top of page

Das umgedrehte Spiel

Sie wusste schon lange, dass er sie betrügt. Am Anfang waren es nur vage Vermutungen, erste Anzeichen und ein intuitives Gefühl, dass er sich anders als sonst verhält. Dann sah sie es beiläufig auf seinem Computer. Den Chat, in dem er sich gerade das nächste Treffen ausgemacht hatte. Er hatte ihr an diesem Abend noch gesagt, er treffe sich mit einem Freund. Aber er hatte es zu unauffällig gesagt. Mit so viel Bedacht, dass es nicht auffällig klang, sondern zu unauffällig wurde. Sie spürte die leeren Worte, sah das Blinzeln in seinen Augen und das bewusst entspannte Gesicht, das zeigen sollte, dass alles in Ordnung war.

Eigentlich erwartete sie, dass sie geschockt sein würde. Entsetzt, enttäuscht, desillusioniert von der gemeinsamen großen Liebe. Sie hatte ähnliche Geschichten von so vielen ihrer Freundinnen gehört. Jede hatte ihre Geschichte, ihre Traumata, aber letztendlich saßen sie an diesen Abenden mit verheulten Augen in einer Bar, tranken zu viel und stellten die Frage, ob der Barkeeper heute wohl noch zu haben wäre.

Doch bei ihr war es anders. Sie las die Nachrichten und fühlte sich in ihrer Annahme bestätigt. Irgendwie war sie stolz auf sich, dass sie ihrer Intuition vertrauen konnte. Sie fühlte sich fast ein wenig gelangweilt, als sie die letzten Chat-Nachrichten durchsah. „So klassisch“, sagte sie halblaut und verächtlich. Genau wie bei allen anderen Paaren. Irgendwie hatte sie gehofft, anders zu sein als ihre Freundinnen. Sie verspürte keinerlei Drang, in die nächste Bar zu gehen und wieder einen solchen Abend zu erleben. Und sie wusste, dass sie alles verlieren würde. Den ganzen Wohlstand, die teure Wohnung in der Innenstadt, ihren aufgebauten Ruhm. Das wollte sie nicht einfach aufgeben. Sie wollte nicht zusätzlich zu ihrem Mann auch noch ihren Reichtum und ihre Würde verlieren. Nicht sie.

Als er nach Hause kam, fragte sie so unauffällig wie möglich, wie sein Abend gewesen sei. Natürlich hatte sie bemerkt, dass er geduscht hatte. Da lagen die Haare immer etwas anders als sonst. Er wirkte entspannter als zuvor, aber diesmal versuchte er nicht zu entspannt auszusehen. „Ja, ganz nett“, antwortete er beiläufig auf ihre Frage. „Jakob hat gemeint, dass er einen neuen Kredit für sein Haus braucht. Sie wollen noch eine Garage dazu bauen.“ Und genau dieser Moment stellte für sie eine Wendung dar. „Das ist ja interessant. Was genau wollen sie denn machen?“, entgegnete sie ihm. „So eine Doppelgarage mit elektrischer Öffnung“, versuchte er, das Gespräch zu einem Abschluss zu bringen. „Wirklich?“, setzte sie interessiert den Dialog fort und fragte weiter. „Hat dann jeder von ihnen eine eigene Fernsteuerung?“ „Geht das über eine Handy-App?” „Für welche Firma haben Sie sich entschieden?“ „Wie viel kostet sie insgesamt?” Jedes Mal, wenn er das Gespräch zu einem Ende brachte, stellte sie eine weitere Frage. Sie spürte, dass er nicht antworten wollte. Sie wusste, dass er sich nicht mit Jakob getroffen hatte. Er musste ständig neue Geschichten erfinden und sich Informationen ausdenken. Da er so erpicht darauf war, dass sie den Betrug nicht bemerkte, wollte er möglichst realistisch antworten, damit sie ihm Glauben schenken würde. Sie sah, wie angespannt er war. Er schwitzte regelrecht, was ihr gefiel.

