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Das richtige Leben

(Musik: End of the world, Kadmium)

Er hatte alles richtig gemacht. Schon als Jugendlicher hatte er seinen Perfektionismus bemerkt, als er selbst eine ethische Abhandlung über das richtige Leben schrieb. Fast jeden Tag nahm er sich Zeit, um an seiner Schreibmaschine sein Pamphlet zu verfassen. Es klang sehr moralisch, idealistisch, beinah ritterlich. Er schrieb es für sich. In sich drinnen war er haltlos. Die Abhandlung sollte ihm Halt geben. Ihm fehlte ein klarer Nordstern. Sein Vater war Alkoholiker und er musste früh erkennen, dass er von ihm nichts lernen konnte. Im Gegenteil, genau dieses Leben wollte er nicht führen. Seine Mutter war depressiv. Das war ihre Art, mit dieser Beziehung umzugehen. Wenn ihr Mann nicht Herr seiner Sinne war, dann katapultierte sie ihre Psyche in ein schwarzes Loch. Das sah man nicht, aber es zog alles in sich hinein. Jedes Licht. Als er das erste Mal erfuhr, was „Depressionen” waren, verstand er plötzlich, womit er es bei seiner Mutter zu tun hatte. Völlige Antriebslosigkeit, kein Gegenüber, nichts, das etwas vom Leben genießen konnte. Eine ständige Leere, übertüncht von täglicher Schminke. „Es muss ja nicht jeder sehen, wie es in mir drinnen aussieht“, hörte er sie einmal vor dem Spiegel sagen.

Sein Vater war morgens immer sehr müde, rasierte sich und wusch sich. Doch seine Sorgen konnte er nicht abwaschen. Am Morgen konnte man noch mit ihm reden. Nichts Tiefgreifendes, aber zumindest konnte er klare Sätze formulieren. Am Abend klang er eher wie klebriger Brei. Er arbeitete bei der Post und sortierte im Lager verschiedene Pakete. Am Abend war er müde und versank auf seiner Couch. Meistens kam er schon angetrunken nach Hause, nachdem er noch seine Freunde in der Bar getroffen hatte. Vielleicht trank er auch während der Arbeit; sein Flachmann war sein treuer Begleiter. Zuhause konnte man die leeren Bierflaschen zählen. Statt einer Sonnenuhr gab es bei ihm eine Bieruhr. Als er noch ein Kind war, hatte sein Vater die leeren Flaschen versteckt. Man konnte immer nur das eine Bier sehen, das er gerade trank, und konnte nicht erahnen, welchen Verlauf der Abend nahm. Später war ihm nicht einmal mehr der Schein wichtig, und die leeren Flaschen stapelten sich neben seiner Couch. Am Anfang stritten seine Eltern zumindest noch. Später konnte er nur noch den Fernseher hören. Er schaute Fußballspiele, sie wischte ständig auf ihrem Handy herum. Was hätten sie wohl ohne Fernseher und Handy gemacht?

Er entwarf seine eigene Lebensphilosophie. Das Negativbeispiel konnte er täglich beobachten. Seine Eltern waren nicht diejenigen, die ihm sagten, er solle lernen, da er sonst nichts im Leben erreichen würde. Sie lebten ihm den Worst Case vor. Aus dieser Perspektive war das eine durchaus sinnvolle Kindererziehung. Sie lebten ihm vor, was passiert, wenn man sich gehen lässt, sich aufgibt. Er war genau anders. Gut in der Schule, modisch angezogen, freundlich zu seinen Mitmenschen, Alkohol oder Drogen hatte er nie genommen. Irgendwann hörte er, dass der psychologische Begriff „Resilienz” aus einer Studie entstand, in der Kinder beobachtet wurden, die trotz schwieriger Verhältnisse gesund blieben. Ja, das war sein Leben. Resilienz. Gesund trotz oder genau wegen seiner Familie. Er studierte Jura, zog früh aus, um der Betäubungsmaschine und dem trägen schwarzen Loch zu entkommen, lebte in einer kleinen Wohnung, sparte sein Geld langfristig, lernte eine Frau kennen, zog mit ihr zusammen und sie wurde schwanger. Er überlegte immer, welche Entscheidung die richtige wäre, basierend auf seinen grundlegenden Werten und seiner ethischen Verantwortung gegenüber der Umwelt. Er aß meistens vegan, machte regelmäßig Sport und traf sich jeden Samstagmorgen mit Freunden zum Joggen und anschließendem Brunch. Er war Mitglied einer Partei in seiner Stadt, spendete jährlich für karitative Zwecke und postete einmal wöchentlich neue Einblicke auf seinem Instagram-Kanal „good.life”. Er hatte ein gutes Leben. Er hatte sich richtig entschieden.

