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Das Spiel

(Musik: At the Ivy Gate, Brian Crain)

„Das ist alles nur ein Spiel!“, schrie er laut in die Menge. Die Leute waren schockiert. Warum schreit da jemand so laut? Sie hielten ihre Notizbücher in den Händen. Kaufen, verkaufen – so wenige Wörter wurden gebraucht. Alles sinnentleert, einem mathematischen Muster folgend, das sich an den Zufälligkeiten der Weltwirtschaft orientiert. „Seht ihr das denn nicht?”, schrie er weiter. Mit Tränen in den Augen. „Schaut doch hin! Ist das wirklich, was ihr wollt?” Die Menschen – zumeist Männer – blickten auf die Monitore. Wie schnell sich die Zahlen bewegten. Jede Sekunde eine weitere Veränderung. Dopamin auf höchstem Niveau. Was wird in der nächsten Sekunde passieren? Was wird der nächste Kick sein?

Nach nur wenigen Sekunden Pause zog die sinnentleerte Masse der Zahlen und des Rausches das Bewusstsein der Anwesenden wieder an sich. Es ist wie ein magnetischer Sumpf, ein schwarzes Loch, das alles anzieht, in sich zieht, vereinnahmt, bündelt, zerquetscht und zermalmt, bis nur noch ein Minimum der möglichen res extensa, der physischen Ausdehnung, übrig bleibt. Schon das Wort selbst, „Ausdehnung”, spiegelt die Perversion des Erdenklichen wider. In einem schwarzen Loch dehnt sich nichts aus. Das Vorhandene wird von seiner zärtlichen Existenz auf ein Minimum reduziert. Die Menschen werden zu einer distanzlosen Masse zerquetscht, in der keine Freiheit mehr existieren kann, sondern nur noch die zusammengepresste Materie selbst. Die totale Reduktion des Menschseins auf eine willkürliche Abfolge von Zahlen.

„Wacht auf!“, schrie er weiter. Ihr Bewusstsein wurde erneut aus dem schwarzen Loch der Lappalien gerissen. Verwundert, überrascht, irritiert. Gibt es dort mehr Dopamin? Mehr für ihre Sucht, um wieder in den Routinen der Niveaulosigkeit einzuschlafen? Eine Flucht in die Ästhetik des Alltags, die wie Einheitsbrei über die Massen gezogen wird? „Schaut euch an!“, hörten sie wieder von ihm. Sie blickten sich verdutzt gegenseitig an. Sie hatten sich am Morgen gut angezogen, geduscht, feine Parfüms verwendet, die Haare geglättet, die Wimpern getuscht, die Lippen gerötet, eine feine Schicht Make-up für die Illusion makelloser Haut aufgetragen, trugen Schuhe mit Absatz, um größer zu wirken, und Schulterpolster, um eine maskuline Stärke zu suggerieren. Sie setzten Brillen auf, die ihre Illusionen realer erscheinen ließen.

„Was macht ihr eigentlich?“, hörten sie wieder seine Stimme in ihr Bewusstsein dringen. Sie verstanden ihn nicht. Es ergab für sie keinen Sinn. Mitten im Spiel der Träume, in der verlorenen Welt des Seins, reduzierten sie die Komplexität und Paradoxie der Welt auf abstrakte Zahlen in Grün und Rot. Gewinne und Verluste, Gier und Angst, Glück und Unglück. Der ständige Versuch, das eine ohne das andere zu erhalten. Das Gute ohne dem Schlechten, das Licht ohne dem Schatten. Dafür spielten sie. Sie kauften die eine Aktie und verkauften die andere. Investieren und gewinnen oder verlieren. Je höher der Einsatz, desto höher die Möglichkeit zu gewinnen und zu verlieren. Dafür setzten sie ihr Leben ein. Ihr Bewusstsein, ihr Sein. Es ging nicht nur um Geld. Es ging nicht nur um finanzielles Kapital, das sie unbedingt erhöhen wollten. Sie bemerkten nicht, dass sie sich selbst investierten. Nur noch ein wenig mehr. Noch einmal. Und wenn sie es schafften, dann ... dann ... dann. Dann würde sich alles verändern. Aber im schwarzen Loch änderte sich nichts mehr.

Es ging weiter. Sie waren immer noch im Spiel. Im Spiel kann man nichts verändern. Solange man Karten spielt, spielt man Karten. Die Illusion, das Kartenspiel beenden zu können, wenn man nur gut genug spielt, ist eine Illusion. Je besser die Karten gespielt werden, desto geringer ist die Motivation, das Blatt hinzulegen und aufzublicken. Aufzublicken und zu bemerken, dass es nicht um die Karten ging. Ein gutes Blatt, das das Blatt endlich drehen wird, gibt es nicht. Es gibt kein Ende des Regenbogens. Er bleibt eine Oase, die nicht erreicht werden kann.