Als er neben ihr im Bett einschlief, recherchierte sie, inwieweit seine Antworten der Realität entsprachen. Teilweise hatte er eine gute Geschichte erfunden, die wahr sein könnte. Scheinbar hatte er sich tatsächlich ein wenig informiert. Aber dann gab es einige Details, die nicht stimmen konnten. So bot die Firma beispielsweise keine Doppelgaragen mehr an, der Preis war nicht mehr aktuell und einige seiner Argumente waren nicht zutreffend. Es war jedoch nicht ihr Ziel, ihn zu entlarven. Sie wusste bereits alles, was sie wissen wollte. Es reizte sie, das Spiel mit ihm zu spielen. Sie wollte das Spiel, das er mit ihr spiele, umdrehen.

Seitdem verfolgte sie seinen Chat live. Sie fühlte sich wie eine Detektivin, die insgeheim seine Nachrichten mitverfolgte. Die Texte waren literarisch wenig ansprechend, und sie verspürte auch keine Eifersucht, wenn seine Affäre das nächste Herz-Emoji sendete. Sie fühlte etwas anderes. Es war die Macht, die sie über ihn hatte. Wie oft war er derjenige, der zumindest symbolisch über ihr stand. Ein höheres Gehalt, eine höhere Ausbildung, sportlicher, erfahrener, allein die gedankliche Aufzählung davon brachte sie zum Kotzen. Die einzige Eigenschaft, in der sie ihm überlegen war, bestand vielleicht in ihrer Attraktivität – aber das war ihr zu wenig. Sie wollte endlich einmal selbst das Steuer in der Hand halten und nicht auch noch das arme Eheopfer sein.

Heute traf er sie um 20 Uhr in ihrer Wohnung. Sein Alibi war ein längeres Geschäftsmeeting, und sie solle sich ruhig schon schlafen legen. Doch um 21 Uhr rief sie ihn an. Er wirkte überrascht und versuchte, seine Stimme geschäftig klingen zu lassen. „Ja, mein Schatz? Ich bin gerade noch im Meeting." Und dann begann sie zu erzählen. Von ihrem Tag, wie er gelaufen sei, und von ihren tiefen Gedanken. Es amüsierte sie, sich vorzustellen, wie seine Affäre gelangweilt auf die Uhr blickte und ihn genervt ansah. „Schatz, ich muss jetzt langsam wieder zurück ...” „Ja, noch eine wirklich wichtige Sache muss ich dir erzählen”, sagte sie und überging seinen wiederholten Versuch, das Gespräch zu beenden. "Warte, einen Moment", sagte sie plötzlich. "Es läutet an der Tür. Ich rufe dich gleich zurück". Sie legte auf. In ihrem Kopf bildeten sich neue Szenen. Die beiden saßen auf ihrem Bett und erhofften sich einen schönen Abend. Doch er saß mit dem Telefon in der Hand da und wartete auf den Anruf seiner Frau. Wann würde sie ihn wohl anrufen? Was wollte sie ihm noch so wichtiges erzählen? Bis dahin würde er sich wohl kaum entspannen können. Sie rief an diesem Abend nicht mehr an und nahm auch nicht seine Anrufe an. Als er später nach Hause kam, weniger entspannt als sonst, meinte sie nur, dass sie vergessen hatte ihn zurückzurufen. „Aber ich habe dich dreimal angerufen. Du hast gemeint, es ist etwas Wichtiges.", reagierte er ärgerlich. „Ach ja“, meinte sie lapidar, „ich habe mein Handy noch stummgeschaltet.“ Sie drehte sich um ohne seine Frage zu beantworten und schlief weiter. Sie fühlte sich machtvoll. Stark.