Er musste zweimal nachfragen, als die Ärztin ihm die Krebsdiagnose mitteilte. Er verstand das Wort „Endstadium” nicht. „Das Ende wovon?”, fragte er zweimal nach. Die Ärztin blickte ihn dabei empathisch und sehr einfühlsam an. Nach einer langen Zeit sagte sie, dass jedes Leben zu Ende geht. „Manche früher als geplant." Er verstand dieses Ende jedoch nicht. „Aber ich habe nie geraucht. Ich habe keinen Alkohol getrunken. Ich bin sportlich. Ich esse gesund. Ich arbeite auch nicht zu viel. Ich habe viele Freunde. Mein Beruf macht mir Spaß und ich finde ihn auch sinnvoll." Aber die Ärztin nickte nur verständnisvoll. „Sie scheinen sehr genau gewusst zu haben, wie Sie Ihr Leben gestalten wollten”, antwortete sie sanft. Da war wieder das Unverständnis. „Wollten“. „Ich will es weiterhin", sagte er zu sich selbst und verließ ohne weiteren Kommentar das Krankenhaus. Es hätte nur eine Routineuntersuchung sein sollen. Die Autos zogen an ihm vorbei, die Menschen gingen an ihm vorbei, er ging ziellos an sich vorbei. Immer geradeaus. Was ist jetzt das Richtige?

Am nächsten Morgen sah er sich in den Spiegel. Er sah gesund aus. Er streckte die Zunge heraus und betrachtete sie. Er wusste nicht genau, wie er seine Zunge diagnostizieren sollte, doch sie sah aus wie immer. Da stand er also und zeigte sich selbst die Zunge. Das Spiegelbild, das ihm die Zunge zeigte. „Warum zeigst du mir die Zunge?”, fragte er verärgert sein Spiegelbild. „Warum du mir die Zunge zeigst, habe ich gefragt!" Er blickte sich selbst wütend in die Augen. Der sanftmütige Mann veränderte sich. Ein Schatten kam hervor, den er so lange nicht hatte sehen können. „Da hast du jetzt dein richtiges Leben, du Idiot“, hörte er ihn sagen. „Willst du jetzt auch noch richtig sterben? Willst du deinem noch nicht einmal geborenen Sohn einen Brief schreiben und ihm sagen, dass er ein gutes Leben führen soll? Du wirst sterben. Hast du das noch immer nicht begriffen?“ Stille. Eine Ewigkeit lang Stille. Dann ein Schrei und ein so heftiger Schlag gegen den Spiegel, dass dieser zerbrach. Seine Faust war aufgeschlagen, ein Stück Glas steckte darin. Verwirrt ließ er Wasser über seine Hand fließen und entfernte den Splitter. Im kleinen Glasstück sah er erneut seinen Schatten. „Du kannst mich nicht mehr verdrängen. Jetzt nicht mehr“, vernahm er ihn unhörbar, und er erschauderte.

Er zog seine Joggingschuhe an und ging laufen. Er brauchte jetzt wieder Halt unter den Füßen. Routinen. Klarheit. Jeder Schritt beruhigte ihn. Doch dann vernahm er das Geräusch. Bei jedem Laufschritt. Jedesmal, wenn er den Boden berührte, ächzte ein Wort nach dem anderen in sein Bewusstsein. „Du ... wirst ... sterben. Du ... kannst ... nicht davonlaufen.“ Er schrie wutentbrannt auf, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und drehte die Musik laut auf.  Normalerweise hörte er nie auf die Liedtexte, doch diesmal war es anders. Sie brannten sich in sein Bewusstsein. „it starts with an earthquake ... eye of a hurricane, listen to yourself churn ... It's the end of the world as we know it ...” Er lief zurück in die Wohnung, in die Dusche, drehte das Wasser heiß auf und atmete tief ein und aus. Tief einatmen, tief ausatmen. Und plötzlich konnte er es nicht mehr zurückhalten. Sein Körper begann zu zittern. Die ganze verdrängte Angst vor einem schlechten Leben brach in sein Bewusstsein ein. Er klappte zusammen, kniete sich in der Badewanne auf den Boden, schrie, weinte, übergab sich und sah zu, wie all das, was er so lange vor sich selbst versteckt hatte, aus ihm herauskam. Er schlug seine Fäuste gegen den Badewannenboden, schrie, bis er nicht mehr konnte, und gab schließlich vor Überanstrengung auf. Sein Hals brannte, sein Bauch schmerzte. Er blickte mit seinem Gesicht hinauf in den Wasserstrahl. Er hörte nichts mehr. Nur noch das Rauschen des Wassers. Weißes Rauschen. Keine inneren Stimmen mehr.