Und da ist er. Ganz kurz. Der Blick eines Spielers, der nicht mehr nur auf die Spielkarten sieht. Ein plötzliches Gefühl, das ihm mitteilen will, dass es nur ein Spiel ist. Ein feiner Hinweis, dass diese wunderschönen, genialen, kreativen und sinnvollen Lebewesen ihr Leben auf ein Kartenspiel in ihren Höhlen reduzieren. In der Mitte jedes Tisches steht eine Kerze. Sie flackert wissend und ruhig. Erst jetzt sieht der Spieler die Schatten der anderen, die an die Wand geworfen werden. Er blickt hinter sich und erkennt auch seinen eigenen Schatten an der Wand. Das Höhlengleichnis ging ihm durch den Kopf. Aber es geht nicht um die Schatten an der Wand. Die Schatten an der Wand sind nur Abbildungen der Spielenden.

Er starrt seinen Schatten an, obwohl er schon weiß, was er gleich sehen wird. Es geht nicht um die Schatten an der Wand. Langsam und vorsichtig dreht er seinen Kopf zum Kartenspiel zurück. Obwohl er schon längst weiß, was er sehen wird, erschrickt er. Da sind sie. Es sind keine Personen, die um die Tische sitzen. Es sind kartenspielende Schatten. Fratzen der Leere, die auf ihre versteckten Karten starren. Er spürt ihre Ängste, ihre Gier. Die Schatten an der Wand sind nur eine Verdeutlichung ihres Wesens. Wie eine Lupe. Es sind keine Menschen mehr. Sie sind bereits die Schatten. Schwarz, substanzlos, nur noch die Silhouetten von Wesen, die dem Spiel frönen. Tief in ihren schwarzen Löchern.

Plötzlich friert alles ein. Er sieht den erstarrten Spieler ihm gegenüber an, der vor Nervosität gerade an seinen Fingernägeln gekaut hatte. Er hatte gehofft, endlich das richtige Blatt zu haben. Diesmal würde sich alles ändern. Seine leeren Augen sind auf das Blatt gerichtet, das seine einzige Hoffnung auf ein echtes Leben darstellt. Neben diesem sitzt ein von Angst erfüllter Schatten. Mit diesem Blatt wird er wieder verlieren. Der Krampf in seinem Schattenbauch sitzt so tief und ist so schmerzhaft. Wie immer. Er wird es nie schaffen. Dieser tiefe Pessimismus sitzt direkt neben dem hoffnungsvollen Optimismus. Daneben sitzt noch weiterer Schatten. Der Durchschnitt. Er ist immer gut genug, aber nicht ausreichend. Er war schon immer da. Er sitzt da und schaut sich die Karten an. Es ist wie immer. Keine Hoffnung, keine Panik, keine Gefühle.

Sie alle sehen nicht, dass sie einfach nur Karten spielen. Sie sind Schatten ihrer selbst. Im Hintergrund, von der Kerze verstärkt, sind die noch größeren Schatten, die sie nicht loslassen. Doch der Mann steht auf. Ein Schattenwesen, das aufsteht? Die Kerze sieht ihn verwundert an. Hat er es etwa bemerkt? Er hält die Karten noch in der Hand. Es könnte ja doch noch ein gutes Spiel werden. Er spürt den Drang, sich wieder hinzusetzen. Noch eine Runde. Der letzte große Exit. Noch eine Runde, dann wird alles anders. Sein dahinterliegender Schatten drückt ihn hinunter. Noch eine Runde. Nur noch eine Runde. Noch ein Leben. Nur noch ein Leben. Und dann ... dann ... dann ...

Langsam setzt er sich wieder hin, stößt sich aber dann doch wieder vom Sessel ab. Der große Schatten hinter ihm wird nervös. Die Kerze lächelt kraftvoll, verführerisch, einladend. Es wird immer eine weitere Runde geben. Ein weiteres Leben, das wieder geführt wird, ohne aufzuwachen. Wenn er jetzt nur eine Runde weiterspielt, wird er wieder im Spiel versinken. Erst wenn er die Karten auf den Tisch legt, ist das Spiel zu Ende. Und tatsächlich. Langsam legt er sie verdeckt auf den Tisch, blickt um sich und steht selbstbewusst auf. Er geht einen Schritt vom Tisch zurück und lässt die Karten am Tisch liegen. Sie vermischen sich wie von Zauberhand wieder mit den anderen.