Und so ging es weiter. Sie nutzte jede Gelegenheit, um ihm das Leben schwerer zu machen. Sie genoss es, wenn er sich windete. Wie er sich mit jeder seiner Ausreden bemühte. Manchmal war sie richtig erstaunt, wie kreativ er sein konnte. Welche Verkehrsmittel nun doch eine Verspätung hatten, wie gerne er wieder Sport mit neuen Freunden machte, wie viel Zeit er für sich allein zum Spazierengehen benötigte, warum Massagen aus medizinischen Gründen fast notwendig wurden, warum er die neuen Meetings nicht mehr online, sondern nur vor Ort in anderen Ländern durchführen konnte. Sie las seine Nachrichten und hörte sich dann seine Ausreden an. Sie klangen so echt. Zwei unterschiedliche Welten, die nichts miteinander zu tun hatten. Wie er täglich die alte Welt verzerrte, um die neue zu erkunden. Er war ein grandioser Schauspieler, so gut wie er sich immer wieder verstellte. Er wirkte so authentisch, so klar, so wie immer. Und gleichzeitig sah sie den Live-Chat, manchmal nur einige Minuten, nachdem sie miteinander gesprochen hatten. In der eigenen Wohnung, auf der Toilette, schrieb er seiner Affäre. Während seine Frau duschte, kurz bevor sie aufwachte, noch in seinem Auto, bevor er zur Arbeit fuhr. Doch sie wusste bereits alles und ließ ihn in seinem Doppelleben leiden.

Eines Abends sagte er, dass er wieder einen Männerabend habe. Sie müsse nicht auf ihn warten. Doch sie wusste bereits, in welchem Restaurant er seine Affäre treffen würde. Dieses Mal ging sie einen Schritt weiter. Sie setzte sich auf eine Bank bei einer Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Restaurants. Von dort aus konnte sie die beiden durch die Fensterscheibe gut sehen. Wie er sie freudig begrüßte und ihr klischeehaft eine Rose in die Hand drückte. Wie sie ihn umarmte. Genau in diesem Moment rief sie ihn an. Sie sah, wie er genervt das Handy aus der Tasche holte, dann aber in süßlichem Ton fragte, was los sei. Sie erzählte ihm, dass sie sich kurzfristig mit einer Freundin treffen würde. Anschließend streute sie einige belanglose Informationen in ihre Erzählung ein. Währenddessen beobachtete sie, wie er sich mit der Hand die Stirn hielt, während seine Affäre ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch klopfte. „Gut, dann sehen wir uns später“, sagte er und wollte das Gespräch erneut beenden. „Ja gut, ich bin schon gespannt, wie das Essen im Restaurant Stilblüte sein wird.“ Schweigen. „Was hast du gesagt, Schatz?“, fragte er sichtlich verwirrt. „Ich sagte, dass ich schon gespannt bin, wie das Essen sein wird. Es soll eine gute Küche sein.“ „In welches Restaurant gehst du denn?“, fragte er, während er versuchte, unauffällig zu wirken. „Aber das habe ich dir doch gerade gesagt. Na gut, mein Taxi ist schon da. Bis später.“ „Schatz, in welches Restaurant ...” Doch sie hatte schon aufgelegt. Mit gierigem Blick sah sie auf die andere Seite der Straße, in das Restaurant „Stilblüte“, und beobachtete, wie er entgeistert auf das Handy blickte. Kurz danach begannen die beiden zu gestikulieren. Er wurde immer hektischer und schien dem Kellner mitzuteilen, dass sie heute doch nicht hier essen würden. Kurz darauf verließen sie das Restaurant. Sie war sichtlich wütend, und er versuchte, entschuldigend auf sie einzureden.

Es waren diese Spiele, die ihr Vergnügen bereiteten. Von tiefem Hass und Ekel genährt, wurden ihre süßen Gefühle verstärkt. Und jeder Schritt verlangte nach einem weiteren. Wie eine Süchtige sehnte sie sich nach der nächsten Dosis. Es dauerte nicht lange, bis sie herausfand, dass auch seine Affäre in einer Beziehung war. Sie wusste sofort, was zu tun war. Sie verfolgte die andere Frau, um herauszufinden, wo sie wohnte. Anschließend recherchierte sie, wer ihr Mann war. Sie fädelte ein berufliches Gespräch mit ihm ein und traf sich an den Abenden mit ihm, an denen sie wusste, dass er Zeit hatte. Das waren die Abende, an denen seine Frau ihn betrog.