Während er ins Wasser blickte, begann er plötzlich zu lachen. Unvermutet. Laut und heiser vom Schreien lachte er, noch mit verkrampften Gliedmaßen. Er lachte. Es war anfangs ein verrücktes, irrsinniges Lachen. Ein Lachen, vor dem man Angst bekommen würde. Der Schatten, der den Körper übernahm. Eine Transformation. Ein schmerzvolles Gebären lang verdrängter Tiefe, die endlich hinauswollte. Ein völlig neues Lebensgefühl. Als er die Augen öffnete, sah er seine Spiegelung im Wasserhahn. Ein tiefer, neuer Blick. Langsam stand er auf. Ruhig und klar. Er drehte das Wasser ab, nahm ein Handtuch und wusch sein altes Leben ab. Die feuchte Luft fühlte sich frisch und lebendig an. Das erste Mal in seinem Leben.

Er zog sein elegantestes Hemd und seinen teuersten schwarzen Anzug an. Seine Haare frisierte er glatt nach hinten. Tür auf ins neue Leben. Tür zu vom alten Leben. Ohne nachzudenken betrat er seine Firma. Mitten hinein in das Büro seines Chefs. „Friedrich, haben wir heute einen Termin?” Er ging zu ihm und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Sein Chef schrie auf und hielt sich die blutige Nase. „Bist du vollkommen verrückt geworden?”, schrie dieser ihn an. „Das ist dafür, dass du meine Frau geschwängert hast“, flüsterte er eiskalt. Angsterfüllt sah ihn sein Chef an, bevor er einen Tritt zwischen die Beine erhielt. Sein Körper wurde nach hinten geworfen. Er schrie schmerzerfüllt auf. „Und das ist dafür, dass du mich ständig abgewertet hast.“ Er ließ ihn gekrümmt vor Schmerzen am Boden liegen, drehte sich um und verließ die Firma.

Er klingelte an dem Haus seiner Eltern. Sein Vater sperrte die Türe auf, er war schon lange Pensionist. „Friedrich?“, fragte er ihn. Er ging hinein. „Papa, du bist ein Säufer.“ Sein Vater sah ihn wütend an. „Wie kannst du es wagen, so mit mir ...“ Aber sein Sohn drückte ihn kraftvoll zurück auf das Sofa, auf dem er sich ständig versteckte. Die vier leeren Flaschen auf dem Tisch wackelten und fielen dann eine nach der anderen zu Boden. „Du hast dein Leben weggeworfen. Durch dein ständiges Saufen. Und damit hast du auch mein Leben weggeworfen. Du warst nie für mich da. Und jetzt ist es zu spät.“ Wollte sein Vater weinen? Nein, er hielt sich zurück. Er wollte sich nicht einmal in dieser Situation der unerträglichen Wahrheit stellen. Er blickte ihn nur starr an. Seine Mutter kam langsam in ihrem Bademantel ins Zimmer. Zersauste Haare, müde, depressiv. „Friedrich?“, fragte sie schwächlich. Er ging zu ihr und sah ihr in die Augen. „Du hast dich aufgegeben. Du hast mich aufgegeben. Und jetzt ist es zu spät.“ Erschrocken nahm die Mutter ihre Hände vor das Gesicht, als ob sie das Offensichtliche verstecken könnte. Er ging zur Tür. „Ich wollte mich eigentlich bei euch verabschieden. Aber ich habe mich schon als Kind von euch verabschiedet.“ Er öffnete die Tür und verließ seine Familie endgültig. Er schloss die Tür. Abschluss. Er spürte keine Traurigkeit. Er hatte sie schon lange hinter sich gelassen. Es war nur noch der Punkt eines Satzes, der schon längst geschrieben war.