Die Spieler beginnen, weiterzuspielen. Sie bemerken nicht einmal, dass einer von ihnenn gegangen ist. Sie haben ihn nie gesehen. Er war nicht da. So wie auch sie nicht da waren. So wie sie nicht da sind. Sie sind nur Schatten ihrer selbst und folgen den Regeln des Spiels. Der Optimist ist durch die zurückgelegten Karten noch hoffnungsvoller geworden, der Pessimist noch sorgenvoller und der Dritte bleibt im Mittelwert des Lebens: weder gut noch schlecht, weder hier noch da, aber insgesamt nicht vorhanden.

Der stehende Schatten löst sich vom Pokerspiel und erschaudert, als er seine bisherigen Schattenmitspieler erkennt. Düstere Gestalten, ohne Wärme und Substanz. Er geht an den Rand des Raumes zu einem offenen Fenster und spürt, wie er sich in Körperlichkeit manifestiert. Seine schwarzen Hände beginnen Farbe zu gewinnen und die Löcher in seinem silhouettenhaften Kopf werden mit sehenden Augen gefüllt. Sein übermächtiger Schatten hinter ihm wird wieder sein treuer Begleiter am Boden der Realität. Er fühlt sich wieder.

Er blickt um sich. Und da sieht er ihn. Den Mann, farbig, real, körperlich. Wie laut und stark er schreit. „Fühlt ihr euch nicht?”, hört er ihn durch die Menge schreien. Und da erst sieht er sie. Die Menge der pokerspielenden Schatten. Tief vergraben in ihren Hoffnungen und Ängsten. Wie sie in kleinen Gruppen an ihren Tischen sitzen. Es sind Hunderte, Tausende. So viele Schatten, die in ihrem Spiel gefangen sind und es nicht einmal bemerken.

Er geht wieder langsam in den Raum hinein, zwischen den Tischen hindurch. Sie sehen ihn nicht. Sie sehen nur ihre Karten. Sie starren auf ihren nächsten Zug. Und dann beginnt die nächste Runde. In dieser Runde wird alles anders. Er hört ihre Gedanken. Nur noch eine Runde. Dann ... dann ... dann wird alles anders.

Aber sie sehen nichts. Sie sehen nur ihre Karten. Gefangen in ihren eigenen Gedanken. Sie spielen nicht. Sie werden von ihren Ängsten und Drängen gespielt. Auf jedem Tisch steht eine Kerze, die die Schatten hinter ihnen an den Wänden noch größer erscheinen lässt. Die Schatten der Schatten sind übermenschlich groß. Sie umschließen den Raum. Sie verstärken die bereits vorhandenen Schatten. Die kleinen Schatten werden von den großen nur noch weiter unterdrückt. Wie sollen sie jemals herauskommen, wenn die unbarmherzig große Schatten um sie walten. Anstatt ihre eigenen Schatten zu erkennen, blicken sie lieber auf ihre Karten. Denn in der nächsten Runde wird alles anders. Diesmal wird alles anders. Es gibt Gewinner und Verlierer im Spiel. Aber sie bleiben im Spiel. Sie bemerken nicht, dass die Gewinner die größten Verlierer sind. Je mehr sie gewinnen, desto tiefer versinken sie. Im Traum des Lebens. In der Illusion des Seins.

Plötzlich sieht er jemanden, der sich umdreht. So wie er zuvor. „Ja”, möchte er ihm sagen. Und er beginnt, ebenfalls zu schreien. „Schau hin! Ja, dort. Du kannst es sehen!" Erschrocken sieht ihn das kleine Schattenwesen an. „Warum schreit er so laut?” Dann blickt es auf den großen Schatten hinter sich. Wie mächtig er ist. Wie angsteinflößend. Er dreht sich schnell wieder um. Die Karten sind sein sicherer Hafen. Und schon ist er wieder im Spiel. Nur noch ein Spiel und dann ... dann ... dann.