„Das ist eine wirklich neue Perspektive für uns“, bestätigte sie seine Aussage. Er war ein gutaussehender Finanzberater mittleren Alters. Grau meliertes Haar, eckige Brille, kantiges Gesicht, aber wohlwollende Augen. Er nahm an, dass sie eine hochrangige Abteilungsleiterin war, die externe Beratung für ihre globalen Lieferketten benötigte. Sie wusste, dass er den Job wollte und nur deswegen abendliche Termine annahm. Da seine Frau auf wundersame Weise genau an diesen Abenden immer selbst etwas vorhatte, konnte er zusagen. Doch sie wollte keine Affäre mit ihm beginnen, das wäre ihr zu einfach gewesen. Sie hatte ein perfideres Spiel im Sinn.

„Ich muss dir etwas gestehen“, sagte sie plötzlich eines Abends zu ihrem Mann. Er schaute sie angespannt an und spürte erste Gewissensbisse. „Ich habe eine Affäre.“ Ihr Mann verschluckte sich und hustete. Er war sichtlich schockiert. Kurz hatte er Angst, dass sie etwas bemerkt hatte, doch dann drehte sich das Spiel wieder um. Sie mimte die schuldbewusste Frau, die sich schämte. In ihm sah sie die unterschiedlichsten Gefühle hochkochen. Enttäuschung, Entsetzen, Wut, aber auch eigene Schuld vermischten sich, und es war unklar, welche Reaktion diese Mischung hervorrief. „Er will es auf keinen Fall seiner Frau beichten, aber ich möchte endlich reinen Tisch machen.“ Er schaute sie noch immer orientierungslos an. „Er hat eine Frau?“ „Ja, es tut mir auch für sie leid“, schluchzte sie, von ihrer eigenen Schauspielkunst beflügelt. „Ich weiß auch schon, wie sie heißt.“ Als sie den Namen beiläufig erwähnte, wirkte er, als würde er gleich umfallen. Den Namen seiner Affäre aus dem Mund seiner Frau zu hören, ließ seine Welt zusammenbrechen. Er hatte diese Welten so gut getrennt und genau darauf geachtet, dass sie es nie erfahren würde. Er fühlte sich ihr so überlegen. Wie ein Geheimagent, ein Abenteurer, der seine wildesten Träume ausleben konnte. Wie gut er seine Geschichten erzählte, wie geschickt er seine Frau immer hinter das Licht führen konnte, wie stark er sich fühlte, wenn er mit einer anderen verheirateten Frau schlief. Doch in den letzten Monaten war es immer schwieriger geworden, seine alte und neue Welt zu trennen. Und jetzt hörte er nur noch im Hintergrund, wie sie ihm noch mehr erzählte. Die Welten schienen stillzustehen. Seine eigene Frau betrog ihn. Diese Erkenntnis kreiste noch immer in seinem Kopf. Mit dem Mann seiner Affäre.

Es war einer dieser Abende, an denen der Kopf einfach nicht klar werden wollte. Er fühlte so viele Emotionen gleichzeitig, dass er gar nichts mehr fühlte. Zu viel war geschehen, zu viel hatte er gehört. Er verlor die Kontrolle über sein Leben, das er gerade noch so gut im Griff hatte. Hat ihm seine Frau gerade mitgeteilt, dass sie ihn betrügt? Was war gerade passiert? Eine tiefe Panik begann in ihm aufzukeimen. Mitten in der Nacht schlich er sich aus dem Bett. „Wir müssen sofort reden”, flüsterte er am Klo sitzend seiner Affäre durch das Handy zu. „Es ist mitten in der Nacht“, stammelte sie. „Es ist wichtig“, insistierte er und erzählte ihr von dem Gespräch. „Mein Mann betrügt mich?”, stammelte sie. „Mit deiner Frau?”, stotterte sie. Er hörte, wie auch ihre Welten zerbrachen. Die alte und die neue Welt, eine unvermeidbare Explosion.