Er ging hinauf. Die Bergstraße entlang. Zu dem Aussichtspunkt, an dem er seine Freundin zum ersten Mal geküsst hatte. Er stellte sich auf die kleine Mauer. Wie tief es hinunterging. Von hier sah er alles. Alle seine Illusionen. Alle seine Wünsche. Den Wunsch des Jungen, eine Familie zu haben. Der Wunsch nach Nähe und Geborgenheit. Nach Unterstützung und Orientierung. Nichts davon hatte er je erfahren dürfen. Eine Mutter, die ihm die Lebensenergie raubte. Ein Vater, der sich selbst aus dem Leben katapultierte. Zwei entseelte Zombies als Vorbilder. Und er wollte anders sein. Ganz anders. Richtig leben. Doch er bemerkte nicht, wie er selbst zum Zombie wurde. Das Gleiche in Grün. Ein Zombie, der sich seine eigene Welt erschuf. Anstatt sich in Depressionen und Drogen zu verlieren, erschuf er sich eine heile Welt. Mit klaren Regeln und ethischen Vorgaben. Statt zu leben, folgte er seinen eigenen maßgeschneiderten Gesetzen. Er gestaltete sein Leben nach seinen Vorstellungen und verdrängte alles, was nicht dazu passte. So wurde sein Leben zum perfekten Roman. Genau so, wie es sein sollte. Der resiliente Junge aus schwierigen Verhältnissen, der sein Schicksal überwand. Er bemerkte jedoch nicht, dass er dadurch selbst zum seelenlosen Zombie wurde. Gutaussehend, intelligent, sozial ... , aber ein Zombie.

Während seine Eltern fernsahen, inszenierte er seinen eigenen Film. Den perfekten Film, der genau so gespielt werden musste. Mit einer steilen Karriere und einer schönen Frau. Er wusste, dass sein Beruf ihn nicht erfüllte. Aber er passte in seinen Lebensfilm. Er wusste, dass seine Freundin ihn betrog und dass das Kind nicht von ihm war. Aber von außen passte eine Familie in seinen Lebensfilm. Und dieser durfte nicht vom Schatten gestört werden. Wie lange wusste er eigentlich schon, dass er Krebs hatte? Die anonymen Bluttests. Die Hinweise der Ärzte im Ausland. Doch das passte nicht in seinen Lebensfilm. Er hatte es einfach verdrängt. Bis zum Ende. Bis zum bitteren Ende des Films.

Er atmete tief ein und aus. Er war zu seinem eigenen Schatten geworden. Und dieser musste niemandem mehr gefallen. Er hatte keine Rolle in dem Film. Der Schatten erscheint, wenn der Film vorbei ist. Im Endstadium. Im Epilog. Wenn sich der Schauspieler noch ein letztes Mal verbeugt und plötzlich nicht mehr die Rolle, sondern der Mensch ist. Der Mensch hinter der Rolle. Der Mensch, den man nicht sehen sollte. Erst mit dem letzten Satz, nach dem Punkt, wird wieder der Mensch gesehen. Jetzt erst erkennt man die ganze Schminke auf seinem Gesicht. Jetzt erst wird einem das Kostüm bewusst, das er die ganze Zeit trug. Jetzt wird das Saallicht angeschaltet und man erkennt das Spiel vor dem Publikum. Die Show. Die Inszenierung. Die Requisite, die nie lebendig war. Hier steht er nun. Das Ende ist wie der Beginn.

Er nahm sich selbst behutsam in den Arm und streichelte sich. Vielleicht bemerkte er dabei zum ersten Mal, dass er sich selbst vergaß. Er hätte sich selbst Nähe und Geborgenheit schenken können. Er hätte für sich selbst da sein können. Und da merkte er es. Es ist noch nicht zu spät. Es ist noch nicht zu spät, für sich selbst da zu sein. Seine ganze Last, sein Spiel, seine Masken fielen ab, schmolzen in der Abendsonne und zum ersten Mal begann er, zärtlich zu weinen. Nicht aus Angst, sondern aus Zuneigung zu sich selbst. Der Schauspieler, der sich selbst erkennt und liebevoll in die Arme nimmt. Er hat sein Leben immer als Komödie gesehen, so leicht und schön, wie es war. Erst jetzt sah er seine eigene Tragödie. Wie sehr er sein Leben richtig leben wollte. Wie absurd dieser Wunsch gewesen war. Das verstand er plötzlich. Er akzeptierte es und nickte sich mitfühlend zu. Er stand knapp vor dem Abgrund und blickte in die Tiefe. „Du hast dich wirklich redlich bemüht“, flüsterte er sich selbst leise zu.

