Abschied
- Lukas Zenk
- 9. Dez.
- 4 Min. Lesezeit
(Musik: My Immortal, Nazareno Aversa)
In seiner Hand befindet sich die Asche von ihr. Er steht direkt vor ihrem Grab. Er müsste seine Hand nur noch öffnen. Eine letzte Verabschiedung. So gut hat er sich darauf vorbereitet. Durchgedacht, vorgestellt und emotional abgeschlossen. Dacht er zumindest in seiner Vorstellung. Und jetzt steht er da. Eingefroren, bewegungsunfähig, mit trockenem Mund. Die Zeit aufhaltend, die er nicht vorbeigehen lassen will. Er spürt den leichten Wind, der durch seine Haare weht. Sanft möchte dieser ihm den Weg weisen, den er nicht gehen will. „Einfach loslassen", hört er einen seiner Gedanken. „Einfach die Hand öffnen und sich verabschieden". Er wollte sie nicht in einer Urne belassen. Er wollte in der Zukunft nicht vorbeikommen und eine Urne ansehen. Das hätte sie auch nicht gewollt. Sie wollte immer frei sein. In der Natur. Sie befindet sich in seinen Händen, schmiegt sich als Kohlenstoff an ihn. Er spürt ihre Liebe in seiner Hand. Die letzte Nähe zwischen den stofflichen Elementen, den Hüllen der Seelen.
Eine Träne fließt an seiner Wange hinunter. „Einfach loslassen”, schluchzt er leise in sich hinein. Ein tiefes, schwarzes Loch vor ihm. Es wartet, lädt ihn ein zur letzten Ruhe. Er fühlt den Drang einzuknicken, selbst mitzufallen. Sie nie loslassend würde er in die Erde hineinfallen. Unten am Rücken liegend, hinaufsehen in den Himmel, der blau leuchtet. Die Asche in seiner Hand belassend, auf seine Brust haltend. Langsam warten, bis Stück für Stück die Lebensenergie aus seinem Körper entweicht, die Seele langsam aus seinem Körper entweicht. Ein letzter Hauch, der seinen Körper loslässt. Zwei restliche stoffliche Körper, die sich endlich vereinen können. Beisammen, einschlafend, von der Erde aufgesogen werden. Gemeinsam im Dunklen, im Leeren, im Unendlichen.
Doch er steht immer noch vor dem Grab. Der Wind ist stärker geworden und flüstert ihm leise ins Ohr. Plötzlich hört er ihn. Ganz leise, wohlwollend. Seine Augen weiten sich. Er blickt auf seine Hand, die sich wie von selbst öffnet. Sie wird nicht in die Erde fallen. Sie wird frei sein. Die Asche beginnt, sich von seiner Hand loszulösen. Ein Aschestückchen nach dem anderen beginnt in die Luft zu schweben, im wilden Tanz mit dem Wind. Frei und unvernünftig. Er öffnet die Hände weiter und lässt sie gehen. „Wohooo!”, beginnt er plötzlich zu schreien. „Fliege, mein Schatz, fliege!” Die Tränen schießen ihm in die Augen. Seine Hände richten sich zum Himmel. Sie sieht nach unten und lächelt ihm zu, wie er unten auf der Erde einen wilden Tanz aufführt. „Ich liebe dich“, schickt sie ihm noch als Windhauch zurück. „So sehr". Dann beginnt sie, weiter in der Luft zu tanzen, während er, durchgeschüttelt von all den Gefühlen gleichzeitig jubelt, schreit, wehklagt. Der letzte Tag der Verabschiedung.
Er fällt auf die Knie, in seinen Händen die letzten Reste der Asche, die er in sein von Tränen durchnässtes Gesicht hält. Es beginnt zu regnen. Teile der Asche in der Luft vermengen sich mit dem Wasser, das auf die Erde fällt und wieder neues Leben entstehen lässt. Teile der Asche fliegen weiter. Teile der Asche bleiben noch ein wenig auf seinem Gesicht hängen. Teile, viele Teile, die wieder zu einem Ganzen werden. „Teile", geht durch seine Gedanken. „Teile sie mit der Natur". Und er beginnt, selbst aufzugehen. Zu zerfließen. Er verliert seine Form, beginnt vom Wind getragen zu werden. Vom Regen auf die Erde zu fallen. In die Erde zu sinken und zu neuem Leben zu werden. Er lässt sich selbst los und wird von allem gefunden. Überall, nirgendwo und gleichzeitig. Und ganz ruhig beginnt sich die Erde weiterzudrehen. In dem ewig ruhenden Universum, das sich immer bewegt.
Perspektive
Der Protagonist steht vor dem Grab mit der Asche in geschlossener Hand und erlebt den Zusammenbruch seiner Illusion von Kontrolle. Was er als vorbereiteten, emotional abgeschlossenen Akt gedacht hatte, entlarvt sich als intellektuelle Abwehr. Sein eingefrorener Körper spricht von Schockstarre, während die Asche mehr verkörpert als physische Substanz. Sie ist sakrales Relikt einer Beziehung und Symbol seines eigenen alten Selbst, das durch diese Liebe definiert war. Die Fantasie des Mithineinfallens ins Grab offenbart eine Sehnsucht nach symbiotischer Verschmelzung, die weniger vom Wunsch zu sterben spricht als von der Tiefe einer Bindung, die die eigene Existenz ohne die andere sinnlos erscheinen lässt.
Der Wind wird zum archetypischen Botschafter des Übergangs, zur Stimme dessen, was größer ist als individuelles Leid. Die Hand öffnet sich wie von selbst, eine Geste des tieferen Wissens, somatische Entspannung vor geistiger Erkenntnis. Was folgt ist emotionale, körperlich-geistige Entladung. Weinen, Schreien, Tanzen, Jubeln brechen gleichzeitig durch. Das lineare Ich kollabiert, multidimensionales Erleben durchbricht die Verkrampfung. Die Asche, die nicht ins Grab fällt sondern aufsteigt, folgt nicht der Schwerkraft der Trauer, sondern der Leichtigkeit des Geistes.
Dann geschieht die entscheidende Metamorphose. Er selbst beginnt aufzugehen, zu zerfließen, Form zu verlieren in der unmittelbaren Erfahrung von Einheitsbewusstsein. Der Regen vermischt die Asche mit dem Wasser, Leben und Tod nähren einander im ewigen Kreislauf. Indem er loslässt, befreit er nicht nur sie, sondern auch sich selbst. Transformation geschieht nicht trotz des Verlusts, sondern durch ihn hindurch. Er verliert sich selbst und wird von allem gefunden, überall und nirgendwo zugleich. Was als Abschied begann, endet als Heimkehr zu dem, was beide immer waren: ungetrennte Manifestationen des einen Lebens. Die Geschichte ist eine Hymne an die Vergänglichkeit, Schmerz nicht als Feind anzusehen, sondern als Tor zur kosmischen Ganzheit. Wahre Einheit liegt nicht im Festhalten, sondern im Fließen.

Kommentare