Am nächsten Abend war der Streit bis in die Straßen hinein zu hören, als die Frau ihrem Mann Betrug vorwarf. Er verteidigte sich damit, dass er das niemals tun würde. Sie müsse ihm vertrauen. Wie kam sie bloß auf diese absurde Idee, niemals würde er das tun. Von wem habe sie diese Geschichten gehört? Sie zählte die Termine auf, an denen er die Frau getroffen hatte. "Aber das waren nur geschäftliche Essen", beteuerte er mit unschuldiger Mine. Doch sie sah sich selbst in ihm. Genauso, wie sie ihn ständig anlog, log er sie an. Doch sie sah nur ihn. All ihr schlechtes Gewissen projizierte sie in ihn hinein. Sie spürte genau, dass er log. Er musste lügen und sie würde ihn zur Rede stellen. Ihren unbewussten, tiefen Wunsch, endlich nicht mehr die eigene Schuld zu fühlen, erkannte sie nicht. Von der Täterin zum Opfer, von der Betrügerin zur Betrogenen. Wie viel leichter wäre es, betrogen zu werden, als selbst zu betrügen. Plötzlich fühlte sie sich frei von Schuld und Verantwortung. Und ein Schritt folgte dem anderen. Es war wie ein Erdrutsch, der in der panischen Wut nicht mehr aufzuhalten war. Es war die tiefe Gier, ihren Mann zu beschuldigen, um ihrer eigenen Schuld zu entgehen.

Und so saßen sie gemeinsam an einem Tisch im Restaurant „Stilblüte“. Beide Paare. Eine vermeintliche und eine tatsächliche Affäre. Ihr Mann wirkte so klein und zerbrechlich, was sie vor Glück erschaudern ließ. Sie hatte alle Fäden in der Hand. Sie war wie eine Puppenspielerin, die ihre Geschichte erzählte. „Wir haben uns wirklich nur beruflich getroffen”, beteuerte der Finanzberater in der Hoffnung, die vermeintliche Affäre von seinem Geschäftskontakt bestätigt zu bekommen. Doch diese hatte ein anderes Ansinnen, als sie antwortete. „Mein Liebling, ich kann nicht mehr schweigen”, log sie und blickte ihm gespielt schuldbewusst in die Augen. „Ich finde, deine Frau sollte die Wahrheit erfahren, auch wenn du es ihr nicht sagen wolltest.“ Sie sah die andere Frau entschuldigend an. „Sie haben recht, es war mehr als ein berufliches Treffen.” Die Augen des Finanzberaters weiteten sich ungläubig. Sein Mund öffnete sich sprachlos. Er blickte verängstigt und beteuernd zu seiner Frau. Triumphierend und wutentbrannt blickte sie ihn an. All den Hass, den sie von ihm erwartet hatte, wenn er ihre Affäre entdeckte und vor dem sie so viele angsterfüllte Träume gehabt hatte, konnte sie nun auf ihn loslassen.

Während sie ihn zu beschimpfen begann, stand die die Frau, die alles eingefädelt hatte, leise auf. Sie sagte nichts mehr und ging. Hinter ihr saßen noch drei Menschen, die in ihrem Chaos untergingen. Sie hörte im Hintergrund die Schreie. Der Finanzberater, der seine Unschuld beteuerte. Seine Frau, die ihm Betrug vorwarf, obwohl sie ihn selbst betrog, mit dem Mann neben ihr, der nicht mehr sprechen konnte. Illusionierte Welten und Vorwürfe, Projektionen nach außen und fehlende Innensichten. Ein Chaos zwischen Menschen, die versuchten, andere hinter das Licht zu führen, und nicht erkannten, dass sie selbst zu Puppen geworden waren. Der Betrug der Betrogenen.

