Die Laufbahn steht symbolisch für die lineare Verfolgung gesellschaftlicher Erwartungen: Disziplin, Härte, Entbehrung und der Traum vom Gold. Der Feuerwerkskörper symbolisiert das Leben selbst. Er ist unberechenbar, gefährlich und löst eine plötzliche Neuordnung der Prioritäten aus. In dem Moment, in dem der Läufer seine Bahn verlässt, vollzieht sich eine radikale Wende – ein physischer Akt, der eine metaphysische Erkenntnis offenbart.

Der Protagonist durchläuft eine fundamentale Wandlung seiner Beziehung zu sich selbst. Jahrelang lebte er im Modus der Selbstüberwindung, getrieben von Erwartungen und dem inneren Zwang, nur durch Leistung wertvoll zu sein. Die Explosion, die ihm die Finger entreißt, ist mehr als ein physischer Verlust. Sie ist das Opfer des Werkzeugs seines Willens, der Hände, mit denen er das Leben bisher kontrollieren wollte. In diesem Opfer liegt eine Transformation. Er verliert das, was ihm Macht und Identität gab, und gewinnt das, was tiefer ist – Verbindung, Liebe und Menschlichkeit. Das Blut, das über seinen Sohn rinnt, wird zum Symbol eines neuen Lebensstroms, der nicht mehr aus Ehrgeiz, sondern aus Hingabe fließt.

Am Ende stehen Stille und ein neuer Applaus. Nicht für den Lauf, nicht für die Medaille, sondern für die Entscheidung. Für den Moment, in dem ein Mensch sich selbst überschreitet, nicht, um zu siegen, sondern um zu sein. Das Publikum erkennt intuitiv den wahren Sieg. Den Übergang vom Ego zum Selbst, vom Krieger zum Vater, vom Jäger zum Hüter. „Das Ziel“ ist keine Sportgeschichte, sondern eine Parabel über das Erwachen aus der Illusion des Erfolgs. Der Läufer erreicht nicht das Ziel, das er anstrebte, aber er erreicht das, was jenseits aller Ziele liegt, das Menschsein selbst.

 
 
 

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