Resigniert sah er sich um und erblickte den Mann, der so laut geschrien hatte. Dieser blickte ihn an. Mit vollkommener Güte. Mit tiefer Zufriedenheit. Als er ihn ansah, fühlte er sich auf einmal geborgen. Ruhig. Er ging näher zu ihm. Sie berührten sich nicht, aber ihre Herzen berührten sich. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Schreie nur Aufmunterungen gewesen waren. Ruhig. Sanft. Wohlwollend. Unterstützend. Liebevoll. „Das ist nur ein Spiel. Schaut einmal hin. Ist das wirklich, was ihr wollt? Ihr könnt aufwachen.“ Mit ruhiger Stimme ermutigte er die Spieler, aufzublicken. Für die Schattenmenschen wirkte er jedoch aggressiv. Für sie war er laut und unbarmherzig. „Warum will er uns von unserem Spiel abhalten?“, schienen sie sich empört zu fragen. Seine ruhige Stimme klang für sie schmerzhaft, brutal und unangenehm. Wie groß war die Angst, aufzuwachen. Und so spielten sie weiter.

Der schreiende Mann wurde später von der Schattenpolizei abgeführt. Im Protokoll wurde „Störung der öffentlichen Ordnung” vermerkt. „Vielleicht hatte er Verluste mit seinen Aktien gemacht und war deshalb so aggressiv geworden?", mutmaßten einige Personen. Andere vermuteten, er habe sie ablenken wollen, um selbst schnell zu investieren. Es war nur eine Ablenkung gewesen, eine Täuschung. Und schon waren sie wieder in ihrem Spiel gefangen. Aber einer ist aufgewacht. Und das war schön. Gewonnen.


Perspektive

Die Geschichte entfaltet sich als existenzielle Meditation über einen Zustand, in dem Menschen nicht mehr selbst leben, sondern gelebt werden. Die Börse steht dabei nicht nur für den Kapitalismus, sondern für jede Lebensform, die auf der Verlagerung des Wesentlichen in eine imaginierte Zukunft beruht. Das endlose Mantra „Dann ... dann ... dann” durchzieht den Text wie ein hypnotischer Rhythmus. Die Spieler investieren nicht nur Geld, sondern ihr gesamtes Dasein in die Hoffnung, dass die nächste Runde die ersehnte Erlösung bringt, die jedoch stets außerhalb ihrer Reichweite bleibt. Während sie sich sorgfältig herrichten, offenbart sich eine tiefe Angst vor der eigenen Substanzlosigkeit. Das schwarze Loch, das der Text beschreibt, stellt den inneren Kollaps eines Bewusstseins dar, das seine Lebendigkeit gegen die mechanische Teilnahme an einem bedeutungslosen Spiel eingetauscht hat.

Der Text entwickelt Platons Höhlengleichnis radikal weiter. Nicht die Schatten tanzen an den Wänden, sondern die Spieler selbst sind zu Schatten geworden. Die Kerzen werfen überdimensionale Schatten an die Wände – jene unbewussten Ängste und Abhängigkeiten, die das Selbst erdrücken. Doch diese Kerze ist zugleich das Licht des Bewusstseins, das die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt erst schafft. Der Moment, in dem ein Spieler seinen Blick hebt, ist kein dramatischer Durchbruch, sondern ein zartes Zögern, ein kaum wahrnehmbarer Riss im Automatismus. Wenn er die Karten niederlegt, geschieht das Erwachen als körperlicher Prozess. Seine schwarzen Hände gewinnen Farbe, und die Löcher in seinem silhouettenhaften Kopf füllen sich mit sehenden Augen. Der Gang zum Fenster markiert die Rückkehr zur verkörperten Präsenz, zu einem Sein, das somatisch spürbar ist und nicht mehr nur in abstrakten Zahlen existiert.

Der Mann, der mit vollkommener Güte zur Bewusstheit einlädt, wird von den Schatten als aggressiv und bedrohlich empfunden. Seine wohlmeinenden Rufe klingen für sie schmerzhaft, brutal und unangenehm. Wahre Freiheit erscheint dem konditionierten Bewusstsein als Gefahr, weil sie das mühsam aufrechterhaltene Weltbild zerstört. Das Spiel verfügt über ein Immunsystem, das jeden Versuch, aus der Trance zu erwachen, als Störung markiert und eliminiert. Die Schattenpolizei führt den Mann ab und schon sind die anderen wieder in ihrer Trance gefangen. Doch die Geschichte endet nicht mit einer Massenerlösung, sondern mit einem einzelnen Menschen, der aufwacht. Das letzte Wort „Gewonnen” trägt Ironie und Hoffnung zugleich. Einer hat das einzig wirkliche Spiel gewonnen, nämlich das Spiel zu verlassen. Nicht durch einen besseren Zug, sondern durch die Erkenntnis, dass die Karten selbst bedeutungslos sind. Ein Mensch hat sich daran erinnert, wer er ist. Das ist der einzige Gewinn, der Bestand hat.

 
 
 

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