Als sie in ihrer Wohnung ankam, zog sie in aller Ruhe ihre Hausschuhe an und legte sich entspannt auf die Couch. „Die Würfel sind gefallen“, flüsterte sie mit ruhiger Vorahnung. Erst später erfuhr sie, wie der Abend genau endete. Das Geschrei eskalierte, der Erdrutsch nahm Fahrt auf. In tosendem Geschrei platzte es irgendwann aus der Frau heraus, dass sie ihn nur deswegen betrogen hatte, weil er damit begonnen hatte. Für sie wirkte es wie eine plausible Erklärung. Sie wollte sich auch die Last von der Seele reden. Endlich zu sagen, wie es war, aber ohne Schuld zu übernehmen. Wie verständlich es in ihren Ohren klang, dass sie ihn betrog, nachdem er damit begonnen hatte. Sie fühlte die Gunst der Stunde, ihre tiefe Schuld aufzulösen und endlich die Wahrheit zu sagen. Vielleicht könnten sie neu anfangen, nachdem sie beide vom verbotenen Wein getrunken hatten? Doch ihr Mann hatte sie nicht betrogen. Er hatte keine Schuld auf sich geladen. Als sie mitten im Geschrei ihren Betrug gestand, wurde es plötzlich ganz still im Restaurant.

Die Kellner, die bereits einschreiten wollten, um die drei Gäste hinauszubegleiten, nahmen plötzlich Abstand von dem eskalierenden Paar. Der ganze Raum spürte, dass sich das Blatt gerade gewendet hatte. Der Finanzberater sah in diesem Moment unendlich traurig und wütend aus. Er war ein Mann, der gerade erfuhr, dass seine eigene Frau ihn betrog, nachdem sie ihm lauthals Betrug vorgeworfen hatte. „Es tut mir so leid“, sagte nun die Affäre der Frau kleinlaut. Der Mann, der bisher teilnahmslos dagesessen hatte, deckte nun die letzte verdeckte Karte auf. Intuitiv wollte auch er gestehen, um sich seiner Schuld zu entledigen. Er spürte die nahende Freiheit, das Geheimnis endlich lüften zu können. Ab nun werde wieder alles besser, täuschte ihn seine flehende Hoffnung. Der Finanzberater erschrak, als er die Affäre seiner Frau erkannte, die ihm direkt gegenübersaß. Der Erdrutsch grub die letzten Häuser unter ihm ein. Die emotionale Ladung aus Schuld, Ungerechtigkeit, Hoffnung und Schmerz explodierte in zerstörerischem Hass. Das Messer auf dem Tisch war zu naheliegend. Zu schnell hatte er eines in der Hand. Die Schreie der Kellner kamen zu spät. Die Hände der Frau waren zu schwach. Zu tief bohrte sich das Messer des Finanzberaters mit der eckigen Brille in den Hals des anderen Mannes. Der einzige unschuldige Mensch am Tisch machte sich eines Mordes schuldig. Wollte der Sterbende noch etwas sagen? Wollte er sich entschuldigen? Doch statt Worte kam nur noch Blut aus seinem Mund.

Die Zeugenaussagen, die an diesem Abend aufgenommen wurden, waren für die Polizei nicht vollständig nachvollziehbar. Es war eine dieser dramatischen Geschichten, die sich nicht logisch nachvollziehen ließen. Es ging um Betrug, Schuld und Lügen. Die Frau an diesem Tisch weinte hysterisch und wurde ins Krankenhaus gebracht. Der Mörder war ebenfalls nicht vernehmbar und stammelte nur immer wieder etwas von einer Täuschung. Warum sich das Paar mit der Affäre der Frau traf, konnten sich auch die Kellner nicht erklären. Nach diesen dramatischen Momenten konnte sich niemand mehr an die zweite Frau am Tisch erinnern.