Er stieg auf die Brüstung und blickte in die Abendsonne. Unter sich sah er das Publikum. Es klatschte ihm Beifall. „Bravo! Bravo!“, hörte er sie rufen. Er hatte ein perfektes Stück gespielt. Er verbeugte sich tief. Endlich ohne Maske. Endlich außerhalb seiner Rolle. Er sah sich zum ersten Mal selbst. Unter ihm sah er seine Eltern. Sie klatschten ihm stolz zu. „Das ist mein Sohn“, hörte er seinen Vater einem Nachbarn sagen. „Mein Sohn“, hörte er auch seine Mutter sagen, die ihn freudestrahlend anblickte. „Mein geliebter Mann“, las er von den Lippen seiner wunderschönen, schwangeren Frau in der ersten Reihe. Er hörte die begeisterten Pfiffe seiner Freunde, die ihm zujubelten. Sein Chef verbeugte sich respektvoll vor ihm. „Chapeau“, hörte er ihn mit tiefer Stimme rufen.

Sie alle waren noch in ihren Rollen, ohne es zu wissen. Er genoss diesen letzten Moment, zog sich aber bereits seine Perücke und Maske aus. Er zog sich aus. Sein schönstes Gewand legte er behutsam neben sich. Das Stück ist zu Ende. Jetzt hätte er springen können. Doch dann besann er sich. Er wollte kein dramatisches Ende inszenieren. Er wollte ein authentisches Ende leben. Mit all dem innewohnenden Schmerz und der beseelten Freude des Lebens. Eine leise Träne rann ihm über das Gesicht. Nackt, unperfekt und undramatisch verließ er die Bühne und stieg von der Brüstung hinunter. Was würde ihn erwarten? Eine Frau, von der er sich trennen würde. Eine Firma, die ihm wahrscheinlich bereits gekündigt hatte. Eltern, die ihn vielleicht nicht mehr sehen wollten. Und der Krebs, der ihn langsam in den Tod führen würde. All das akzeptierte er. Er akzeptierte sein Leben. Sein Schicksal. Seine Verantwortung. Sein Versuch, aus seinem Leben auszubrechen. „Es wird nicht das richtige Leben sein“, sagte er zu sich selbst. „Aber es wird mein Leben sein.“ Und so ging er wieder den Berg hinab. Nackt. In der Abendsonne. Mit seinem Schatten, der ihn begleitete. Hinein in sein eigenes Leben. Das Theaterstück war vorbei. Das echte Leben begann.

 

Perspektive

Der Protagonist wächst zwischen einem alkoholkranken Vater und einer depressiven Mutter auf. Er lernt früh, dass Überleben bedeutet, das Gegenteil seiner Eltern zu werden. Doch auch diese Reaktion ist eine Form der Unfreiheit. Er definiert sich durch Abgrenzung, nicht durch authentische Selbstfindung. Seine ethische Abhandlung über das richtige Leben ist daher kein Ausdruck innerer Weisheit, sondern ein verzweifelter Versuch, Struktur in seine innere Haltlosigkeit zu bringen. Während sich seine Eltern in Substanzen und Depressionen verloren, verlor er sich in Selbstoptimierung und moralischer Perfektion. Beides sind Fluchtbewegungen vor dem rohen, unberechenbaren und schmerzhaften Leben selbst.

Die Krebsdiagnose zwingt ihn zur Begegnung mit seinem Schatten. Bei dem katastrophalen Zusammenbruch in der Dusche gibt sein Körper preis, was der Geist so lange unterdrückt hat. Seine Gewaltakte und verbalen Konfrontationen sind der Ausdruck eines Menschen, der zum ersten Mal seine eigene Wahrheit ausspricht. Er durchbricht die Höflichkeit, die ihn stumm gemacht hat. Auf dem Berg erkennt er, dass er selbst zum Zombie geworden ist, wenn auch mit anderen Mitteln als seine Eltern. Das Leben als perfekte Inszenierung, in der alle applaudieren, aber niemand den Menschen dahinter kennt.Seine Entscheidung, von der Brüstung zu steigen statt zu springen, ist der Moment echter Freiheit. Er gibt die zwanghafte Suche nach Richtigkeit auf und akzeptiert sein Leben mit all seiner Unvollkommenheit, seinem Schmerz und seinem Scheitern. Nicht mehr im Widerstand gegen seine Eltern, nicht mehr in der Performance für andere, sondern in radikaler Selbstbegegnung geht er den Berg hinab. Der Schatten ist nicht mehr sein Feind, sondern Teil seiner Ganzheit. Das echte Leben beginnt nicht, wenn alles perfekt ist, sondern wenn wir aufhören, so zu tun, als könnte es das jemals sein. Im Angesicht des Todes findet er zum authentischen Lebendigsein.

 
 
 

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