Beim Begräbnis trauerte die unschuldige Witwe. Sie beteuerte mehrfach, nie auch nur daran gedacht zu haben, dass ihr Mann ein Doppelleben führen könnte. „Was für ein Mensch spielt denn so ein Spiel?”, stellte sie dem Pfarrer weinerlich die Frage, die sie selbst am besten hätte beantworten können. Die arme reiche Frau. Opfer oder Täterin? Puppe oder Spielerin? Es war eine schöne Beerdigung, und alle genossen den Leichenschmaus.

 

Perspektive

Diese Geschichte handelt von einer Frau, die ihre Ohnmacht in Allmacht verwandelt und dabei sich selbst verliert. Was zunächst wie eine simple Betrugsgeschichte erscheint, entpuppt sich als psychologisches Kammerspiel über Macht, Kontrolle und die verhängnisvolle Spirale der Projektion. Die Protagonistin weigert sich, ihren Schmerz zu fühlen. Anstatt zu trauern oder zu gehen, errichtet sie ein ausgeklügeltes System der Abwehr. Sie macht sich zur Regisseurin, um nicht fühlen zu müssen, was es bedeutet, betrogen worden zu sein. Doch die Macht, die sie gewinnt, entspringt nicht ihrer Autonomie, sondern dem Schmerz, nicht geliebt worden zu sein. Sie verwandelt die Beziehung in eine Bühne und sucht nicht die Wahrheit, sondern die Überlegenheit. In Wahrheit geht es ihr nie um Gerechtigkeit, sondern um Rache und Dominanz sowie das Gefühl, endlich nicht mehr das arme Eheopfer zu sein.

Die Eskalation entfaltet eine zerstörerische Eigendynamik, die alle Beteiligten in ein Geflecht aus Lügen und Projektionen verstrickt. Sie inszeniert eine vermeintliche Affäre und schafft damit ein System, in dem jeder die Schuld des anderen, aber nicht die eigene sieht. Als die Wahrheit in Fragmenten herausplatzt, wird der einzige Unschuldige zum Mörder. Die Geschichte zeigt, wie Beziehungen zerfallen, wenn sie nicht mehr auf Verbundenheit, sondern auf Machtkämpfe beruhen, und wie zerstörerisch Leere wirkt, wenn Liebe nur noch als Spiel erlebt wird, das man gewinnen möchte.

Am Ende sitzt die Frau entspannt auf der Couch, unberührt von dem Grauen, das sie verursacht hat. Beim Begräbnis fragt die Witwe weinerlich, was für ein Mensch denn so ein Spiel spiele. Der Höhepunkt der Verleugnung. Sie hat gesiegt, ihren Reichtum behalten und ihre Würde nach außen hin bewahrt, aber sie hat alles verloren, was einen Menschen ausmacht. Es ist eine Geschichte über die Verführung der Macht und die Einsamkeit derer, die glauben, Kontrolle über andere ausüben zu müssen, um die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren.

Der Text beschreibt die Zerstörung durch das Ego, das in einem süchtig machenden Spiel um Dominanz Zuflucht sucht, bis die entfesselte emotionale Ladung schließlich zur physischen Zerstörung führt. Er ist eine düstere Reflexion über die menschliche Natur und die zerstörerischen Kräfte, die entfesselt werden, wenn Ehrlichkeit durch Täuschung ersetzt wird.

 
 
 

Kommentare


Kontakt

bulb.jpg

Newsletter bestellen
Erhalten Sie monatliche Updates darüber, was Organisationen und Führungskräfte bewegt

Danke für die Bestellung!

prof. Lukas Zenk

The lightbox network

  • Linkedin

© 2025

The Lightbox Network

Prof. Dr. Lukas Zenk, MSc.

Kanalstraße 78/3

1220 Wien

 lukas.zenk@lightbox.at

+43 (0) 650-280-00-22

bottom of page